21 November 2021

Charles de Coster: Ulenspiegel Kap. 5 ff.

 

V

Tags zuvor war auf den Wehren des Stadthauses ausgerufen worden, daß die Kaiserin, die Gemahlin Kaiser Karls, schwanger sei und daß man Gebete sprechen solle für ihre nahe Entbindung.

Katelijne trat bei Klaas ein, am ganzen Körper zitternd. »Was hast du, Gevatterin?« fragte der Biedermann.

»Ach,« antwortete sie und sprach weiter nur abgerissene Worte: »Diese Nacht, Gespenster, die Männer niedermähend wie die Schnitter das Gras. – Mädchen, lebendig begraben! und auf ihren Leichnamen tanzte der Henker. – Ein Stein, Blut schwitzend seit neun Monaten, heute nacht geborsten.«

»Hab Mitleid mit uns,« wimmerte Soetkin, »hab Mitleid, Herrgott; das sind schlimme Vorzeichen für Flandern.«

Klaas fragte: »Hast du das mit deinen Augen gesehn oder im Traume?« »Mit meinen Augen,« sagte Katelijne.

Und totenblaß und unter Tränen sprach Katelijne weiter: »Zwei Kindlein sind geboren, das eine in Spanien, das ist das Kind Philipp, das andere in Flandern, das ist der Sohn Klaasens, der späterhin Uilenspiegel zubenannt werden wird. Philipp, gezeugt von Karl dem Fünften, wird zum Henker werden, zum Mörder unsers Landes. Uilenspiegel, wird ein großer Meister sein in fröhlicher Rede und Jugendtollheit, aber sein Herz wird gut sein, da er Klaas zum Vater hat, den wackern Werkmann, der es versteht, in aller Rechtschaffenheit, Ehrlichkeit und Schlichtheit sein Brot zu verdienen. Kaiser Karl und König Philipp werden durch das Leben sprengen, als Missetäter durch Schlachten, Bedrückungen und andern Frevel. Klaas, arbeitend die ganze Woche, lebend nach Recht und Gesetz und bei seiner harten Plage, anstatt zu weinen, lachend, wird das Sinnbild der tüchtigen Arbeiter Flanderns sein. Uilenspiegel, der, immer jung, niemals sterben wird, wird durch die Welt eilen, ohne sich jemals an einem Orte sässig zu machen. Und er wird Bauer, Edelmann, Maler, Bildner sein, alles miteinander. Und so wird er durch die Welt wandern, preisend das Schöne und Gute, über die Dummheit spottend mit vollem Munde. Klaas ist dein Mut, du edels Volk von Flandern, Soetkin ist deine tüchtige Mutter, Uilenspiegel ist dein Geist; ein liebes und schmuckes Mädchen, die Gefährtin Uilenspiegels und unsterblich so wie er, wird dein Herz sein, und ein Dickwanst, Lamme Goedzak, wird dein Magen sein. Hoch oben werden die Schinder des Volkes stehn, unten die Opfer, oben die diebischen Drohnen, unten die arbeitsamen Bienen, und im Himmel werden die Wunden Christi bluten.«

Nach diesen Worten entschlief Katelijne, die gute Hexe.


VI

Man trug Uilenspiegel zur Taufe; plötzlich ging ein Regenguß nieder, der ihn ordentlich durchnäßte. So wurde er zum ersten Male getauft.

Als sie mit ihm die Kirche betraten, sagte der Küster, der Schoolmeester, dem Paten und der Patin, dem Vater und der Mutter, sie müßten sich rings um das Taufbecken aufstellen; und das taten sie. An der Deckenwölbung, gerade über dem Becken, war von einem Maurer ein Loch gemacht, wo an einem Sterne aus vergoldetem Holze eine Lampe aufgehängt werden sollte. Der Maurer, der von oben den Paten und die Patin stocksteif um das Becken, das zugedeckt war, stehn sah, goß nun tückisch durch das Loch in der Wölbung einen Eimer Wasser aus, und das gab auf dem Deckel des Beckens ein großes Spritzen. Aber Uilenspiegel bekam das meiste. Und so wurde er zum zweiten Male getauft.

Der Dechant kam. Sie beklagten sich bei ihm, aber er sagte ihnen, sie möchten sich beeilen, und das sei ein Zufall gewesen. Uilenspiegel zappelte heftig wegen des Wassers, das ihn getroffen hatte. Der Dechant gab ihm Salz und Wasser und nannte ihn Thijlbert, was besagen will »Voller Unruh«. So wurde er zum dritten Male getauft.

Aus der Frauenkirche gingen sie gegenüber in der Langestraat in den »Rosenkranz der Flaschen«, wo das Credo von einem Kruge gebildet wurde. Dort tranken sie siebzehn Kannen Doppelbier und noch mehr. Denn um durchnäßte Leute trocken zu machen, ist es die richtige Art in Flandern, im Wanst ein Feuer mit Bier zu entzünden. So wurde Uilenspiegel zum vierten Male getauft.

Als sie bei der Heimkehr den Weg im Zickzack gingen, den Kopf schwerer als den Körper, kamen sie zu einem Stege, der über eine kleine Pfütze gelegt war; Katelijne, die als Patin das Kind trug, tat einen Fehltritt und fiel in den Schlamm samt Uilenspiegel, der also das fünfte Mal getauft wurde.

Man zog ihn aus der Pfütze und wusch ihn in Klaasens Hause mit lauem Wasser, und das war seine sechste Taufe.

Charles de Coster: Ulenspiegel

 

I

"Zu Damme in Flandern, als der Mai die Blüten des Hagedorns entfaltete, wurde Ulenspiegel, der Sohn des Claes, geboren. Die Gevatterin, eine weise Frau namens Katheline, hüllte ihn in warme Windeln, besah seinen Kopf und zeigte auf ein Haarbüschel. »Behaart! Er ist unter einem guten Stern geboren!« rief sie freudig aus. Aber gleich darauf klagte sie und wies auf einen kleinen schwarzen Punkt auf der Schulter des Kindes: »Ach«, heulte sie, »das ist das schwarze Stigma der Klaue des Teufels!« Da antwortete Claes: »Sollte der Herr Satan schon so früh aufgestanden sein, daß er Zeit hatte, meinen Sohn zu zeichnen?« »Er hat sich gar nicht niedergelegt«, sagte Katheline, »denn Chanteclair weckt eben die Hennen.« Und sie ging hinaus, nachdem sie das Kind in Claesens Arme gelegt hatte. Nun zerriß das Morgenrot die nächtlichen Wolken, die Schwalben schossen schreiend über die Felder dahin, und die Sonne zeigte ihr purpurn strahlendes Antlitz am Horizont. Claes öffnete das Fenster und sprach zu Ulenspiegel. »Haarichter Sohn«, sagte er, »dies ist die ehrwürdige Sonne, die kommt, das Land Flandern zu begrüßen. Sieh sie dir an, wenn du kannst, und solltest du einmal nicht aus und ein wissen und, von Zweifeln erfüllt, nicht erkennen, was du tun sollst, um gut zu tun, so bitte sie um Rat, sie ist klar und warm. Deine Aufrichtigkeit gleiche ihrer Klarheit und deine Güte ihrer Wärme.«

»Claes, mein Mann«, rief da Soetkin, »du predigst einem Tauben, komm trinken, mein Sohn!« Und die Mutter reichte dem Neugeborenen ihre schönen Flaschen der Natur.

II

Während Ulenspiegel da trank, erwachten alle Vögel im Land. Claes, der Reisigbündel machte, sah seinem Weib zu, wie es Ulenspiegel die Brust reichte. »Frau«, sagte er, »hast du dir von dieser guten Milch Vorrat angelegt?« »Die Krüge sind voll«, sagte sie, »aber das allein bereitet mir noch nicht Freude.« »Du sprichst von dieser großen Stunde sehr kläglich.« »Ich denke daran, daß in dem Ranzen, der dort an der Wand hängt, nicht ein lumpiger Patard zu finden ist.«

Claes nahm den Ranzen zur Hand, aber er hatte gut schütteln – er vernahm kein Morgenständchen klimpernder Münzen. Und er schämte sich. Da er aber seine Frau trösten wollte, sagte er: »Weshalb bist du besorgt? Haben wir nicht den Kuchen im Schrank, den Katheline uns gestern brachte? Sehe ich dort nicht ein großes Stück Rindfleisch, das dem Kind zumindest für drei Tage gute Milch verschaffen wird? Dieser Sack voll Bohnen, in jene Ecke geschmiegt, ist er ein Verkünder der Hungersnot? Ist es ein Phantom, dieses Fäßchen voll Butter? Sind sie Gespenster, diese Kompanien und Eskadronen von Äpfeln, die zu elfen in der Reihe so kriegerisch in der Vorratskammer stehen? Ist es nicht das Versprechen eines frischen Trunks, das die große, ehrwürdige Tonne Cuyte von Brügge in ihrem Bauch zu unserem Labsal birgt?« »Wir müssen«, sagte Soetkin, »wenn wir das Kind zur Taufe bringen, dem Priester zwei Patards geben und brauchen einen Gulden für den Festschmaus.«

In diesem Augenblick trat Katheline mit einem großen Blumenstrauß ein und sagte: »Ich bringe dem haarichten Kind Engelwurz, welche den Menschen vor Schlemmerei bewahrt, Fenchel, der den Satan verjagt . . .« »Hast du nicht das Kraut, das die Gulden herbeischafft?« fragte Claes. »Nein«, sagte sie. »So will ich denn nachsehen, ob es nicht im Kanal welches gibt.«

Er nahm Angelschnur und Netz zu sich und machte sich auf den Weg, sicher, dort bleiben zu können und niemand zu begegnen, denn es war erst eine Stunde vor der »oosterzon«, wie die Sonne in Flandern um sechs Uhr genannt wird. [...]

IV

Man nannte Ulenspiegels Vater in Damme Claes, den Kooldraeger oder Köhler. Claes hatte schwarze Haare, hellblinkende Augen, und seine Haut war von der Farbe seiner Handelsware, ausgenommen an Sonn- und Feiertagen, wenn in seiner Hütte Überfluß an Seife war. Er hatte eine kleine, eckige Figur, war aber stark und trug ein fröhliches Gesicht zur Schau.

Wenn der Tag zu Ende war und der Abend sich niedersenkte, ging er in irgendeine Kneipe, die auf dem Wege nach Brügge lag, um seine Gurgel, die von Kohle geschwärzt war, mit Cuyte zu spülen, und die freundlichen Frauen traten unter ihre Türen und riefen ihm lachend zu: »Guten Abend, Köhler, und klares Bier!« »Guten Abend und einen Gatten, der nicht schläfrig ist!« antwortete Claes.

Die Mädchen, die gruppenweise von den Feldern heimkamen, stellten sich so vor ihn hin, daß sie ihn am Weitergehen verhinderten, und sagten zu ihm: »Was zahlst du, wenn wir dich durchlassen? Ein scharlachrotes Band, einen goldenen Ring, ein paar Schühlein von Samt oder einen Gulden zum Taschengeld?« Claes aber nahm eine um die Mitte, ließ seinen Mund gerade dorthin treffen, wo ihm dies junge Fleisch am nächsten kam, und küßte ihr die Wangen oder den Hals, dann sagte er: »Das übrige, meine Schätzchen, verlangt von eurem Liebsten.« Dann gingen sie hell auflachend ihres Weges.

Die Kinder erkannten Claes an seiner mächtigen Stimme und an dem Dröhnen seiner Stiefel schon von weitem, liefen ihm entgegen und sagten: »Guten Abend, Kohlenträger!« »Gott gebe auch euch einen guten Abend, meine Engelchen«, sagte dann Claes, »kommt mir aber nicht zu nahe, sonst mache ich Negerlein aus euch.« Die Kleinsten waren kühn und näherten sich dennoch, da faßte er eines bei seinem Wämslein und fuhr ihm mit seinen schwarzen Händen über das frische Mündchen, dann schickte er es, selbst lachend, wieder weg, zur großen Freude aller andern.

Soetkin, Claesens Frau, war ein gutes Eheweib, sie stand mit dem Morgenrot auf und war fleißig wie eine Ameise. Sie und Claes bearbeiteten zu zweit das Feld, das ihnen gehörte, und spannten sich wie Rinder vor den Pflug. Das war ein schweres Ziehen, aber noch weit schwerer war's, die Egge fortzubringen, jenes Ackergerät, dessen hölzerne Zähne die harte Erde aufreißen sollen. Trotzdem blieben ihre Herzen froh, und sie sangen sich ein Lied zur Arbeit, mochte da die Erde auch noch so hart sein. Vergeblich sandte die Sonne ihre heißesten Strahlen herab, vergeblich auch zog die Egge, beugte ihnen die Knie und bereitete ihren Schultern die heftigsten Anstrengungen, wenn sie anhielten und Soetkin wandte Claes ihr süßes Gesicht zu, das er, diesen Spiegel ihrer zärtlichen Seele, küßte, dann vergaßen sie aller großen Mühseligkeiten. [...]"





1909 schrieb Stefan Zweig über dies Werk:

Eulenspiegel Redivivus

Charles De Coster: Die Mär von Ulenspiegel und Lamme Goedzak

Endlich ist »Die belgische Bibel«, das dichterische Evangelium des flandrischen Volkes, ins Deutsche übersetzt worden. Man mag denken über Übertragungen wie man will, man mag mit Recht erbittert sein, wie sehr unsere Literatur mit gleichgültigen, langweiligen, unbedeutsamen Erzeugnissen aus Frankreich überschwemmt wird, mag gehässig geworden sein, hat man anderseits gesehen, wie ablehnend, wie feindlich und verächtlich sich die Franzosen allen deutschen Kunstwerken verschließen: hier wird man dennoch aufrichtig jubelnd ein Werk begrüßen. Denn die Übersetzung des Charles de Coster ist Gewinst für unser deutsches künstlerisches Empfinden, Abzahlung einer ungetilgten Schuld und vor allem, es ist eine Aufgabe, eine Verpflichtung für das deutsche Publikum. Hier ist nicht ein gerechter oder ungerechter Weltruhm zu bestätigen, einer Weltbewunderung noch ein Quentchen Begeisterung beizutun, sondern hier haben die Deutschen Gelegenheit, einem fast Namenlosen den Ruhm zu schenken. So wie einst Gobineau in Frankreich unbekannt blieb und erst durch die stürmische Liebe der Deutschen in Frankreich allmählich bemerkt wurde, so wie Maeterlinck und Verhaeren in Deutschland heute noch immer tiefer und voller verstanden werden als im vergeßlichen und leichtfertigen Paris, so glaube ich, wird es auch diesmal Deutschland sein, das den Ruhm des stammverwandten de Coster erst begründen wird. Unstern hat über sein Schicksal in Frankreich immer gewaltet. Schon zu seinen Lebzeiten hat man diesen tapferen und gewaltigen Dichter mißachtet, und noch heute ist sein Name Schall und Rauch. Ich erinnere mich, wie ich vor Jahren einmal in Paris einem französischen Dichter mit so stürmischer Begeisterung von diesem unvergänglichen Werke erzählte, daß er sich sofort zum Ankauf entschloß. Wir wanderten von Buchhandlung zu Buchhandlung, in keiner war das Werk vorrätig, in den allerwenigsten kannte man es auch nur dem Namen nach. Es blieb nichts übrig, als es von dem kleinen versteckten Verleger in Brüssel zu bestellen. Den Deutschen wird es leichter gemacht. Eugen Diederichs hat es in seinen Verlag übernommen, Friederich v. Oppeln-Bronikowski so meisterhaft übersetzt, daß es wie ein Original wirkt. Und es ist nun an Deutschland, diesem großen verkannten Künstler Rechtfertigung zu gewähren dafür, daß es dreißig Jahre nichts von ihm und seinem Werke wußte.

Dreifach ist sie berechtigt, die Rechtfertigung in Deutschland. Denn vor allem: de Coster ist in Deutschland geboren, in München 1827. Ich glaube nicht, daß man bisher in der Isarstadt stolz gewesen ist auf diesen Künstler (dessen Namen das Konversationslexikon bisher noch als überflüssig erachtet hat), aber ich bin sicher, kein Größerer ward dort in diesem Jahrhundert geboren. Zum zweiten ist Deutschland de Coster Dank schuldig, weil er es liebte. Aus deutschen Volksquellen trinkt seine Kunst ihre tiefste Kraft. Schillers Don Carlos und Goethes Reineke Fuchs standen dem Ulenspiegel – wie jüngst eine vortreffliche Untersuchung nachwies – als Paten zur Seite. Und zum dritten muß es geliebt werden aus dem rein menschlichen Gefühl, daß hier ein ungeheures Unrecht gut zu machen ist, das Gleichgültigkeit und Uninteresse an einem Lebenden und noch an dem Toten begangen hat.

Denn ein Märtyrer ist Charles de Coster gewesen. Er hat zu einer Zeit begonnen, wo in Belgien keine Literatur war, wo sich Zeitungen und Verleger für heimische Kunst nicht interessierten, wo Paris der Leitstern allen guten Geschmackes war. Er aber kehrte sich nicht an Geschmack und Neigung, sondern schrieb fünfzehn Jahre lang ohne Aussicht auf einen materiellen oder künstlerischen Erfolg unbeugsam den Hymnus an sein heimisches Volk, das ihn verhungern ließ und mißachtete. Es hat sich nicht konstatieren lassen, wie viel ihm der Verleger für dieses Lebenswerk zahlte, der gleiche Verleger, der im gleichen Jahre 300 000 Francs an Victor Hugo für einen Roman bar auszahlte, aber es muß wenig gewesen sein. Denn er schleppte sich mühsam auf kleinen Berufen durchs Leben, endete schließlich als Literaturlehrer in der Kriegsschule, wo ihn die jungen Burschen – nicht um seines Werkes willen! sondern für seine herzliche Art, seine kavaliermäßige Erscheinung und seinen unbeugsamen Humor – innig liebten. Niemand kannte ihn. Zwei alte Jungfrauen, eine Krämerin und eine Verkäuferin waren die einzigen, denen er seine großen Hoffnungen erzählen konnte, ohne verlacht zu werden. Zu früh gekommen, starb er auch zu früh, im Jahre 1879. Starb wie Johannes, ohne den Heiland gesehen zu haben, starb knapp vor den Jahren, wo sich die Erfüllung seiner patriotischen Träume so wunderbar verwirklichte. Von der künstlerischen Generation, die Belgien die Achtung der Welt eroberte, von den Constantin Meunier, Maeterlinck, Verhaeren, hat er nur den einen gekannt, Camille Lemonier, der ihm die Grabrede sprach. Er war der einzige von der literarischen Jugend, der am Sarge stand – die Priester hatten den Beistand verweigert, weil er in seinem Werke den Gedanken der Freiheit als höchsten Besitz und höchstes Ziel Belgiens gepriesen hatte –, er und dann noch die Kadetten in ihren schmucken Uniformen, die den freundlichen Lehrer beweinten. Aber keiner von ihnen wußte, einen wie großen Künstler man in das arme Grab von Jxelles hinabsenkte.

Denn Charles de Coster hat den Roman des Tyll Ulenspiegel geschrieben, ein unvergeßliches und unvergängliches Werk. Wie die Ilias urweltlich, kraftvoll und unvergleichlich am Anfange der griechischen Literatur, so steht es einsam und überragend in seiner Zeit. Ein solches Werk kann nur ein ganz Verkannter, ein ganz Einsamer schreiben. Einsamkeit zerbricht den Künstler oder sie erhebt ihn unendlich. Hätte er auf nur irgendeinen materiellen Erfolg rechnen können, er hätte sein Werk vielleicht beschleunigt, vielleicht gekürzt, vielleicht in kleineren Proportionen begonnen. Aber er wußte, daß er von dieser Generation nichts hoffen konnte, so schuf er für die nächste. Fünfzehn Jahre hat er an dieses Werk gewandt. Er hat Reisen gemacht, um alle Orte und ihr Kolorit zu studieren, er hat die deutschen, die holländischen, die flämischen, die französischen Dokumente, alle Archive durchstöbert, er hat nicht geeilt, nicht gehastet, er hat gehungert und gedarbt, nur um aus seinem Lebenswerk ein Werk zu schaffen. Und es ist ein Buch geworden, ein Volksbuch ohnegleichen. Wenn es noch nicht so populär in Belgien ist wie es sein sollte, so liegt dies an äußeren Umständen, an der Kostspieligkeit der Ausgabe, an der inneren Schwere und Trägheit der Rasse. Aber ein Volksbuch wird es werden, weil es aus Volksquellen genährt ist und weil es eine unsäglich stürmische begeisterte Liebe für Land und Menschen atmet. Es ist die Geschichte Till Eulenspiegels, des fröhlichen Narren. Aber seinen Possen und Narreteien gelten nur die ersten Kapitel des ersten Buches, dann taucht aus dem heiteren Maskenspiel plötzlich das ernste Antlitz des Schicksals. De Coster hat seinen Ulenspiegel in die große Epoche seines Vaterlandes gestellt, in den Aufstand der Niederlande gegen die Spanier. Die Inquisition lastet wie ein Alp auf dem freudigen Volke, in jeder Stadt, in jedem Dorfe flammen die Brandstöße mit den zuckenden Gestalten der Häretiker, »und der König erbt«, der finstere und grausame Philipp von Spanien, fern im Escorial, wo er die Tiere quält, die Menschen schaudern macht und Unheil sinnt gegen alle Lebensfreudigkeit. Das heitere Land wird bald zum Schrecken gezwungen. Und auch Till Eulenspiegel, der Schalksnarr verliert sein Lachen, wie er seinen Vater auf der Folter sieht und dann am Holzstoße. Aus der Asche des Vaters nimmt die Mutter eine Handvoll, schüttet sie in ein Seidentäschchen und hängt es Eulenspiegel um den Hals. Und nun schlägt bei jedem Schritte diese furchtbare Mahnung an sein Herz. Aus dem Landstörtzer wird ein Geuse, einer der Kämpfer gegen Spanien. Während er Possen treibt am Markte, hetzt er das Volk gegen Philipp auf, während er durch das Land arglos zu trollen scheint, bringt er Botschaften und geheime Sendungen an den Prinzen von Oranien und schließlich, wie der große Kampf entbrennt, ist aus dem Schalksnarren ein Soldat geworden, der nicht früher rastet, als bis die Freiheit Flanderns gewonnen ist.

Hinter diesem Kampfe aber ringen höhere Gewalten. So lebenswahr, so herzlich echt diese Figuren sind, sie bedeuten doch im Grunde Symbole eines Höheren. Der Kampf Flanderns und Spaniens ist der Kampf zwischen Lebensfreudigkeit und Askese, zwischen Pan und Christus. Ulenspiegel ist das Symbol der Seele Flanderns, ist die ewige Heiterkeit, der unbeugsame Wille zum Leben. Wie man ihn als einen Toten einscharrt am Ende des Buches, schüttelt er den Sand weg von sich und springt lebendig wieder auf. »Begräbt man Tyll Ulenspiegel, den Geist von Flandern? Er kann schlafen, aber sterben, nein.« Das Unsterbliche der Lebensfreude in seinem Volke wollte de Coster schildern, den urewigen Kampf von Freiheit gegen Unterdrückung, den Sieg des Lebens über seine Widersacher. Darum wird es auch nie aufhören, stark und lebendig zu wirken, Generationen, die ermatten, wieder aufzufrischen zu neuer Sehnsucht, es wird jung bleiben wie Eulenspiegel, der nicht alt werden kann, weil er in jeder Menschenseele neu aufblüht als die freudige Heiterkeit an allen irdischen Dingen.

Ich weiß nicht, wie oft und oft ich in diesem Werke schon gelesen habe, im französischen Original wie nunmehr in der Übertragung. Niemals bin ich müde geworden, denn es ist ein so ungeheurer Reichtum an Leben darin, eine so einzige Fülle von Episoden, eine geradezu simplizianische Abenteuerfülle. Jede Figur ist ein Kabinettstück, Lamme der Vielfraß, Ulenspiegels Sancho Pansa, Nele, das frische Mädchen, und dagegen die schwarze Silhouette Philipps und die verzerrten Masken der Verräter. Es ist so neu in seiner ganzen Diktion, ein Gemälde aber wie Mosaik, zerteilt in vielleicht 400 Aventuren, kleine Genrebilder, etwa im Sinne Gobineaus und von denen manches erinnert an die delikaten Bilder von Breughel oder Teniers, mancherlei an die Schwelgerei Rubens' oder das tragische Halbdunkel Rembrandts. Dokumente sind hier lebendig geworden, Kostüme um lebendige Menschen geschlungen, Historie zur Poesie gestaltet. Man fühlt, daß ein ganzes Leben und die ganze Mühe eines so einsamen Lebens hier versammelt ist und daß nicht die Kraft dieses Einzelnen nur darin wirkend ist, sondern die künstlerische Gewalt einer ganzen Rasse, die endlich ihren Dichter gefunden hat.

Nun ist es deutsch zu lesen, dieses herrliche Buch. Es hat nicht verloren durch die Übertragung, im Gegenteil, die niederdeutschen Ausdrücke, die aus dem Französischen wie Klippen aus einer schäumenden Flut herausragen, glätten sich hier in dem ein wenig altertümelnden Deutsch, das Oppeln-Bronikowski seiner Übertragung gegeben hat. Man muß ihm dankbar sein, daß er an ein so umfangreiches Werk – 600 Seiten stark ist dieser Roman – seine Mühe und künstlerische Kraft gewandt hat, dankbar auch Eugen Diederichs, der sich kühn an dieses Buch gewagt hat (das ich seit fünf Jahren, wie oft schon, deutschen Verlegern vergeblich empfohlen habe). Ich hoffe, man wird es lesen und lieben. Hier ist ein Kranz zu gewinnen für Deutschland: Wieder einmal zu zeigen, daß bei uns unbekümmert um die Gleichgültigkeit anderer Nationen ein gewaltiges Werk mit aller Liebe und Begeisterung gewürdigt werden kann und selbst den Heimatlosen eine neue Heimat geboten wird.


17 November 2021

Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft, 2005


"Imperien sind mehr als große Staaten; sie bewegen sich in einer ihnen eigenen Welt. Staaten sind in eine Ordnung eingebunden, die sie gemeinsam mit anderen Staaten geschaffen haben und über die sie daher nicht allein verfügen. Imperien dagegen verstehen sich als Schöpfer und Garanten einer Ordnung, die letztlich von ihnen abhängt und die sie gegen den Einbruch des Chaos verteidigen müssen. Der Blick in die Geschichte der Imperien zeigt, dass sprachliche Wendungen wie die von der 'Achse des Bösen' oder den 'Vorposten der Tyrannei' nichts Neues und Besonderes sind. - Während Staaten an den Grenzen anderer Staaten Halt machen und es ihnen selbst überlassen, ihre inneren Angelegenheiten zu regeln, mischen sich Imperien in die Verhältnisse anderer ein, um ihrer Mission gerecht zu werden. Deshalb können Imperien auch sehr viel stärker Veränderungsprozesse in Gang setzen, während die Ordnung der Staaten durch einen strukturellen Konservatismus geprägt ist." (S.8)

Imperium: eine Reichsidee oder imperiale Mission (8), fließende Grenzen, Satellitenstaaten (16, 18), im Unterschied zum Imperialismus keine Strategy der aus Dehnung, sondern Entstehung in Abwesenheit einer Absicht. Es gibt durchaus auch eine Initial zur Funktion der Peripherie bei der Entstehung von dem Pärchen (Seite 21 Münkler Imperien. Die Logik der Weltherrschaft 2005

Reiche sind räumlich und zeitlich beschränkter, Beispiel Habsburger Monarchie--

So hat sich der Weltherrschaftsanspruch der Imperien von der Antike bis heute immer stärker ausgeweitet, und infolgedessen ist inzwischen auf dem Globus tatsächlich nur noch Platz für ein einziges Imperium – gemäß dem Merkmal, wonach Imperien auf ihrer Einmaligkeit und Einzigartigkeit bestehen müssen.

Brit. Imp. u Russland, (24)

Hegemonie Reich. 

Art Seebund, athenische Thalassokratie(19)

Von der Antike bis in die Neuzeit hinein war Platz für mehrere Imperien, ohne dass dies deren Anspruch auf imperiale tät dementiert hätte. Das chinesische und das römische Reich bestanden über Jahrhunderte als parallel Imperien nebeneinander, ihre Legitimitätsansprüche wurden dadurch in keiner Weise eingeschränkt.“ (S.26)

Zwang Zur Intervention: Ein Imperium kann sich gegenüber mit den Mächten, die zu seinem Einflussbereich gehören, nicht neutral verhalten [...ein Staat kann das ... ] ein Imperium dagegen, das bei Konflikten innerhalb seiner Welt oder an deren Peripherie fortgesetzt neutral bleibt, verliert zwangsläufig seinen imperialen Status. (Seite 30)


Melierdialog Jeder Kompromiss (…) wäre auf einen Prestigeverlust hinausgelaufen (31)

Inkongruenz einer imperialen Handlungslogik mit den Erwartungen einer kleineren (…) Macht (31)

Moralische Glaubwürdigkeit etwa gehört zweifellos zu den Ressourcen imperialer Macht. In dieser Perspektive ist sie allerdings nicht der Maßstab der Politik – sie ist eines ihrer Mittel: die Logik des Imperiums weiß moralische Glaubwürdigkeit sehr wohl als Machtfaktor einzusetzen, aber sie würde sich nie selber an ihr messen lassen. Was die imperiale Logik ausmacht, was ihre Vorgaben sind und welche Möglichkeiten es gibt, sich ihr zu entziehen – all dieses soll nachfolgend an vergangenen im Ferien untersucht und zur Diskussion gestellt werden.(34)


Im Unterschied zu Staaten stehen Imperien unter dem informellen Zwang, in allen Bereichen, in denen Macht, Prestige und Leistung gemessen und verglichen werden können, die Spitzenposition einzunehmen. Dieser Zwang zum ersten Platz zeigt sich heute nicht nur bei den militärischen Fähigkeiten oder wirtschaftlichen Leistungen, sondern auch in der technologischen Entwicklung, im Bereich der Wissenschaftenzwischenraum gelegentliche Rückschläge in diesen Bereichen werden sofort als Indikatoren für einen beginnenden Niedergang des Imperiums gewertet und schlagen in jedem Fall als ein Prestigeverlust zu Buche, der bei nächster Gelegenheit Bett gemacht werden muss. (Seite 54)

Um die Bedeutung politischen Prestige Strebens beurteilen zu können, muss man einen Blick auf die Rahmenbedingungen das Wettstreits und Prestige Schwerfen, und dabei ist es wichtig, zwischen multipolaren und bipolaren Systemen der internationalen Politik zu unterscheiden. (Seite 55)

Insgesamt muss sie Hegemonialmacht nach dem Wegfall der strukturellen Zwänge der Bipolarität einen sehr viel stärkeren Erwachsenen Erwartungsdruck gegenüber ihren Bündnispartnern aufbauen. Mit Blick auf die jüngsten Verwerfungen in den transatlantischen Beziehungen hat eine Reihe von Beobachtern davon gesprochen, die USA hätten sich aus einem Zitat wohlwollenden Hegemony Zitat Ende in eine harte imperiale macht verwandelt und dies auf die Pläne und Vorgaben einiger neokonservative Regierungsmitglieder und Politikberater zurückgeführt. Womöglich handelte es sich da aber nur um eine Folge des Wegfalls bipolare Zwänge und die da als erwachsener verschärfte Konkurrenz um Prestige. (Seite 57)


Die meisten erfolgreichenImperiumssbildungen haben sich nicht im Zentrum, sondern am Rande weltpolitisch umkämpfter Räume vollzogen; das gilt für Großbritannien und Russland ebenso wie für die USA und Trump oder für Spanien und Portugal. Selbst das aus manische reich ist von der anatolischen Peripherie er aufgebaut worden und erst in der Phase der Expansion in sein späteres kleinen asiatisch – Süd Ost europäisches Zentrum vorgestoßen. Die einzigen nennenswerten Imperiums Bildungen, die aus einem weltpolitischen Zentrallager heraus unternommen und abgeschlossen worden, sind das antike Reich der persischen König und China.“(61)


Russland hat von den Vorteilen seiner Randlage niemals in gleicher Weise profitieren können wie Großbritannien oder die USA.

Dennoch waren die Russen gegenüber den Mittel – und West europäischen Mächten im Vorteil, weil sie nur in Ausnahmefällen mit einer Koalition der großen Mächte konfrontiert waren. So konnten sie ihre Kontrahenten der Reihe nach angreifen und einzeln besiegen. Insofern haben auch die Russen die Ausgangslage Erwachsene Zeit zu fahren die tät nutzen können. (Seite 63)


Sogwirkung der Peripherie

Beispiele: der Ferne Westen bei den USA und Sibirien bei Russland

"Selbstverständlich ist die Dynamik des Zentrums eine unverzichtbare Voraussetzung imperiale Expansion, da die machtpolitischen Vakuolen der jeweiligen Peripherie sonst gar nicht als solche wahrgenommen wirken. Der Begriff der imperialen Zeit Souveränität schließt freilich auch ein, dass diese Dynamik keinen unkontrollierbaren Zwang zur Expansion erfuhr bringt. Das wären dann innere Faktoren, die der imperialen Zeit Souveränität entgegenwirken. Einen derartigen Expansionszwang Stellen die Imperialismustheorien, und zwar die ökonomischen ebenso wie die politischen, in den Mittelpunkt. Das stärkste Argument für den bevorstehenden Zusammenbruch des Imperialismus bei Ihnen zufolge neben dem drohenden Krieg der großen Mächte die erodieren der Zeitsouveränität der Imperien aufgrund anderer Umstände. (Seite 65)

67-77 Fliessend

Imperium liegt vor, wenn „Gleichheitsfiktion“ nicht mehr möglich 

Der Hegemon bietet Sicherheit an, steht aber in Konkurrenz mit potenziell Gleichberechtigten (s.69)

Gegen das Modell von Aufstieg, Scheitelpunkt und Niedergang sollte hier auf das Zyklen Modell der politischen Geschichte zurückgegriffen werden, dass in der antike von dem griechisch – römischen Historiker Polypjos entwickelt und am Beginn der Neuzeit von dem italienischen Politik Theoretiker Nicolo Machiavelli erneuert worden ist. Danach durchlaufen politische Gemeinschaften in ihrer Geschichte mehrere Zyklen, in denen sie auf – und absteigen, und sowohl die Anzahl der Zyklen als auch die Verweildauer im oberen Zyklen Segment hängt wesentlich vom Geschick und von der Weitsicht ihrer führenden Politiker ab.

Das Zyklenmodell hat für die Rekonstruktion der Imperiengeschichte mehrere Vorzüge. Erstens vermag es das Auf und Ab der Imperien sehr viel genauer darzustellen [...] zweitens widmet es sein Hauptaugenmerk der Bewältigung von Krisen, also dem Durchschreiten des Tiefpunkts und der Verstetigung des Aufenthalts im oberen Zyklenbereich, (S.110-111)

Imperien stabilisieren sich, wen sie die Augusteische Schwelle (Michael W. Doyleüberschreiten. "Die augusteische Schwelle bezeichnet also ein Ensemble einschneidender Reformen, durch die ein Imperium seine Expansionsphase beendet und in die Phase der geordneten Dauer, des lange währenden Bestandes überführt wird." (S.115)

Kleinräumige Ordnungen profitieren von der Annahme, sie seien das natürliche und darum selbstverständlicher; für großräumige Ordnungen gilt das nicht. Das dürfte im wesentlichen damit zu tun haben, dass in ihnen ein Machtgefälle zwischen Zentrum und Peripherie zu Tage tritt, dass umso eklatanter ist, je größer die Räume sind (Seite 127)

"Wenn es Imperien gelingt, das Prosperitätsversprechen einzulösen, durch den Barbarendiskurs eine imaginäre Grenze zu errichten, die Überzeugungskraft der imperialen Mission aufrecht zu erhalten und schließlich den Frieden in dem von Ihnen beherrschen Raum zu sichern, dann verschafft Ihnen das Stabilität und Dauer. Dieses zusammenwirken garantiert den Fortbestand des Imperiums, und umgekehrt beginnt dessen Zerfall, wenn einzelne Bestandteile versagen. Hier setzen zugleich die Feinde des Imperiums den Hebel an. (Seite 166)


Konkurrenz von lmperien: Vietnam u Afghanistan (169)

Antiimperialistische Akteure versuchen ihren Kampf gegen das Imperium zum Teil eines Hemonialkriegs zu machen.(170)


Imperialkriege in Europa immer in Gefahr in großen Hegemonialkrieg umzuschlagen (171


Partisanen gewinnen, wenn sie nicht verlieren; Imperien verlieren, wenn sie nicht gewinnen (Kissinger)(177)


Fundamentalismus ist Widerstand gegen die weiche Macht des Imperiums

zB Makkabäer, dort freilich auch innerjüdischer Konflikt.(S.205 )


Heute Terrorismus.


224ff

Bosnien Kosovo Afghanistan 

UNO kann es nicht leisten, daher Imperium USA an die Stelle getreten

US-Empire Absicherung des Weltmarkts

09 November 2021

Darf man nur über die Gruppe schreiben, aus der man selbst stammt?

 Wer schreibt dann über Obdachlose und Demente?

"Sie leben und unterrichten in Teilen des Jahres in New York. In den USA hat die Debatte über den Umgang mit benachteiligten Gruppen inzwischen die Frage hervorgebracht, ob ein weißer Übersetzer das Buch einer schwarzen Autorin übertragen darf. Erstaunt es Sie, dass viele Ostdeutsche es ganz ähnlich sehen wie manche Afroamerikaner?

Vielleicht sollte ich schön finden, dass man im Osten auf der Höhe der amerikanischen Debatte ist. Aber es ist, Verzeihung, eine der dümmsten Debatten, die ich seit langem erlebt habe. Sollen wir auf Anna Karenina verzichten? Darauf, dass Doris Lessing über Männer und James Baldwin über Weiße geschrieben haben und uns wissen lassen, wie sie uns erleben?"

„Wir schreiben alle nicht nur über uns, Gott sei Dank“, Bernhard Schlink im Interview, FR 9.11.21

07 November 2021

Luise Rinser: Mitte des Lebens

 "Dieser Roman, eine Liebesgeschichte teils in Tagebuchform, teils direkt erzählt, ist wahrscheinlich das ausgeformteste und reichste Buch, das die deutsche Literatur heute besitzt." (Die Weltwoche Zürich, 1950)

Zum Inhalt

"Die 49-jährige Ich-Erzählerin Margret trifft zufällig ihre um zwölf Jahre jüngere Schwester Nina, die sie seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hat. Nina steht kurz vor ihrem Umzug nach England, der ihr die Flucht vor der Liebe zu einem verheirateten Mann ermöglichen soll. Die letzten Tage vor der Abreise verbringen die Schwestern gemeinsam. In dieser Zeit erfährt Margret die Geschichte Ninas, hauptsächlich durch das Tagebuch des gerade verstorbenen Arztes Dr. Stein, der ihren Lebensweg 18 Jahre lang - von 1929 an bis ins Jahr 1947 - begleitete. Er hatte sie als junge Studentin kennen gelernt, als er sie von einer Blutvergiftung heilte, und verliebte sich in sie. Sein Tagebuch beschreibt die Vergeblichkeit dieser Liebe und die Hoffnung Steins, die um zwanzig Jahre jüngere Nina letztlich doch für sich gewinnen zu können. Einer Verwirklichung dieses Wunsches steht jedoch die Persönlichkeit Ninas, deren Darstellung den Kern des Buches bildet, entgegen. Sie führt ein unstetes, unkonventionelles Leben, das bestimmt ist von ihrem unbedingten Freiheitsdrang und einer beständigen Sinnsuche. Ihr Lebenshunger lässt sie bei der Suche nach neuen Erfahrungen auch vor großem Leid und Einsamkeit nicht zurückschrecken. Nach dem Tod ihres Vaters übernimmt sie es aus finanziellen Gründen, eine kranke Tante bis zu deren Tode zu pflegen. 1933 hilft sie gemeinsam mit Stein, Verfolgte über die Grenze zu schmuggeln. Sie heiratet, hat zwei Kinder, doch die Ehe ist nicht glücklich. Als sie von ihrem Mann bereits getrennt lebt, wird dieser zum Tode verurteilt; sie hilft ihm, sich mit Gift zu töten. Wegen >>Beihilfe zum Hochverrat<< wird sie selbst inhaftiert. Nach dem Krieg avanciert sie zur erfolgreichen Schriftstellerin. Dem von Freiheit und Leidenschaft geprägten Leben Ninas steht das der Schwester Margret gegenüber. Sie ist verheiratet, führt ein geordnetes, bürgerliches Leben ohne besondere Aufregungen und war immer zufrieden mit dieser ruhigen Existenz; erst als sie vom Lebens Ninas erfährt, beginnt sie ihre vordergründige Zufriedenheit in Frage zu stellen."

 Buch24.de

Eine nach Zeitabschnitten geordnete, ausführlichere Inhaltsangabe bietet Dieter Wunderlich. Dazu liefert er eine Kurzrezension.

Zum Inhalt von "Abenteuer der Tugend (1957)"

"Der Briefroman "Abenteuer der Tugend", der zeitlich und thematisch an Luise Rinsers Roman "Mitte des Lebens" anknüpft, umkreist die Probleme einer geistig überaus wachen Frau, die an der Seite eines genialen, ihretwegen geschiedenen Künstlers um ihr eigenes Leben kämpft. Sie führt mit diesem Mann - einem ständig gefährdeten Schwermütigen und Süchtigen - eine Ehe, die von Zweifel und Auflehnung belastet ist. Von der Ausweglosigkeit jeder Liebe überzeugt, beginnt Nina einen Briefwechsel mit einem Freund, in dem sie sich Klarheit über das Verhältnis von Mann und Frau in der Ehe, Klarheit auch über Glauben und Erkenntnis zu verschaffen versucht."

tonia.de/buch 

Luise Rinser (Wikipedia)

Zitate:

Nina:

"Ich glaube, es gibt keine Lebenslage, die ganz unerträglich ist, wenn man sich in ihr einrichtet." (S. 111)

Über ihre sterbende Großtante: "Aber diese paar Minuten vor dem Sterben, die waren wichtig, das weiß ich. Sie sah etwas, und das, was sie sah, gab ihrem Leben von hinterher, vom Ende her, den Sinn. Ich kann mir nicht denken, daß man in diesem Augenblick noch betrogen wird und sich betrügen lässt. Man hat ihr etwas gezeigt, was sie zufrieden macht. Aber warum erfährt man das erst so spät? Ich verstehe das nicht." (S.112)

Und dann spricht sie wieder ihr dauerndes Ungenügen aus: "Und kommt einmal das Vollkommene im Leben da steht es wieder da, gerade dann, und sagt: nein, nicht für dich; du vergißt, daß es dein Gesetz ist weiterzugehen, immer weiterzugehen. Und es nützt nichts, daß du weinst und dich wehrst, es reißt dich fort." (S.121)

Mein Eindruck:

Wenn man von handwerklichen Fehlern absieht, vermag das Buch durchaus zu fesseln. Doch das Verhältnis der 12 Jahre älteren Erzählerin zu ihrer 12 Jahre jüngeren Schwester Nina wirkt nicht überzeugend.

Verständlich ist, dass sie über 20 Jahre keine Verbindung zu ihr hatte, weil sie sich beide in ihrer Kindheit fremd geblieben sind. Dazu passt aber schon der erste Satz ihres Berichtes nicht:

"Schwestern wissen voneinander alles oder gar nichts." Denn sie schließt sofort an: "Ich wußte von meiner Schwester Nina bis vor kurzem nichts. Sie ist zwölf Jahre jünger als ich, und sie war, als ich heiratete ein unfreundliches, mageres Geschöpf von zehn Jahren, mit struppigen Zöpfen und unzähligen Schrammen an Armen und Beinen, das, stumm und blaß vor Zorn, auf meinen Brautschleier spuckte [...]" (Fischer TB 256, S.5)

Weiter unten heißt es dann:

"In diesem Augenblick erinnerte ich mich ganz plötzlich, nach so vielen Jahren, nach Jahrzehnten, einer Szene aus unserer Kinderzeit. Wir schliefen in einem Zimmer zusammen. Eines Nachts wachte ich auf, und da sah ich Nina auf dem nackten Boden knien. Es war Winter und kalt im Zimmer. [...]  Ich erinnere mich genau an diese Szene, ich sehe Nina kauern, halb eine asketische Heilige, halb eine Indianerin, und / ganz erfüllt von dem Streben, ihren Willen zu stärken. Vielleicht hat es ihr oft geschadet, dass sie einen zu kräftigen Willen hatte; [...]" (Fischer TB, S.91/92)

Ohne diese Erläuterung vermag man vielleicht noch zu glauben, dass die ältere Schwester, obwohl sie mit der jüngeren zusammen in einem Zimmer schlief, völlig an ihr vorbei gelebt hätte. Aber dass sie von der neunjährigen Schwester schon erfahren hat, dass die solche Übungen zur 'Stärkung ihres Willens' unternommen hat - insofern also völlig anders orientiert war als die Erzählerin -, das ist nicht "nichts". Und diese Erinnerung an die Kinderzeit lag ja vor ihrer Aussage "Schwestern wissen voneinander alles oder gar nichts."

Unglaubwürdig ist auch, dass sie Ninas Alkoholmissbrauch stillschweigend duldet, ohne dass sie dafür eine Rechtfertigung versucht.  

Angesichts der stark autobiographischen Anklänge an Luise Rinsers eigenes Leben fällt auch auf, dass sie Nina eine Erzählung über eine Hanna schreiben lässt, die sie (Nina) - nachdem die Schwester sich beeindruckt gezeigt hat, als inkorrekt verwirft und erklärt, sie müsse sie neu schreiben. Denn Rinsers eigenes Gefängnistagebuch von 1946 geriet laut Wikipedia bald in Kritik:

"In einer Einleitung zu ihrem 1946 publizierten „Gefängnistagebuch“ behauptete sie: „Während meiner Haft lief am Volksgerichtshof Berlin unter dem berüchtigten Freisler ein Prozess gegen mich. Die Anklage lautete auf Hochverrat (Wehrkraftzersetzung und Widerstand gegen das Dritte Reich)… Man konnte mich aufgrund des vorliegenden Materials…zum Tode verurteilen.“ Tatsächlich war sie nicht einmal angeklagt, schon gar nicht wegen Hochverrats. Weder gab es einen Prozess, noch war der Präsident des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, wie von ihr behauptet, irgendwie in ihren Fall involviert. In ihrem Nachlass in Marbach befindet sich ein offizielles Dokument des Landgerichtsgefängnisses Traunstein, das besagt, „Luise Herrmann geb. Rinser“ sei am 21. Dezember 1944 aus der Haft entlassen worden (also genau an dem Datum, an dem auch ihre Aufzeichnungen aus dem Gefängnis enden), und zwar zunächst bis zum 7. Januar. Sie bekam Hafturlaub, und sie musste offenbar auch nicht wieder zurück in die U-Haft. Jedenfalls findet sich kein Dokument, das darauf hindeutet.[11] In einer Arbeit über die „Erinnerungen an den Nationalsozialismus in den autobiographischen Schriften Luise Rinsers“ zeigt die Germanistin Sandra Schrei auf, wie Rinser mit jeder ihrer veröffentlichten Aufzeichnungen über jene Jahre die Dramatik und die Gefahr und ihre angebliche aktive Widerstandsleistung vergrößerte.[11]"

Zu tugendhaft erscheint die Figur der Nina, als dass sie glaubwürdig etwas anderes darstellen könnte als eine Stilisierung der Schriftstellerin Rinser als 'Abenteurerin der Tugend". 

Fürs erste nur dies: Mir selbst fällt bei dieser Selbststilisierung Karl May ein, der nach seinen Gefängnisaufenthalten ein reiches literarisches Werk über abenteuerliche Helden verfasste und nach einiger Zeit unterstellte, dass seien persönliche Erfahrungen gewesen.

Rinser unterstellt das nicht. Sie stellt durch den Bericht der Erzählerin und das Tagebuch Dr. Steins Nina sehr deutlich als fiktive Person heraus. Aber dass persönliche Erfahrungen Rinsers aus der Außensicht dieser beiden Personen als unbegreifliche asketische Willensleistung Ninas dargestellt werden, läuft doch auf eine Selbststilisierung hinaus. 

Zu den handwerklichen Mängeln:

"Es war ein großes, dickes Buch oder vielmehr: es sah aus wie ein Buch. Aber es war nur ein Aktendeckel, der einen Stoß von beschriebenen Blättern enthielt, teils eingeheftet und teils lose. Ein paar davon flatterten zu Boden. Ich hob sie auf. Es waren Briefe." (Fischer TB S.11)

Ein Aktendeckel, aus dem Blätter herausquellen, soll aussehen wie ein Buch. Am Rücken kann er das schon gar nicht, denn da ist es eng geknickt, es fehlt ein Rücken. Und dann stellt sich noch heraus, dass es kein Aktendeckel ist, sondern ein Schnellhefter. Denn ein Teil der Blätter ist eingeheftet.

Wofür führt sie diesen "Aktendeckel" ein? Um zu rechtfertigen, dass es immer wieder große Lücken in den Aufzeichnungen gibt, die bedeutungsvoll klarmachen, wie große Mühe sich Dr. Stein gibt, Abstand von Nina zu gewinnen. - Diese Lücken könnten aber bei einem Aktendeckel, aus dem etwas herausfallen kann, auch nur zufällige sein. Überzeugender wirkten sie bei einem zusammenhängenden Tagebuch.

Außerdem: Die Lücken dienen dazu, Tagebuchteile genau an die Stellen der Handlung zwischen Nina und der älteren Schwester zu liefern, wo sie passen. Das ist ein unglaubwürdiges Verfahren. Überzeugender wäre es, wenn Rinser ohne solche Motivation beide Handlungen ineinander schöbe, wie E.T.A. Hoffmann das bei seinen Lebens-Ansichten der Katers Murr mit seiner dreist unglaubwürdigen Behauptung, Murr schreibe in Lücken hinein, die der Setzer nicht bemerkt, es getan hat.


06 November 2021

Hans Henny Jahnn

 Hans Henny Jahnn (Wikipedia)

Daraus:

  • Perrudja. Roman. 1. Teil 1929, 2. Teil unvollendet
  • Fluß ohne Ufer. Romantrilogie.
    • Das Holzschiff. 1949, überarbeitete Fassung 1959.
    • Die Niederschrift des Gustav Anias Horn nachdem er 49 Jahre alt geworden war. 1949/1950.
    • Epilog. Aus dem Nachlass veröffentlicht 1961.
  • Die Nacht aus Blei. Erzählung, 1956

Keine Lektüreanregung, nur ein Hinweis auf einen großartigen Dichter, von dem ich aber immer nur wenige Seiten gelesen habe.
Zu Fluss ohne Ufer (zur vollständigen Version, nicht nur wie in der Wikipedia zum 1. Teil, sieh Blumenberg* (S.666-667 - das halte ich für mich und alle Besitzer dieses Werks fest.)

*Tobias Blumenberg: Der Lesebegleiter. Eine Entdeckungsreise durch die Welt der Bücher erfasst nur Belletristik und zwar rund 1500 Werke (nicht chronologisch nach Druckdatum geordnet, sondern assoziativ, wie es dem Verfasser sinnvoll erscheint. Auf Jahnn kommt er im Zusammenhang mit dem Kleist-Preis, den er 1920 vor Zuckmayer (1925) erhielt).

Ein unvollständiger Hinweis auf die Besonderheiten von Jahnns Stil:
"Beachtenswert an Jahnns Sprache ist die Beschreibung der emotionalen Verfassung, die oft die wörtliche Rede und eigentliche Handlung ersetzt. Diese präzise beschriebenen Gefühle werden durch nicht weiter vertiefte Gespräche, innere Monologe oder Gedankenkonstrukte aufgerufen, wobei die semantische Rolle des "Patiens" deutlich überwiegt. Beispiele dafür sind:..." (Wikipedia)

02 November 2021

Brodersen/Dammann: Zerrissene Herzen. Die Geschichte der Juden in Deutschland

Allgemeines zur Erforschung der jüdischen Geschichte in Deutschland  (bpb)

Brodersen/Dammann: Zerrissene Herzen. Die Geschichte der Juden in Deutschland

Rezension: Perlentaucher

Machtkampf zwischen dem christlichen Kaiser Theodosius und Ambrosius, dem Bischof  von Mailand (S.36):

"388 stürmte hier [in: Kallinikon] eine aufgebrachte Menge Christen die örtliche Synagoge und steckte sie in Brand, was zu einer Konfrontation zwischen Kaiser Theodosius I., der gegen die Brandstifter vorgehen wollte, und Ambrosius von Mailand führte.* Als Vorwand könnte möglicherweise eine grausame Christenverfolgung des Sassanidenkönigs Schapur II. gedient haben, an der einige Jahre zuvor angeblich auch Juden mitgewirkt hatten. Ambrosius empörte sich vor allem über die kaiserliche Anweisung, die zerstörte Synagoge wieder aufzubauen. Theodosius konnte sich nicht gegen den Bischof durchsetzen; der Pogrom blieb ungesühnt." (Wikipedia: a-Raqqa

* Dieser Vorgang von 388 sollte nicht mit dem Massaker von Thessaloniki von 390 verwechselt werden, wo Ambrosius dem Kaiser sogar mit dem Kirchenbann drohte.

Weil Juden schriftkundig waren, wurden sie bald wichtig für die weltlichen Herrscher. Unter den Kaufleuten waren sie so stark, dass schon einmal von "Juden und anderen Kaufleuten" gesprochen wurde. (S.40)
Im Mittelalter unterschied man zwischen den spanischen Juden (Serafad) und denen im deutschsprachigen Raum (Aschkenas).
Unter Otto II. spielte die aus Italien stammende Familie Kalonymos eine wichtige Rolle. 

Im Zusammenhang mit dem ersten Kreuzzug kam es 1096 zu Angriffen auf Juden (S. 54)
Zitat:
"Eine Folge der Gewaltausbrüche bestand deshalb darin, dass sich eine Gruppe von Juden regelrecht in ihren durch das Martyrium gestärkten Glauben hineinsteigerte. So entstand zu Zeiten der Kreuzzüge eine besondere Form der Mystik deren Anhänger als die Chasside Aschkenas, die Frommen Deutschlands, bezeichnet wurden. Begründer dieser im zwölften Jahrhundert einflussreichen Schule war Rabbi Jehuda ben Samuel genannt Juda he-Chassid (der Fromme), wiederum ein Angehöriger der Familie Kalonymos, dessen Frau und zwei Kinder von Kreuzfahrern ermordet worden waren. [...] Diese jüdische Mystik hat die religiöse Kultur des Mittelalters stark geprägt und wird im 18. Jahrhundert, m Chassidismus, noch einmal eine Blüte erleben. (S. 55)
Heinrich IV. stellte sie im Mainzer Reichslandfrieden "zweifellos in guter Absicht als "homines minus potentes" (Menschen minderer Kraft) unter seinen besonderen / Schutz, entzog ihnen damit aber nebenbei das Waffenrecht, wodurch sich die Juden sozial herabgewürdigt sahen; denn wer in dieser Zeit – wie ein Sklave – keine Waffen tragen durfte, der war nicht gerade geachtet und konnte schnell zur leichten Beute werden. 
So kamen die meisten Juden während des zweiten von Papst Eugen III. im Jahre 1145 initiierten Kreuzzuges zwar mit dem Leben davon, viele wurden aber – derart wehrlos – durch Plünderungen um ihren mit steigender Missgunst betrachteten Besitz gebracht: "Unterstützt durch das Geld der frevelhaften Juden", so der Abt von Cluny, Petrus Venerabilis, solle "der Übermut der ungläubigen Sarazenen besiegt" werden. Nunmehr trachtete man den Juden nicht mehr sofort nach dem Leben; dafür mussten sie den heiligen Krieg mit ihrem Hab und Gut unterstützen. (S. 56)
Das den Juden erlaubte Pfandleihgeschäft verlor wegen des Aufkommens von Schuldscheinen – und auch weil Papst Eugen III. in einer Verordnung schlicht die Zinsen annullierte, die die Kreuzfahrer jüdischen Geldverleihern für Kredite hätten zahlen müssen – zunehmend an Boden." (S.56)

"Im Pfandleihgeschäft verleiht ein Pfandleiher gegen Hinterlegung eines Pfandes und gegen einen festgesetzten Zinssatz kurzfristig Geld. Von solchen jüdischen Zinsgeschäften berichten christliche und jüdische Quellen seit dem 12. Jahrhundert. Sie wurden für viele jüdische Gemeinden zu einer wichtigen wirtschaftlichen Grundlage. Der Zinssatz, den die jüdischen Geldverleiher fordern konnten, war zumeist in amtlichen Schutzbriefen festgelegt. Er war relativ hoch: 33 Prozent Zinsen waren durch aus üblich, auch weil die Juden einen großen Anteil davon an die Regierenden abzuführen hatten." (S. 57)

Antonius Margaritha, ein jüdischer Konvertit, verfasste im frühen 16. Jh. eine Streitschrift gegen die Juden: Der gantz judisch Glaub. Josel von Rosheim, der bedeutendste Fürsprecher der Juden erwirkte dagegen 1544 ein Privileg Kaiser Karls V., das die Rechte der Juden normalisierte."In den nächsten Jahren verteidigte er [Josel von Rosheim] "jüdische Gemeinden in Deutschland, Ungarn, Prag, Italien und an anderen Orten. Nachdem Martin Luther ihm die Unterstützung beim Kampf um die Aufhebung des kurfürstlichen Ediktes der Ausweisung aller Juden aus Sachsen und eine persönliche Begegnung 1537 verwehrt hatte und 1543 mit seiner Schmähschrift Von den Juden und ihren Lügen eine offen judenfeindliche Position einnahm, blieb für Josel von Rosheim und die jüdischen Gemeinden nur, auf die Schutzmacht des katholischen Kaisers zu bauen. (Wikipedia) Doch mehr und mehr Städte entzogen den Juden das Aufenthaltsrecht in der Stadt, so dass im gesamten deutschen Reichsgebiet nur noch in Prag, Frankfurt/M, Worms und Friedberg größere jüdische Gemeinden zurückblieben. (S.67)

 Während des Dreißigjährigen Krieges besannen sich aber die kriegführenden Parteien auf die Expertise der Juden in Geldgeschäften, als Armeeausstatter und als Unterhändler, so dass auch gegen den Widerstand der Stadtoberen Judenviertel eingerichtet wurden. Freilich kam es nach dem Ende des Krieges wieder zu Vertreibungen (Lübeck, Augsburg, Heilbronn, Schweinfurt). (S.71)  
Die weit überwiegende Mehrzahl der Juden konnten freilich keinen Schutzbrief eines Territorialherren bezahlen. Sie durften daher nicht in der Stadt wohnen.  Um ihnen zu ermöglichen, wenigstens tageweise eine Stadt zu besuchen und Handel zu treiben gaben die städtischen jüdischen Gemeinden Bletten, eine Art von Schutzbrief für einen Tag, an Landjuden aus. (S.73)

Zu Hofjuden und Hoffaktoren (Wikipedia)

"Mit Isaak aus Aachen, der für Karl den Großen diplomatische Missionen übernahm, wirkte bereits Ende des 8. Jahrhunderts ein Großkaufmann im Dienste eines Fürsten. Im Mittelalter wurden Pfandleihe und Kreditvergabe gegen Zinsen ein Schwerpunkt jüdischer Kaufleute. Mehr durch ihre praktische Erfahrung und weitreichenden Beziehungen als durch das von der katholischen Kirche erst 1179 bekräftigte Zinsverbot für Christen und 1215 neu hervorgehobene Wucherverbot, die zudem schon bald kaum beachtet wurden, gewannen sie ihre Kunden. Für den im Spätmittelalter wachsenden Finanzbedarf der Wirtschaft und Politik gewährten Christen (italienische Banken, z. B. die Compagnia dei Bardi) und Juden Kredite gegen Zinsen.

Als erster jüdischer Hoffaktor im Sinne eines Amtes gilt Salomon oder Salmon[2], der 1315 als Hof- und Küchenmeister von Herzog Heinrich VI. in Breslau tätig war. Samuel von Derenburg[3] diente vier Kirchenfürsten in Erzbistum Magdeburg, so Otto und Dietrich von Portitz.[4] Vivelin von Straßburg war im Elsaß eine der reichsten Personen in Europa vor seinem Tod in der Pest 1349. In England war Aaron von Lincoln bereits im 12. Jahrhundert tätig. Isaak Abarbanel war in Spanien ein großer Finanzier in der Reconquista.

Beginn am Wiener Kaiserhof und Berliner Hof

Die Geschichte der eigentlichen Hofjuden begann erst im 16. Jahrhundert: Im Jahr 1582 schuf Kaiser Rudolf II. die Institution des Hofbereiten Juden in Wien. Dieser war frei von Abgaben an Land und Stadt, hatte Maut- und Zollfreiheit für seine Waren, war ausschließlich der Gerichtsbarkeit des Obersthofmarschalls unterstellt, war befreit vom Tragen des Judenzeichens und durfte sich dort aufhalten, wo sich der Hof befand. Ab 1596 mussten diese befreytten Juden auch Sonderkontributionen für Kriegszwecke leisten.[5] Jakob Bassevi von Treuenberg, ab 1616 Vorsteher der Prager Judengemeinde, erhielt 1622 auf Betreiben Wallensteins von Ferdinand II. den Adelstitel und wurde gemeinsam mit Fürst Lichtenstein Pächter der Münzprägung.[6] 1624 wurde auch in Wien das Prägegeschäft im Kaiserlichen Münzhaus dem befreiten Juden Israel Wolf Auerbach und seinem Konsortium übertragen.[7]

Mit Michael von Derenburg hatte auch das Haus Hohenzollern in Kurbrandenburg ab 1543 früh einen Hoffaktoren. Kurfürst Joachim II. (1535–1571) ernannte den aus einer Prager Judenfamilie stammenden Lippold 1556 zum Münzmeister. Er gilt als erster Hoffaktor im umfassenden Sinne; zu seinen Aufgabe gehörte die Beschaffung des Münzmetalls und die Betreuung des Schlagschatzes."

Die Wikipedia zu Lippold Ben Chluchim und die die Kaufleute schädigenden Maßnahmen, die er als Münzmeister durchzusetzen hatte:

 "1569 belehnte der König, zugleich Schwager Joachims II., ihn und die Berliner Hohenzollern als erbberechtigt im Herzogtum Preußen. Zur Finanzierung – und wegen der auch sonst verschwenderischen Hofhaltung Joachims II. – unterwarf der Kurfürst die Einwohner der Mark, insbesondere die jüdischen, hohen Steuern. Joachim II. schreckte auch nicht vor Münzverschlechterung und Konfiskationen zurück.[3]

Märkische Kaufleute, die von außerhalb der Mark Waren importierten, mussten diese in gewogenem Edelmetall bezahlen, da die märkische Münze wegen ihres herabgesetzten Edelmetallgehalts nicht mehr im Ausland akzeptiert wurde. Joachim II. verbot jedoch, die Münze zu herabgesetzten Kursen zu berechnen. Entsprechend entzogen sich die Kaufleute den Zwangskursen, indem sie zunächst ihre Außen- und Großhandelsgeschäfte in fremder Währung tätigten, und nachdem Joachim II. dies verboten hatte, in gewogenem Edelmetall zahlten. Darauf reagierte der Kurfürst mit einem Verbot, Edelmetall zu nutzen und zu besitzen. In Edelmetall erlangte Verkaufserlöse mussten zu verordneten, die entwertete Landesmünze hoch taxierenden Zwangskursen an die Landeskasse verkauft werden.[4] Märkische Juden mussten darüber hinaus kostspielig Edelmetall importieren, das sie dann unter Einstandspreis zu diktierten Inlandspreisen an den Kurfürsten liefern mussten.[5] Das machte es Kaufleuten unmöglich, zu kostendeckenden Erlösen zu im- und exportieren. Lippold war als Münzmeister beauftragt, die Zwangsmaßnahmen gegen die Kaufleute, lutherische und jüdische gleichermaßen, durchzusetzen. Zu den Maßnahmen gehörten auch Hausdurchsuchungen bei Kaufleuten, wobei gefundenes, verbotenerweise gehaltenes Edelmetall zu Gunsten des Landesherrn beschlagnahmt wurde."

Unter dem Nachfolger Joachims II.. Kurfürst Johann Georg, erging es Lippold weit schlechter. Er "wurde zum Tode durch Rädern und Vierteilen verurteilt." (mehr dazu)


Selbst der Aufklärer Lessing war vermutlich an der Münzverschlechterung Friedrichs II. von Preußen beteiligt, die der Jude Veitel-Heine Ephraim in Zusammenarbeit mit dem preußischen General von Tauentzien in Sachsen zu organisieren hatte, bei dem Lessing angestellt war. Offenbar mit den Einnahmen daraus konnte Lessing  seine Schulden bezahlen und für seine Eltern sorgen. (S.73-75) [Die Wikipedia berichtet dazu nur, dass Lessing in der Zeit bei Tauentzien in Diensten stand, auch im Artikel über Tauentzien wird die Münzentwertung nicht erwähnt.]

Moses Mendelssohn

 "Nie sei er von Mendelssohn weggegangen, schrieb Nikolai an Lessing, ohne entweder besser oder gelehrter zu werden.".(S. 91) 
Moses "gewann mit seiner Abhandlung "Über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften" den ersten Preis der Königlichen Akademie der Wissenschaften" (S.92) Zweiter wurde der Privatdozent aus Königsberg Immanuel Kant.
Moses übersetzte mit einem Team die fünf Bücher Mose ins Deutsche und ließ sie mit hebräischen Lettern drucken, um so "über die deutsche Sprache einen Schritt zur [...] Integration der deutschen Juden zu machen" (S.96/97) Der Rabbiner Jescheskel Landau kritisierte das. Die Thora "wird dadurch herabgewürdigt zur Rolle einer Dienerin der deutschen Sprache". (S.97)
Zwischen zwei Kulturen
David Friedländer (S.100-102) sah eine Verschmelzung als unmöglich an, entschied sich für die deutsche.
Rahel Levin (S.102/03) klagte "über die Zerreißprobe des Lebens in zwei Wirklichkeiten" (S.102)
Christian Wilhelm Dohm und Wilhelm von Humboldt traten für die "staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden" (S.105) ein.
Eine Gegenbewegung entstand in der Christlich deutschen Tischgesellschaft S.108): 
"Der Verein gründete sich im Rahmen der Reformbestrebungen in Preußen. Dabei waren die Mitglieder jeweils zur Hälfte Adelige und Bürgerliche.[2] Unter den 86 namentlich bekannten Mitgliedern waren höhere Berufe besonders repräsentiert, darunter 37 Beamte und 19 Soldaten. Unter den Beamten waren alleine 12 Professoren der 1809 gegründeten Friedrich-Wilhelms-Universität. Die reformerische Ausrichtung zeigt sich in der geringen Vertretung von Gutsherren und Hochadel. Als bekannte Politiker unter den Mitgliedern sind der Geheime Obersteuerrat Christian Peter Wilhelm Beuth und der Finanzrat Friedrich August von Staegemann zu nennen, von den Militärs Carl von Clausewitz und Leopold von Gerlach, von den Hochschullehrern Friedrich Schleiermacher, Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Karl von Savigny, von den Schriftstellern Achim von Arnim und Clemens Brentano, von den anderen Künstlern August Wilhelm Iffland, Johann Friedrich Reichardt und Karl Friedrich Schinkel
Die Deutsche Tischgesellschaft wird, verglichen mit anderen Vereinen im Berlin ihrer Zeit, als zugleich „exklusiver und offener“ beschrieben.". (Wikipedia)

Reformer gegen Traditionalisten (S.111)
Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden: "Der Verein wurde am 7. November 1819[1] im Gefolge der Hep-Hep-Krawalle [...] gegründet und führte junge, akkulturierte Juden zusammen, die alle auf der Suche nach einer jüdischen Identität waren, die es wert sei, nach außen hin verteidigt zu werden. Gründungsmitglieder waren der zum Vorsitzenden gewählte Joseph Hilmar, Joel Abraham List, Isaac Levin Auerbach, Isaac Marcus Jost, Leopold Zunz, der Hegel-Schüler Eduard Gans und Moses Moser.[2] Der Einfluss des Antisemitismus auf die Identitätsbildung wurde gerade in dieser Zeit besonders sichtbar. Der Wunsch nach völliger Emanzipation weckte Feindseligkeiten, die durch scharfe antisemitische Polemik von Intellektuellen und Akademikern angestachelt wurden. Aber auch die Mitglieder des "Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden" waren akademisch gebildet und suchten in historischen Studien nach der Quintessenz des Judentums, mit der sie sich identifizieren konnten.
Ihr erklärtes Ziel war die kritische wissenschaftliche Erforschung des Judentums. So war auch seine erste Manifestation die Wissenschaft des Judentums. Man postulierte darin die Juden als nationale Identität mit einer säkularisierten Kultur, die auf die Religion nur noch als überkommene Tradition rekurriert." (Wikipedia)
Rückbesinnung und Reform des Judentums (S.116-119):
Gesetz: Sabbat, koscher, Beschneidung
Johann Jacoby: "ein deutscher Arzt und Radikaldemokrat in Preußen.[...]  als Sohn des jüdischen Kaufmanns Gerson Jacoby [...] geboren [...] „Wie ich selbst Jude und Deutscher bin, so kann in mir der Jude nicht frei werden ohne den Deutschen und der Deutsche nicht ohne den Juden.“[4]"

Sieh auch:
1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland (Ausführliche Dokumentationen der Bundeszentrale für politische Bildung)