27 Februar 2023

Goethe: Novelle

 Von Goethes Novelle war mir nur in Erinnerung geblieben, dass sie sehr wenig novellenhaft sei. Ich konnte mich weder an das zentrale unerhörte Ereignis erinnern noch an Zuspitzung, wie man sie von einer Novelle erwartet.

Jetzt, da ich mich über Entstehungsgeschichte informiert habe, wird mir manches klarer.

Entstanden ist der Plan im Anschluss an Hermann und Dorothea. Er widersetzte sich aber einer Umsetzung als Epos. Im Zusammenhang der Besprechung mit Schiller kam einmal dessen Handschuh und eine mögliche Bearbeitung als Ballade ins Spiel. Schließlich verfiel Goethe im Zusammenhang der Arbeit an den Wanderjahren dann die Form der Novelle ein.

Die im Altersstil geschriebene höchst undramatische Erzählung, die allerlei Motive aufgreift, aber nicht ausgestaltet  und schließlich in der legendenhaften Gestaltung der Zähmung eines Löwen durch ein Kind und mit Versen* endet, erstaunte mich auch bei meiner heutigen Lektüre wieder. - Die Entstehungsgeschichte erklärt es.

*»Und so geht mit guten Kindern

Sel'ger Engel gern zu Rat,

Böses Wollen zu verhindern,

Zu befördern schöne Tat.

So beschwören, fest zu bannen

Liebem Sohn ans zarte Knie

Ihn, des Waldes Hochtyrannen,

Frommer Sinn und Melodie.«


Wer von uns Heutigen käme bei "des Waldes Hochtyrannen" auf einen Löwen?

Hier ein paar Stilproben:

"Ein dichter Herbstnebel verhüllte noch in der Frühe die weiten Räume des fürstlichen Schloßhofes, als man schon mehr oder weniger durch den sich lichtenden Schleier die ganze Jägerei zu Pferde und zu Fuß durcheinander bewegt sah. Die eiligen Beschäftigungen der Nächsten ließen sich erkennen: man verlängerte, man verkürzte die Steigbügel, man reichte sich Büchse und Patrontäschchen, man schob die Dachsranzen zurecht, indes die Hunde ungeduldig am Riemen den Zurückhaltenden mit fortzuschleppen drohten. Auch hie und da gebärdete ein Pferd sich mutiger, von feuriger Natur getrieben oder von dem Sporn des Reiters angeregt, der selbst hier in der Halbhelle eine gewisse Eitelkeit, sich zu zeigen, nicht verleugnen konnte. [...]

Nach allem diesem aber ist es immer noch bemerkenswert und an Ort und Stelle zu beschauen, daß auf den Stufen, die in den Hauptturm hinaufführen, ein Ahorn Wurzel geschlagen und sich zu einem so tüchtigen Baume gebildet hat, daß man nur mit Not daran vorbeidringen kann, um die Zinne, der unbegrenzten Aussicht wegen, zu besteigen. Aber auch hier verweilt man bequem im Schatten, denn dieser Baum ist es, der sich über das Ganze wunderbar hoch in die Luft hebt.

Danken wir also dem wackern Künstler, der uns so löblich in verschiedenen Bildern von allem überzeugt, als wenn wir gegenwärtig wären; er hat die schönsten Stunden des Tages und der Jahrszeit dazu angewendet und sich wochenlang um diese Gegenstände herumbewegt. In dieser Ecke ist für ihn und den Wächter, den wir ihm zugegeben, eine kleine, angenehme Wohnung eingerichtet. Sie sollten nicht glauben, meine Beste, welch eine schöne Aus- und Ansicht er ins Land, in Hof und Gemäuer sich dort bereitet hat! Nun aber, da alles so rein und charakteristisch umrissen ist,[494] wird er es hier unten mit Bequemlichkeit ausführen. Wir wollen mit diesen Bildern unsern Gartensaal zieren, und niemand soll über unsere regelmäßige Parterre, Lauben und schattigen Gänge seine Augen spielen lassen, der nicht wünschte, dort oben in dem wirklichen Anschauen des Alten und Neuen, des Starren, Unnachgiebigen, Unzerstörlichen und des Frischen, Schmiegsamen, Unwiderstehlichen seine Betrachtungen anzustellen.« [...]

In das friedliche Tal einreitend, seiner labenden Kühle nicht achtend, waren sie kaum einige Schritte von der[501] lebhaften Quelle des nahen fließenden Baches herab, als die Fürstin ganz unten im Gebüsche des Wiesentals etwas Seltsames erblickte, das sie alsobald für den Tiger erkannte; heranspringend, wie sie ihn vor kurzem gemalt gesehen, kam er entgegen, und dieses Bild zu den furchtbaren Bildern, die sie soeben beschäftigten, machte den wundersamsten Eindruck, »Flieht! gnädige Frau,« rief Honorio, »flieht!« Sie wandte das Pferd um, dem steilen Berg zu, wo sie herabgekommen waren. Der Jüngling aber, dem Untier entgegen, zog die Pistole und schoß, als er sich nahe genug glaubte. Leider jedoch war gefehlt; der Tiger sprang seitwärts, das Pferd stutzte, das ergrimmte Tier aber verfolgte seinen Weg aufwärts, unmittelbar der Fürstin nach. Sie sprengte, was das Pferd vermochte, die steile, steinige Strecke hinan, kaum fürchtend, daß ein zartes Geschöpf, solcher Anstrengung ungewohnt, sie nicht aushalten werde. [...]

Alles war still, hörte, horchte, und nur erst, als die Töne verhallten, konnte man den Eindruck bemerken und allenfalls beobachten. Alles war wie beschwichtigt, jeder in seiner Art gerührt. Der Fürst, als wenn er erst jetzt das Unheil übersähe, das ihn vor kurzem bedroht hatte, blickte nieder auf seine Gemahlin, die, an ihn gelehnt, sich nicht versagte, das gestickte Tüchlein hervorzuziehen und die Augen damit zu bedecken. Es tat ihr wohl, die jugendliche Brust von dem Druck erleichtert zu fühlen, mit dem die vorhergehenden Minuten sie belastet hatten. Eine vollkommene Stille beherrschte die Menge; man schien die Gefahren vergessen zu haben, unten den Brand und von oben das Erstehen eines bedenklich ruhenden Löwen. [...]"

Goethe: Novelle zeno.org

25 Februar 2023

Jüdische Sagen

 Als durchschnittlicher Kirchgänger hat man nur wenig Kenntnis über die christlichen Schriften außerhalb des biblischen Kanons, aber meist noch geringere Kenntnis über die jüdischen Schriften außerhalb des Alten Testaments. Gehört haben fast alle vom Talmud, aber eine klare Vorstellung kaum, noch problematischer wird es bei der Kabbala.

Sammlungen jüdischer Sagen

Jüdische Sagen beginnend mit Adam

Mich interessierte, als ich jüdische Sagen kennenlernte, vor allem die Geschichte von Joseph und Asenath, weil sie aus der Perspektive der Frau geschrieben ist, aber auch anderes, was von der Darstellung im Alten Testament abweicht.

Rießler, der viele Schriften dieser Art herausgegeben hat, rechnet die Texte, die ich im Folgenden zitiere, dem Kreis um die Essener zu.*

5. Kapitel: Musterung der Söhne Noes

1
Damals kamen Chams Söhne und setzten sich Nembroth zum Fürsten.

Japhets Söhne machten sich Phenech zum Führer.
Auch Sems Söhne kamen zusammen
und setzten sich Jectan zum Fürsten.

2
Als diese drei zusammenkamen, machten sie einen Plan,

um das Volk ihrer Anhänger zu beschauen und zu mustern.
Noch zu Noes Lebzeiten kamen sie alle zusammen
und wohnten einträchtig beieinander
und die Erde lag im Frieden.

3
Im 340. Jahr des Auszugs Noes aus der Arche,

nachdem Gott die Flut hatte vertrocknen lassen,
musterten die Fürsten ihr Volk.

4
Phenech, des Japhet Sohn, musterte als Erster Gomers Söhne:

alle, die unter dem Zepter ihrer Führer vorüberzogen,
beliefen sich auf 5800,
ebenso die Söhne Magogs auf 6200,
Madais Söhne auf 5700,
Tubals Söhne auf 9400,
Mosochs Söhne auf 5600,
des Tiras Söhne auf 12 300,
des Riphat Söhne auf 11 500,
Thogormas Söhne auf 14 400,
Elisas Söhne auf 14 900,
die Söhne des Tharsis auf 12100,
Cethins Söhne auf 17 300,
Doins (Dodanim) Söhne auf 17 700.

[743]

Die Zahl aller Wehrfähigen und Waffengegürteten
im Lager der Söhne Japhets
belief sich im Angesicht ihrer Führer auf 140 202, ohne Weiber und Kinder.
Japhets Gesamtzahl betrug 142 000.

5
Nembrath selbst und Chams Söhne zogen auch vorüber;

alle, die unter den Zeptern ihrer Führer vorüberzogen, beliefen sich auf 24 800,
Phuas Söhne auf 27 200, Kanaans Söhne auf 32 800,
Sobas Löhne auf 4300, Lebillas Söhne auf 22 300.
Satas Söhne auf 25 300, Remmas Söhne auf 30 600,
Sabacas Söhne auf 46 400.

6
Die Zahl aller Wehrfähigen und Waffengegürteten

im Lager der Söhne Chams
belief sich im Angesicht ihrer Führer auf 244 900, ohne Weiber und Kinder.
Sems Sohn Jectan musterte die Söhne Elams;
die Gesamtzahl derer, die unter den Zeptern ihrer Führer vorüberzogen belief sich auf 47 000,
die Gesamtzahl der Assursöhne,
die unter den Zeptern ihrer Führer vorüberzogen, dagegen auf 73 000,
die der Aramsöhne auf 87 000,
die der Söhne Luds auf 30 600,
die der Söhne Chams auf 73 000,
die der Söhne Aphaxads auf 114 600.
Ihre Gesamtzahl betrug 347 600.

7
Die Zahl der Lager bei den Söhnen Sems –

alle zogen gerüstet und kriegsmäßig einher –
betrug im Angesicht ihrer Führer neun, ohne Weiber und Kinder.

8
Dies sind die Geschlechter Noes, einzeln aufgeführt;

ihre Gesamtzahl beträgt 914 000.
Diese alle wurden noch zu Noes Lebzeiten gemustert,
in Anwesenheit Noes, fünfzig Jahre nach der Flut.
Die ganze Lebenszeit Noes betrug 950 Jahre; dann starb er.

 (Rießler: Das Buch der jüdischen Altertümer, Philo 5. Kapitel)
(Vgl.  Altes Testament 1.Buch Mose 10. Kapitel)

6. Kapitel: Der Turmbau zu Babel (Wikipedia; Bibellexikon)
1
Damals bewohnten alle getrennt ihr eigenes Land;

hernach vereinigten sie sich und wohnten beisammen.
Später zogen sie von Osten fort
und fanden ein Gefilde im Lande Babel;
daselbst ließen sie sich nieder und sprachen zueinander:
Wir werden noch, jeder vom andern, losgetrennt werden
und uns in den letzten Zeiten bekämpfen.
Kommet also!
Wir wollen einen Turm bauen,
dessen Spitze bis zum Himmel reichen soll.
So wollen wir uns Namen und Ruhm auf Erden verschaffen.

2
Dann sprachen sie zueinander:

Laßt uns Ziegelsteine nehmen!
Dann wollen wir, jeder für sich,
unsere Namen auf die Steine schreiben
und sie im Feuer brennen.

[744]

Was vollständig gebrannt ist,
soll dann als Ziegelstein im Mörtel dienen.

3
Da nahmen sie, jeder seinen Stein,

abgesehen von zwölf Männern, die sie nicht nehmen wollten.
Sie hießen Abraham, Nachor, Lot, Ruge, Tenute, Zaba,
Armodat, Jobab, Esar, Abimael, Saba und Auphin.

4
Da packte sie das Volk des Landes,

führte sie zu seinen Fürsten und sprach:
Das sind die Männer, die unsere Beschlüsse übertreten
und nicht in unsern Wegen wandeln wollen.
Da fragten die Führer sie:
Warum wollt ihr nicht Ziegelsteine mit dem Volk des Landes legen?
Sie gaben zur Antwort:
Wir legen mit euch weder Ziegelsteine,
noch teilen wir eure Lust.
Wir kennen Einen Herrn,
und diesen beten wir an.
Und mögt ihr uns samt euren Ziegelsteinen ins Feuer legen,
so stimmen wir euch doch nicht zu.

5
Da sprachen die Führer voll Zorn:

Wie sie gesagt, so verfahret mit ihnen!
Willigen sie nicht ein, mit euch Ziegelsteine zu legen,
so verbrennt sie samt euren Steinen im Feuer!

6
Da sprach Jectan, der erste Fürst der Anführer:

Nicht so! Man gebe ihnen eine Frist von sieben Tagen!
Bereuen sie dann ihre üblen Entschlüsse
und wollen sie mit euch Steine legen,
dann mögen sie am Leben bleiben.
Geschieht dies aber nicht,
so sollen sie nach eurer Meinung verbrannt werden!
Er selbst aber suchte nur nach einem Anlaß,
wie er sie aus des Volkes Händen retten könnte;
denn er war von ihrem Stamm und diente Gott.

7
Nach diesen Worten nahm er sie zu sich

und schloß sie im Königsschlosse ein.
Hernach ließ der Fürst abends
fünfzig wehrfähige Männer zu sich rufen
und sprach zu ihnen:
Zieht hin
und holt in dieser Nacht die in meinem Hause eingesperrten Männer!
Dann beladet zehn Lasttiere mit Lebensmitteln für sie!
Die Männer selber aber führt zu mir!
Dann bringt ihre Lebensmittel mit den Lasttieren ins Gebirge,
und sorgt für sie daselbst!
Wisset aber, daß ich euch im Feuer verbrenne,
wenn jemand erfährt, was ich zu euch sprach!

8
Die Männer zogen fort und taten genau, wie der Fürst ihnen befohlen.

Sie führten also zuvor die Männer bei Nacht aus seinem Haus herbei,

[745]

nahmen die Lebensmittel, beluden damit die Lasttiere
und führten sie ins Gebirge nach seinem Befehl.

9
Da rief der Fürst jene zwölf Männer zu sich und sprach zu ihnen:

Habt Vertrauen! Fürchtet euch nicht!
Ihr müht nicht sterben.
Mächtig ist ja Gott, auf den ihr vertrauet;
deshalb seid in ihm standhaft!
Er wird euch ja befreien und retten.
Nun befahl ich fünfzig Männern
sie sollten euch samt Lebensmitteln aus meinem Haus hinausführen.
So gehet denn ins Gebirge und haltet euch in einem Tal auf!
Ich gebe euch noch fünfzig andere Männer mit,
die euch bis dorthin begleiten sollen.
Nun gehet und verberget euch dort in einem Tal,
wo ihr ein aus Felsen fließendes Wasser zum Trinken habt,
und haltet euch dreißig Tage auf,
bis sich des Volkes Ingrimm im Lande legt,
und bis Gott über dieses einen Zorn losläßt
und es auseinanderreißt!
Ich weiß nämlich,
daß der von ihnen ungerecht gefaßte Beschluss nicht ausgeführt wird;
denn ihr Planen ist eitel.
Nach Verlauf von sieben Tagen werden sie euch freilich suchen;
ich aber sage dann zu ihnen:
Sie sind fort;
sie flohen bei Nacht nach Sprengung ihrer Kerkertüre;
ich schickte daraufhin hundert Männer zu ihrer Verfolgung ab.
Auf diese Weise bringe ich sie von ihrem augenblicklichen Zorn ab.

10
Da gaben ihm elf Männer zur Antwort:

Deine Sklaven haben Gnade vor deinen Augen gefunden,
daß wir aus den Händen dieser Übermütigen befreit werden.

11
Abram allein schwieg.

Da fragte ihn der Fürst:
Warum antwortest du mir nichts, Abram, Diener Gottes?
Da erwiderte Abram:
Gesetzt, ich flüchtete mich heute ins Gebirge
und entginge so dem Feuer,
dann können aus den Bergen wilde Tiere kommen
und uns verzehren,
oder die Nahrungsmittel gehen uns aus,
und wir sterben Hungers;
dann sieht es aus,
als ob wir, auf der Flucht vor dem Volk des Landes,
in unsern Sünden umgekommen wären.
Nun aber lebt der, auf den ich vertraue.
Ich lasse mich nicht aus dem Ort bringen,
wohin man mich verbrachte.
Und sollte ich irgendeine Sünde auf mir haben,

[746]

daß ich ihretwegen hinweggerafft würde,
so geschehe Gottes Wille!
Da sprach zu ihm der Fürst:
Dein Blut komme über dein Haupt,
willst du nicht mit jenen fortziehen!
Willst du aber, so kannst du befreit werden.
Wenn du aber zurückbleiben willst,
dann bleibe eben, wie du willst!
Da sprach Abram: Ich gehe nicht fort; ich bleibe hier.

12
Da entließ der Fürst jene elf Männer

und sandte weitere fünfzig mit ihnen,
denen er anbefahl:
Wartet auch ihr im Gebirge fünfzehn Tage
mit jenen vorausgesandten Fünfzig!
Hernach kehret zurück und saget:
„Wir fanden sie nicht“,
geradeso, wie ich jenen Ersten gesagt habe.
Wisset, daß im Feuer verbrannt wird,
wer irgendeinem meiner Befehle zuwiderhandelt!
Nach dem Abzug der Männer nahm er den Abram
und schloß ihn wieder an dem frühern Orte ein.

13
Nach sieben Tagen versammelte sich das Volk und sprach zu seinem Fürsten:

Gib uns die Männer heraus,
die nicht mit uns das gleiche wollten!
Wir wollen sie verbrennen.
Und sie schickten Führer hin, die sie herführen sollten.
Da fanden sie niemand mehr außer Abram.
Da kamen sie alle zu ihren Fürsten und sprachen:
„Die Männer, die ihr einschlosset, sind geflohen.
So entrannen sie dem, was wir beschlossen.“

14
Da sprachen Phenech und Nebroth zu Jectan:

Wo sind die Männer, die du einschlossest?
Er sprach:
Sie brachen in der Nacht aus.
Da sandte ich hundert Männer ab, die sie suchen sollten.
Ich gab den Befehl,
daß man sie, falls man sie fände, nicht bloß verbrennen,
sondern auch ihre Leiber den Vögeln geben und sie so vernichten sollte.

15
Da sprachen sie zu ihm:

So wollen wir den, der allein noch da ist, verbrennen.
Sie nahmen Abram, führten ihn zu ihrem Fürsten und fragten ihn:
Wo sind die, die bei dir waren?
Da sprach er:
Ich hatte in der Nacht einen tiefen Schlaf;
als ich aufwachte, fand ich sie nicht mehr vor.

16
Daraufhin packten sie ihn,

erbauten einen Ofen, zündeten ihn an
und legten Ziegelsteine zum Gebranntwerden in den Ofen.

[747]

Dann ergriff der Fürst Jectan, im Herzen gerührt, Abram
und warf ihn zu den Ziegelsteinen in den Ofen.

17
Da ließ Gott ein großes Erdbeben entstehen,

und das Feuer ergoß sich aus dem Ofen,
brach in Flammen und Feuerfunken aus
und verbrannte alle um den Ofen herum.
Derer, die an jenem Tage verbrannten,
waren es insgesamt 83 500.
Dagegen hatte Abram nicht den geringsten Schaden
durch Verbrennung erlitten.

18
Nun stieg Abram aus dem Ofen

und warf den Feuerofen um.
So ward Abram gerettet.
Er ging nun zu den elf Männern
und erzählte ihnen alles Vorgefallene.
Da stiegen sie mit ihm vom Gebirge
und freuten sich im Namen des Herrn,
und niemand begegnete ihnen
und erschreckte sie an jenem Tag.
Jenen Ort hießen sie nach Abram,
und zwar in chaldäischer Sprache Deli, d. i. Gott.

 (Rießler: Das Buch der jüdischen Altertümer, Philo 6. Kapitel)
(Der Bericht im Alten Testament 1. Buch Mose 11. Kapitel)

7. Kapitel: Völkerzerstreuung
1
Nach diesen Vorfällen ließ das Volk des Landes

trotzdem nicht von seinen schlimmen Plänen.
Sie kamen abermals zu ihren Fürsten und sagten:
Das Volk soll nie überwunden werden.
Laßt uns zusammenkommen und uns eine Stadt bauen
sowie einen Turm, der niemals verschwinden soll!

2
Als sie nun zu bauen begannen,

sah Gott die Stadt und den Turm,
den die Menschenkinder bauten,
und er sprach:
Fürwahr, es ist Ein Volk und Eine Sprache;
doch das, was sie zu bauen unternehmen, kann die Erde nicht ertragen.
noch der Himmel es sehen und dulden.
Werden sie jetzt aber nicht daran gehindert,
so werden sie sich an alles wagen, was sie sich vornehmen.

3
Deshalb will ich ihre Sprache teilen

und sie in alle Welt zerstreuen,
daß keiner mehr den andern kennt
und keiner die Sprache seines Nächsten versteht.
Ich werde sie den Felsen überliefern,
und sie werden sich Hütten aus Stoppeln von Stroh erbauen
und sich Höhlen ausgraben und darin wie wilde Tiere hausen.
Und so werden sie vor meinem Angesicht zu allen Zeiten bleiben,
daß sie niemals wieder solches aushecken.

[748]

Ich werde sie wie Wassertropfen erachten
und sie mit Speichel vergleichen.
Für die einen kommt das Ende im Wasser,
und die andern werden durch Durst ausgetrocknet.

4
Vor allen diesen werde ich meinen Diener Abram erwählen,

ihn aus ihrem Gebiet entfernen
und in das Land führen, worauf mein Auge von Anbeginn blickte,
als vor meinem Angesicht alle Erdbewohner sündigten.
Als ich das Wasser der Sintflut herbeiführte,
vernichtete ich jenes Land nicht, sondern bewahrte es davor.
Darin brachen nicht die Quellen meines Zornes auf;
noch kam darin das Wasser meiner Vernichtung.
Dort nämlich will ich meinen Diener Abram wohnen lassen,
meinen Bund mit ihm schließen und seinen Stamm segnen,
und ich werde ihm für ewig zum Schutzgott sein.

5
Und Gott teilte die Zungen der Völker,

die das Land bewohnten,
als sie mit dem Turmbau begannen,
und änderte ihr Aussehen.
Und keiner erkannte mehr seinen Bruder,
noch verstand irgendeiner die Sprache seines Nächsten.
Wenn die Bauleute ihren Knechten
die Beischaffung von Steinen befahlen,
dann brachten diese Wasser herbei,
und wenn sie Wasser verlangten, so brachten sie Stroh.
So wurde ihr Vorhaben unterbunden,
und sie hörten mit dem Bau der Stadt auf;
dann zerstreute sie der Herr von dort
über die Oberfläche der ganzen Erde.
Deshalb nannte man jenen Ort „Verwirrung“,
weil Gott daselbst ihre Sprache verwirrte
und sie von da über die Oberfläche der ganzen Erde zerstreute.

( Rießler: Das Buch der jüdischen Altertümer, Philo 7. Kapitel)


*Zu Philo
"Das Buch stammt nicht von Philo aus Alexandrien. Es enthält eine Darstellung der alttestam. Geschichte bis zu Sauls Tod. So bildet es eine Ergänzung zum 1. Chronikbuch, das in seinem erzählenden Teil mit Sauls Tod beginnt. Der Verfasser will nur erbauen und besonders den Glauben an die göttliche Vorsehung stärken. Er weiß viel von Träumen, Weissagungen, Visionen und Engelserscheinungen zu berichten. Den Opfern und dem Tempeldienst legt er keinen besondern Wert bei. Das Priestergesetz und das Buch Levitikus sind nicht verwertet. Dazu kommt die Abneigung gegen die damaligen Priester (53, 9) und die besondere Beachtung der Edelsteine (26, 10 ff Jos. Bell Jud. II 8, 6). Dies alles spricht für essenischen Ursprung. 
Das Buch enthält viele alte jüdische Überlieferungen (s. M. R. James, The Biblical Antiquities of Philo 1917 IA, L. Cohn in Jewish Quarterly Review X 1898 An apocryphal work ascribed to Philo of Alexandria)" (Rießler Erläuterungen)

19. Esdras drittes Buch 
[überliefert in der Septuaginta vor dem Buch Esra, in der Vulgata nach Nehemia als 3. der Büchr der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft]

3. Kapitel: Der Wettstreit der Leibpagen. Des Weines Macht
1
König Darius gab ein groß Gelage

all seinen Untertanen,
all seinen Haussklaven
und allen Vornehmen von Medien und Persien

2
und allen Satrapen, Heerführern und Statthaltern unter ihm,

von Indien bis nach Äthiopien,
in 127 Satrapien.

3
Sie aßen und tranken.

Nachdem sie voll geworden,
zogen sie sich zurück.
Auch König Darius zog sich in sein Schlafgemach zurück.
Da wachte er wieder auf,
nachdem er schon eingeschlafen war.

4
Die drei jungen Leibwächter hatten aber zueinander gesagt:
5
Jeder von uns soll einen Spruch anfertigen

über das, was das Stärkste ist.
Und wessen Wort sich dann weiser erzeigt
als das der anderen,
dem soll König Darius reichliche Geschenke
und große Siegerpreise verleihen!

6
Er soll in Purpurstoff gekleidet werden,

aus goldenen Bechern trinken,
auf goldenen Betten schlafen,
einen Wagen bekommen mit goldenen Zügeln,
einen Turban aus feinstem Linnen
und ein Halsband tragen!

7
Er soll um seiner Weisheit willen

neben Darius auf dem ersten Platze sitzen
und des Darius Vetter heißen!

8
Nachdem sie jeder seinen Spruch geschrieben,

versiegelten sie ihn
und legten ihn unter des Königs Darius Kissen.

9
Sie sagten:
[248]

Erwacht der König,
dann überreicht man ihm das Schriftstück.
Hierauf erkenne man den Sieg dem zu,
dessen Spruch der König und die drei Vornehmsten Persiens
als weisesten erklären,
entsprechend dem Aufschrieb.

10
Der Erste schrieb:

Der Wein ist am mächtigsten.

11
Der Zweite schrieb:

Der König ist am mächtigsten.

12
Der Dritte schrieb:

Die Weiber sind am mächtigsten.
Doch über alles siegt die Wahrheit.

13
Als der König aufwachte,

nahm man das Schriftstück und gab es ihm.
Da las er es.

14
Hierauf ließ er alle Vornehmen von Persien und Medien,

Satrapen, Heerführer, Statthalter und Oberste berufen.
Dann ließ er sich im Staatssaal nieder
und also ward das Schriftstück ihm vorgelesen.

15
Hierauf befahl er:

Ruft jene Jünglinge;
sie sollen ihre Sprüche selbst erklären!
So wurden sie gerufen.
Nach ihrem Eintritt

16
befahl man ihnen:

Erkläret uns das Aufgeschriebene!
Da fing der Erste also an:
– er hatte von des Weines Macht geschrieben –

17
Ihr Männer! Inwiefern der Wein am stärksten ist?

Er macht die Sinne allen Menschen wirr,
die von ihm trinken.

18
Die Sinne eines Königs macht er gleich

wie die des Waisenknaben,
die eines Sklaven wie die eines Freien,
die eines Bettlers wie die eines Reichen.

19
Gar alle Sinne wandelt er in Lustigkeit und Fröhlichkeit,

läßt alle Trauer, alle Schulden in Vergessenheit geraten.

20
Und alle Herzen macht er reich,

läßt Könige und Satrapen sich vergessen
und alle Reden läßt er in Millionen sich ergehen.

21
Doch Freunde und Verwandte läßt er Freundschaft selbst vergessen,

wofern sie von ihm trinken.
Nicht lange dauert es,
so zücken sie die Schwerter.

22
Erwachen sie jedoch vom Wein,

so denken sie nicht mehr an das,
was sie verübt.

[249]
23
Ihr Männer!

Ist nicht der Wein am mächtigsten,
dieweil er so zu handeln zwingt?
Nachdem er so gesprochen, schwieg er.


4. Kapitel: Des Königs Macht
1
Da fing der Zweite an, zu reden,

der von des Königs Macht geschrieben:

2
Ihr Männer!

Sind nicht am mächtigsten die Menschen,
dieweil sie sich die Erde und das Meer
und alles, was darinnen, unterwerfen?

3
Der König aber ist der mächtigste von ihnen:

denn er gebietet über sie,
und er beherrscht sie,
und sie gehorchen ihm in allem, was er ihnen anbefiehlt.

4
Befiehlt er ihnen, gegenseitig Krieg zu führen,

dann tun sie es.
Und sendet er sie gegen Feinde aus,
alsdann marschieren sie
und zwingen Berge, Mauern, Burgen nieder.

5
Sie morden, und sie lassen ermorden

und handeln niemals gegen den Befehl des Königs.
Und wenn sie siegen, bringen alles sie dem König,
und wenn sie plündern, ausnahmslos das übrige.

6
Und die, die keinen Kriegsdienst tun

und die nicht kämpfen,
vielmehr das Land bebauen,
sie bringen wiederum dem König Gaben,
nachdem sie eingeheimst, was sie gesät.
Sie zwingen ja sich gegenseitig,
dem König Abgaben zu bringen.

7
Er ganz allein ist einzig.

Heißt er sie töten,
so töten sie.
Befiehlt er frei zu lassen.
sie lassen frei.

8
Heißt er sie schlagen,

hauen sie zu.
Befiehlt er zu verwüsten,
verwüsten sie.
Heißt er sie bauen,
so bauen sie.

9
Heißt er vernichten,

vernichten sie.
Befiehlt er anzupflanzen,
so pflanzen sie.

[250]
10
Sein ganzes Volk und seine Heere folgen ihm.

Dabei setzt er sich selber an den Tisch
und ißt und trinkt und schläft.

11
Sie aber halten Wache rings um ihn,

und keiner darf von ihnen sich entfernen
und seine eigenen Geschäfte tun,
noch den Gehorsam ihm verweigern.

12
Ihr Männer!

Wie sollte nicht am mächtigsten der König sein,
weil solch Gehorsam ihm geleistet wird?
Nun aber schwieg er.

13
Nun hob der Dritte an zu reden,

der von den Weibern und der Wahrheit schrieb,
Zorobabel.

14
Ihr Männer!

Ist nicht der König groß?
Sind nicht die Menschen zahlreich?
Ist nicht der Wein so mächtig?
Wer ist nun ihr Gebieter?
Und wer ihr Herrscher?
Sind’s nicht die Weiber?

15
Die Weiber sind es, die den König

und all die anderen hervorgebracht,
die Erd und Meer beherrschen.

16
Geboren, aufgezogen wurden auch von ihnen

all die, die Weinberge gepflanzt, wovon der Wein.

17
Sie sind es, die den Menschen Kleider machen,

sie, die den Menschen Zierat schaffen.
Es können nicht die Menschen leben ohne Weiber.

18
Und wenn sie Gold und Silber

oder andere Kostbarkeiten sammeln,
und sehen sie alsdann ein einzig Weib,
liebreizend durch Gestalt und Schönheit,

19
so lassen sie das alles liegen,

von Gier nach ihm getrieben,
und starren es mit offnem Munde an,
und alle ziehen es bei weitem vor
dem Golde oder Silber
oder sonstigen Kostbarkeiten.

20
Der Mensch verläßt den Vater, der ihn aufgezogen,

und seine Heimat
und hängt sich an sein Weib.

21
Er stirbt, das Weib im Herzen,

und denkt nicht mehr an Vater, Mutter
und nicht mehr an die Heimat.

22
Daran müßt ihr erkennen,

daß diese Weiber euch beherrschen.

[251]

Ja, müht und quält ihr euch nicht ab,
daß ihr den Weibern alles geben und verschaffen könnt?

23
Es nimmt der Mensch sein Schwert,

bricht auf, zieht aus
und raubt und stiehlt,
fährt auf den Strömen und dem Meer.

24
Er sieht dem Löwen in das Auge,

durchzieht die Finsternis
und hat er dann gestohlen und geplündert
oder Straßenraub getrieben,
dann bringt er’s der Geliebten.

25
Es liebt der Mensch sein eigen Weib,

mehr als den Vater und die Mutter.

26
Gar viele kamen schon der Weiber wegen um die Sinne

und wurden ihretwegen Sklaven.

27
Gar viele gingen schon zugrunde

und wurden unglücklich,
ja selbst Verbrecher um der Weiber willen.

28
Glaubt ihr mir deshalb nicht?

Ist nicht der König groß durch seine Macht?
Und hüten sich nicht alle Lande,
ihn zu berühren?

29
Und dennoch sahen sie Apame,

des hochgeehrten Bartakes Tochter,
das Nebenweib des Königs,
wie sie beim Könige zur Rechten saß,

30
das Diadem vom Haupt des Königs nahm,

sich’s selber aufsetzte,
und mit der Linken gab sie selbst dem König einen Backenstreich,

31
indes der König offenen Mundes da saß

und sie nur anschaute.
Wenn sie ihn anlacht,
lacht er auch;
ist sie ihm böse,
dann schmeichelt er,
bis sie ihm wieder gut.

32
O Männer!

Wie sollten nicht die Weiber mächtig sein,
weil sie so handeln?

33
Wie nun der König und die Vornehmen einander ansahen,

begann er von der Wahrheit so zu reden:

34
Ihr Männer!

Sind nicht die Weiber mächtig?
Groß ist die Erde, hoch der Himmel,
und schnell im Lauf die Sonne,
dieweil sie ums Gewölb des Himmels kreist
und wiederum an ihren Ort und an einem einzigen Tage läuft.

35
Ist nun nicht groß, wer solches tut?
[252]

Noch größer und noch mächtiger als alles
ist die Wahrheit.

36
Die ganze Erde ruft nach Wahrheit;

der Himmel preist sie laut,
und das Geschaffene erhebt und zittert insgesamt;
es gibt nichts Unrechtes an ihr.

37
Der Wein ist ungerecht,

der König ungerecht
und ungerecht die Weiber;
die Menschenkinder all sind ungerecht,
all ihre Werke sind ungerecht,
was immer so beschaffen ist.
Nicht ist in ihnen Wahrheit;
vermöge ihrer Ungerechtigkeit gehen sie zugrund.

38
Die Wahrheit aber bleibt,

und sie behält auf ewig Macht,
lebt und behält in alle Ewigkeiten Kraft.

39
Auch ist bei ihr kein Ansehen der Person

und nicht Parteilichkeit;
sie tut vielmehr nur das, was recht,
im Unterschied von allen Bösen, allen Ungerechten.
An ihren Werken haben alle Wohlgefallen.

40
Nicht das geringste Unrecht ist in ihrem Urteil.

Und so gehört ihr denn die Macht,
die Herrschaft, die Gewalt,
die Herrlichkeit zu allen Zeiten.
Gepriesen sei der Gott der Wahrheit!

41
Als er nun aufhörte zu reden,

da riefen alle die Versammelten:
Groß ist die Wahrheit;
sie ist am mächtigsten. –

42
Dann sprach zu ihm der König.

Bitt jetzt, was du nur willst,
noch mehr, als was geschrieben ist!
Wir wollen es dir geben,
weil du als Weisester erfunden wardst.
Du sollst auch neben mir den Platz erhalten,
sowie mein Vetter heißen!

43
Darauf sprach er zum König:

Gedenke des Gelübdes,
das du damals machtest,
als du deine Krone erlangtest;
du wollest nämlich Jerusalem wieder befestigen

44
und alle aus Jerusalem weggenommenen Geräte

wieder zurücksenden.
Sie hatte schon Cyrus ausgeschieden,
als er gelobte, Babel zu zerstören
und sie dorthin zurückschicken zu wollen.

[253]
45
Auch gelobtest du,

den Tempel wieder aufzubauen,
den die Idumäer in Brand steckten,
als Juda von den Chaldäern verwüstet ward.

46
Das ist es nun,

was ich von dir fordere, Herr König,
und um was ich dich bitte.
Das ist die glorreiche Tat,
die du vollziehen mögest.
Ich flehe,
du mögest das Gelübde erfüllen,
das du dem König des Himmels mündlich gelobtest.

47
Da stand König Darius auf,

küßte ihn
und schrieb ihm Briefe
an alle Amtleute, Statthalter, Heerführer und Satrapen,
sie sollen ihm und allen, die mit ihm hinaufzögen,
Jerusalem wieder zu befestigen,
freies Geleite geben.

48
Sodann befahl er schriftlich

allen Statthaltern in Cölesyrien und Palästina,
sowie denen im Libanon,
sie sollen Zedernstämme vom Libanon nach Jerusalem schaffen
und ihm bei der Befestigung der Stadt helfen.

49
Ferner gab er Freibriefe allen Juden,

die aus dem Reich nach Juda hinaufzogen,
daß kein Fürst oder Satrap oder Statthalter oder Beamter
vor ihre Tore ziehen dürfe,

50
daß ihnen das ganze Land, das sie einnähmen,

abgabenfrei gehören solle,
sowie, daß die Idumäer
die judäischen Ortschaften in ihrem Besitz zu räumen hätten,

51
ferner, daß zum Tempelbau jährlich bis zum Ausbau

zwanzig Talente auszuzahlen seien,

52
ferner, daß für die täglichen Brandopfer auf dem Altar,

siebzehn nach Vorschrift,
jährlich zehn andere Talente zu zahlen seien,

53
ferner, daß alle aus Babylonien Zuwandernden

frei sein sollten,
sie und ihre Nachkommen,
desgleichen alle Priester,
die zuwanderten, die Stadt zu gründen.

54
Er gab auch schriftlich Befehl,

den Priestern den Unterhalt und die Dienstgewänder zu liefern.

55
Sodann befahl er,

den Leviten den Unterhalt zu gewähren
bis zu dem Tag, wo der Tempel
und Jerusalems Befestigung vollendet sein würde.

[254]
56
Auch befahl er,

allen Wächtern der Stadt Grundbesitz und Sold zu gewähren.

57
Endlich sandte er alle Geräte zurück,

die Cyrus ausgeschieden hatte.
Er gab überhaupt den Befehl,
alles auszuführen, was Cyrus versprochen,
und es in Jerusalem zu verwirklichen. 

[folgt: Lobgesang Gottes durch den 3. Sklaven]


(Rießler: Buch der jüdischen Altertümer 3 Esdras)

Mit dem Lob der Macht der Frauen vergleiche man den patriarchalischen Ursprung der Welt und des Gottesvolkes Israels, wo alle Abstammung nur in der männlichen Linie zählt, obwohl nach der  Halacha nur der Sohn einer Jüdin als vollwertiger Jude gilt (sieh: Vaterjude), mit dem Lob der Wahrheit das Lob der Liebe bei Paulus 1. Korinther 13)

24 Februar 2023

Heinrich Mann: Im Schlaraffenland

1. Kapitel Der Gumplacher Schulmeister

Im Winter 1893 arbeitete Andreas. Er war fleißig wie ein armer Student, der nicht in alle Ewigkeit auf den Wechsel von zu Hause rechnen kann. Als es aber Frühling ward, ging eine Veränderung mit ihm vor. Während der Osterferien, die er aus Mangel an Reisegeld in Berlin verbrachte, mußte er immerfort an die Freunde denken und an die Fahrten, den Rhein zu Berge. Ein ausgiebiger Vorrat von des Vaters prickelndem Federweißen befand sich im Boot.

Das Heimweh veranlaßte den jungen Mann zum Nachdenken. Er überlegte sich die große Zahl der Geschwister und die schlechte Ernte des vorigen Jahres. Nun, mit dem Weinberg, der nur noch alle sieben Jahre einmal ordentlich trug, würde er nichts mehr zu tun haben. Sein zukünftiges Erbteil ging bei seinem Studium im voraus drauf. Merkwürdigerweise schloß Andreas hieraus nicht, daß er um so schneller auf das Examen loszuarbeiten habe, sondern daß seine Anstrengungen gar zu wenig lohnend seien. Als mittelloser Schulamtskandidat war alles, was er tun konnte: nach Gumplach zurückkehren und auf eine Anstellung am Progymnasium warten. War das eine Zukunft für ihn, Andreas Zumsee, dessen Talent, nach Ansicht aller, zu großen Hoffnungen berechtigt hatte? Mit achtzehn Jahren hatte er Gedichte gemacht, mit denen seine Freunde und sogar er selbst vollkommen zufrieden gewesen waren. Seitdem hatte der »Gumplacher Anzeiger« eine Novelle von ihm gebracht, die ihm die Gunst des Mäzens von Gumplach eingetragen hatte. Es war der alte Herr, den es in jeder kleinen Stadt gibt, und der bei seinen Mitbürgern als harmloser Sonderling gilt, weil er sich mit Literatur befaßt.

Am Ostersonntag besuchte Andreas das Königliche Schauspielhaus, um den ersten Teil des Faust zu sehen. Auf der Galerie zog er sich hinter einen Pfeiler zurück. Er hatte keinen Bekannten in Berlin, schämte sich aber seines billigen Platzes. Seine Eitelkeit legte ihm Opfer auf. Im Zwischenakt stieg er, nicht weil es ihm Freude machte, sondern weil die Selbstachtung es ihm gebot, ins Parkett hinab und drängte sich auf dem Korridor in der guten Gesellschaft umher.

Einmal staute sich der Zug der Wandelnden, weil viele gaffend und horchend zwei bedeutend aussehende Herren umdrängten. Den größeren von ihnen erkannte Andreas sofort wieder; es war der Professor Schwenke, ein Akademiker, der sich eine Ausnahmestellung verschafft hatte dadurch, daß er alles Moderne protegierte. Er trug eine Künstlerlocke auf der Stirn, hielt die Hände in den Taschen seines hellen Jacketts und hatte so große Furcht, pedantisch zu erscheinen, daß er beim Sprechen den Oberkörper stets in einem burschikosen Schwunge erhielt. Sein Gegenüber war einen Kopf kleiner, bartlos, und sein borstiges schwarzes Haar hing über einem Halskragen von zweifelhafter Weiße. Er hatte eine Adlernase und gelblederne Gesichtshaut, und sein zu weiter Gehrock reichte bis unter die Knie hinab. Andreas war sehr begierig zu wissen, wer diese Persönlichkeit sei, die äußerlich zwischen Clergyman und Konzertvirtuosen ungefähr die Mitte hielt. Ein Herr, der von fern dem Kleinen winkte, rief:

»Herr Doktor Abell!«

»Sollte das Abell sein?« dachte Andreas, »der Kritiker des ›Nachtkurier‹?«

Er konnte es kaum fassen, daß man die großen Männer, die im Reich der Begriffe lebten, hier in der Wirklichkeit wiederfand. Sein Herz schlug höher, und er schaute sich argwöhnisch um, ob man ihm etwas anmerke. Denn er wollte um keinen Preis naiv aussehen. [...] 

Heinrich Mann: Im Schlaraffenland 1. Kapitel Der Gumplacher Schulmeister

8.Kapitel

"[...] Frau Türkheimer fand diesen einsamen Mönch fürchterlich wie eine Erscheinung. Bei seinem Anblick wickelte sich eine rasche Folge von Schreckensvorstellungen in ihr ab, die sie der langjährigen Lektüre des »Nachtkurier« und des »Kabel« verdankte. Denn ihr und den aufgeklärten Lesern dieser Zeitungen war es nicht genau bekannt, ob es noch Mönche gäbe, und sie hielten die katholische Kirche für ein Gespenst des finsteren Mittelalters, das dann und wann aus verschütteten Gräbern aufstand, um gräßlich mit Ketten zu rasseln. Sobald sie sich daher ein wenig erholt hatte, dachte Adelheid daran, ungesehen zu entkommen. Sie mußte ein verkehrtes Zimmer betreten haben, vielleicht befand sie sich auch in einem falschen Hause. Aber der Anblick einer Locke, die über die braune Kapuze fiel, hielt sie in ihrem Rückzüge auf. Das war doch Andreas' Haar? Der Mönch hob langsam den Kopf. Sein Auge war geschlossen, aber sie erkannte sein Profil, das sich blaß aus der Dämmerung heraushob. Ganz leise, noch ein wenig zitternd, schlich sie zu ihm hin und legte weich ihre Hand auf seinen Kopf. Er schlug die Augen auf, noch immer in Gedanken.

»Wie hast du mich erschreckt!« flüsterte sie.

»Dich erschreckt? Wodurch?« fragte er lächelnd. Er stand auf und schob ihr einen Stuhl hin.

»Du meinst, mit meinem Gewand? Aber das ist ja mein Arbeitskleid.«

»Trägst du immer solchen Schlafrock?« fragte Adelheid unschuldig. Er war gekränkt.

»Das könnt ihr natürlich nicht begreifen, wie wichtig für uns der Rock ist, in dem wir am Schreibtisch sitzen. Meinst du, daß ich im Frack dieselben Gedanken habe, die mir in der Kutte kommen?«

»Gewiß nicht!« beteuerte Adelheid. Andreas' Benehmen befremdete sie ein wenig, aber es war doch recht interessant. Bedeutende Menschen mußten solche Marotten haben, und die seinige war eigentlich schick.

»Ich verstehe dich, Andreas«, sagte sie, »und ich kann mir jetzt schon denken, wie du dichtest.«

»Ich dichte katholisch«, erklärte er in bestimmtem Ton, den Blick auf die matterhellte Fensterscheibe gerichtet. Adelheid sah von dem blutigen Christus, der aus der Dunkelheit immer beängstigender hervorschien, auf Andreas' braune Kutte, und ein Schauer von Grauen und von Wohlbehagen durchrieselte sie. Sie war sehr zufrieden damit, daß sie unter den vielen jungen Leuten, die in ihrem Hause verkehrten, gerade diesen auf den ersten Blick ausgewählt hatte. Weder Frau Mohr noch Frau Bescheerer noch Lizzi Laffé noch irgendeine hatte je so etwas gekannt. Er war würdig, von ihr geliebt zu werden. Übrigens stand ihm seine Kutte gut, sie gab ihm etwas Schwärmerisches.

Sie neigte sich zu ihm, legte ihren Arm auf den seinigen und sah ihm zärtlich in das Gesicht, das von Denken und Askese gebleicht schien. Das gute Leben der letzten Tage hatte die Folgen der billigen vegetarischen Ernährung zur Zeit des »Café Hurra« und der zahlreichen durch stramme Haltung ersetzten Mittagsessen noch nicht beseitigt. Adelheid sagte:

»Du fragst gar nicht, warum ich mich verspätet habe? Ich konnte nichts dafür. Wenn du wüßtest.«

»Du kannst zu jeder Stunde kommen, die dir gefällt. Ich muß immer dafür dankbar sein«, versetzte er, doch in einem Ton, aus dem sie heraushörte: »Wenn es sein muß, verzichte ich auch ganz darauf.«

»Du hast es hier aber heiß«, sagte sie, und sie warf ihre Büste herausfordernd zurück. Ihre Finger nestelten an den Knöpfen. Er ließ einen gleichgültigen Blick über ihre Brust gleiten, die den Stoff zu sprengen drohte, doch damit begnügte er sich. Adelheid fühlte sich verschmäht, und sie empfand solchen Schmerz über seine Kälte, daß sie aufseufzend nach ihrem Herzen griff.

»Mir wird unwohl«, flüsterte sie.

Andreas fing sie auf, doch ließ er sie sofort aus seinen Armen zurück in den Sessel gleiten. Er sah sich nach dem Sofa um, aber er fand es unmöglich, Frau Türkheimers Last bis dorthin zu tragen. Adelheid sah dies selbst ein, sie richtete sich auf. Um seine Haltung zu bewahren, zündete Andreas die Lampe an.

»Soll ich das Fenster öffnen?« fragte er.

»Ach, laß nur, wir wollen plaudern. Hast du noch an ›Rache!‹ gedacht? Wie dir der dritte Akt gefallen hat, weiß ich noch gar nicht. Und die Kritiken, die Klempner bekommen hat! Hast du Abell gelesen?«

Sie redete hastig, um ihre Angst zu betäuben. War sie zu alt, wirklich zu alt für ihn? Verschmähte er sie?

»Nun ja, Abell! Ich finde, er schwatzt Unsinn«, erklärte Andreas. Er holte den »Nachtkurier« herbei und las die Schlagwörter heraus, die er in aller Eile ein wenig parodierte:

»Ein neuer Stern ist aufgetaucht, der manchen unserer dramatischen Epigonen aus dem Felde schlagen dürfte ... Geniale Synthese einer differenzierten Gesellschaftspsychologie ... Napoleonische Bewegung der Massen ... Überlegener sozialer Gerechtigkeitssinn ...«

Andreas setzte sich in Positur und ahmte die elegante Handbewegung des Doktor Bediener nach.

»Daß wir im politischen Teil 'ne gesunde liberale Wirtschaftspolitik pflegen und auch für den niederträchtigsten Fabrikdirektor voll und ganz eintreten, versteht sich von selbst. Wir wären verrückt, wenn wir es nicht täten. Aber im Feuilleton nehmen wir Stellung für die Unterdrückten, wegen unseres überlegenen sozialen Gerechtigkeitssinnes, wissen Sie wohl. Wir betrachten uns nämlich als ein Organ der deutschen Geisteskultur.«

Er hob die rechte Braue, als ob er ein Glas aus dem Auge fallen ließe, und die Sprechweise des Chefredakteurs war gar nicht zu verkennen. Adelheid zeigte sich entzückt, sie klatschte in die Hände.

»Du kannst aber auch alles«, sagte sie zärtlich.

Andreas war geschmeichelt. Abells Kritik hatte ihm zwar eigentlich ungemein wohlgefallen, weil er sie mit Gefühlen las, als sei es schon die Rezension seines eigenen, zukünftigen Werkes. Aber einen Lobgesang auf Klempner in Adelheids Gegenwart angestimmt zu hören, das widerstrebte ihm durchaus.

»Es ist wahr«, meinte sie. »Man muß so etwas nicht ernst nehmen. Die Blätter ulken eigentlich alle.«

»Und Klempner?« fragte Andreas. »Findest du ihn besonders nobel? Er hat die ganze Zeit an deinem Tisch und an den Tischen anderer reicher Häuser gesessen, während er heimlich damit beschäftigt war, die besitzende Klasse verächtlich zu machen und in den Schmutz zu zerren. Was sagst du dazu? Ich sage pfui!«

»Und das mit Recht! Oh, du bist edel!«

In ihren Kreisen hatte noch niemand an das gedacht, was Andreas aussprach. Sie sah ihn ganz erstaunt an. Sein sittliches Feingefühl erfüllte sie mit aufrichtiger Bewunderung.

»Du bist edel!« wiederholte sie, und sie dachte:

›Ah! Er wäre nicht imstande, mich zu verkaufen, wie Ratibohr es getan hat.‹

Dieser Erfolg entwaffnete Andreas. Er verzieh Adelheid den allzu flehentlichen Brief, den er ihr geschrieben, und die Stunde, während der er sie erwartet hatte. Sie würde es nie mehr als eine Gnade ansehen, wenn sie ihn besuchte, er hatte sie gestraft und durfte jetzt von seiner Zurückhaltung schon ein wenig ablassen. Er rückte ihr daher auf seinem Stuhl so nahe, daß seine Knie sich eng gegen die ihrigen preßten, er legte eine Hand um ihre Taille und flüsterte:

»Wie lieb kannst du sein! Sei immer so mit mir, bitte!«

»Du bist edel«, wiederholte sie, hingerissen von den Liebkosungen seines Mädchenblickes und seiner weichen Stimme.

»Ist dir jetzt nicht mehr heiß?«

»Nein.«

»Wirklich nicht?«

»Wirklich nicht.«

»Ich glaube doch, ein kleines bißchen?«

Sie tat, als wehrte sie ihm, wie er sich an ihren Knöpfen zu schaffen machte, aber vor Wohlbehagen ließ sie ein leises Gurgeln hören. Seine Hände besaßen einige natürliche Geschicklichkeit. Ihre ungeübten Zärtlichkeiten waren wohl etwas täppisch, aber so spaßhaft, daß man sie ihr schwer verübeln konnte. Er machte sich ganz klein vor Adelheids üppigen Reizen und sah so ungefährlich aus wie ein kleiner lasterhafter Junge, der frühzeitig mit seiner Amme Scherz treibt.

»Oh, Andreas«, seufzte sie, als sie bereits schwer in seinen Armen lag, ganz verwundert, daß es nun schon so weit gekommen sei.

»Ich liebe deinen Hals«, sagte er, und seine Küsse zwangen sie, den Kopf immer weiter zurückzulegen, bis seine genußsüchtigen Lippen von unten her über die breite Fläche ihres fleischigen Doppelkinns glitten, dessen weiße, zarte Haut ihnen schmeichelte. Zu innig ihren Gefühlen hingegeben, um an etwas zu denken, sagte sie nochmals:

»Du bist edel.«

»Du hast eine schöne Kinnlinie«, sagte er, indem er sie weiter auf seinen Schemel herüberzog, der umzuschlagen drohte.

»Du bist edel«, wiederholte sie, und damit glitten sie, ein wenig heftig, so daß es fast ein Sturz war, auf das schmale Schülerbett, das die ungewohnte Last nicht ohne beträchtliches Ächzen empfing. Das war alles. Andreas hatte es sich nicht so einfach gedacht.

Als sie einen Augenblick zur Besinnung kamen, wollte er die Kutte abwerfen. Adelheid hielt seinen Arm fest.

»Laß das!« befahl sie, und sie meinte, er müsse ihr die teuflische Lust ansehen, vor der ihr selbst beinahe graute. Denn sie fand ein ungeahntes Vergnügen daran, den Mönch zu lieben. Noch nie war sie von einer solchen verheerenden Leidenschaft erfüllt gewesen. Jetzt begriff sie den Satanismus und die Magie, den Sadismus und noch andere Perversitäten, von denen sie hatte erzählen hören. Keine ihrer Bekannten, nicht einmal Frau Pimbusch, die doch mit allen möglichen Infamien prahlte, konnte je so etwas erlebt haben. Sie stützte den Kopf in die Hand und betrachtete Andreas mit der entsetzensheißen Begehrlichkeit einer Sphinx.

Er war weit davon entfernt, sie zu verstehen. Doch war auch sein Vergnügen unerwartet groß, und er sank in Adelheids Arme zurück, noch bevor sie ihn riefen. Das erste, was aber aus der vollständigen Hingabe seines Willens an die geliebte Frau wieder emportauchte, war seine Eitelkeit. Er setzte sich im Bette auf.

»Ich habe dir noch gar nicht meine Gedichte vorgelesen«, sagte er.

»Ach ja!«

Sie unterdrückte ein Gähnen, indem sie ihn gewähren ließ. Doch dann ward die ausschweifende und verderbte Phantasie, die sie erst heute in ihrer Seele entdeckt hatte, von neuem genährt durch den Anblick des bleichen Dichters im Mönchsgewand, der sie, die in Sünden Geliebte, mit den Rosen seiner Poesie überschüttete. Er las mit schneidender Stimme und feierlicher Gebärde. Dann stellte er Fragen.

»Wie gefällt dir diese Nuancierung der Gefühle? Empfindest du nicht die behutsamen Schauer dämmernder Düfte, Farben und Töne?«

Adelheid zeigte sich gelehrig. An der richtigen Stelle warf sie ein Lob dazwischen.

»Sehr nett!« sagte sie. »Schick! Ganz reizend!«

Endlich zog sie ihn, wie ein Kind, das lange genug gespielt hat, wieder an sich. Er fiel so ungeschickt, daß seine Dichtungen, wie matte Schmetterlinge, hinab und über den Fußboden flatterten.

Dann erklärte er alles, was er bisher gelesen habe, für überwunden.

»Es ist nicht immateriell genug, wir kehren zum ganz Einfachen und Idealen zurück«, sagte er.

»Oh, du bist ein Sonnenkind, du siehst alles durch eine goldene Brille an.«

Er begann eine Ode »An die Reue« vorzutragen. Sie bemerkte:

»Es erinnert an Schiller.«

»Soll es auch«, erklärte Andreas.

Sie lauschte. Aber allmählich wurde das Wogen ihrer Brust angstvoller, und sie seufzte.

»Oh, du machst mich ganz traurig!«

Die hehren Klänge seiner neuesten Poesie hatten ihr Herz erschüttert. Sie kniete, den Kopf in die Kissen vergraben, so daß ihre Hüften unter der Decke berghoch aufragten, und sie schluchzte krampfhaft. Er bemühte sich, die Magdalena zu trösten; ihre Buße, die ein Werk seines Dichterwortes war, rührte ihn.

»Adelheid, wir lieben uns doch!« sagte er.

»Unsere Liebe ist Sünde!« stöhnte sie, von großen Tränen erstickt.

Die Stimmung überwältigte ihn, ihre Reue teilte sich auch ihm mit. Er vergaß Ratibohr und die lange Reihe ehemaliger Liebhaber, die er sich sonst im Schatten von Frau Türkheimers Vergangenheit vorgestellt hatte. Nur seinetwegen war sie vom rechten Weg abgewichen, und in diesem schmeichelhaften Bewußtsein weinte er mit der Geliebten. Die Schauer ihres sittlichen Pathos waren bestimmt, in einer neuen Umarmung auszuzittern. [...]"

Heinrich Mann: Im Schlaraffenland, Kapitel 8: "Rache!"