29 März 2023

John Knittel: Via Mala

 John Knittel: Via Mala

Das Buch habe ich vor gut 60 Jahren erstmals im elterlichen Bücherregal gesehen, kaum etwas damit verbinden können, Dann gelegentlich die Via Mala als Straße nennen hören. Heute ist mir der Roman in einem öffentlichen Bücherregal in die Hände gefallen und vermutlich erstmals habe ich die Schreibweise Viamala kennengelernt und ein Foto der Schlucht gesehen. 

Um dieselbe Zeit wurde mir auch der Name Friedel Starmatz geläufig. Das Exemplar des Buches, das ich jetzt erstmalig gelesen habe, stammt aus demselben öffentlichen Bücherregal wie "Via Mala".

Wikiquote zitiert aus dem Roman: 

"Hinter allem menschlichen Leid türmen sich Berge von Unwissenheit, riesige schwarze Wolken falschen Denkens, gespenstische Schwäche des Fleisches." - Via Mala. W. Krüger 1960. S. 89

Die Seitenzählung ist dieselbe wie die der mir vorliegenden Ausgabe. Dort heißt es zur Beschreibung der "Wohnstatt" der Familie der Protagonisten:

"Im Monat August, wenn die schrägen Strahlen der Sonne in diesem Winkel des Thales fielen, war die ganze Wohnstadt gleichsam eingehüllt in die schimmernden Schleier eines Regenbogens, und zuweilen umgrenzte eine siebenfarbig leuchtende Aureole von Licht das hohe graue Haus. Überall wuchs zolldick das Moos, der Boden des benachbarten Waldes war weich und mit Feuchtigkeit durchtränkt und gab schwappend unter jedem Schritte nach. [...] Die steilen Hänge an der gegenüberliegenden Seite des Tales waren dicht bewaldet bis hinauf zu den hochragenden dunklen Felsen, die hier und dort in scharfkantige Stücke zerfallen waren. Etliche dieser haushohen Blöcke waren ins Tal gerollt – wann, das wusste niemand, denn die Natur dort oben war alt, sehr alt, viel älter als der Mensch und sein Gedächtnis." (S.5/6)

"Lauretz war ein massiger Kerl, der viel mehr Gewicht am Leibe trug, als die Natur ihm eigentlich zugedacht hatte. Kopf und Nacken waren fast zu einer einzigen Masse verwachsen, das runde Kinn und die kantige Nase, die auffälligsten Partien seines Gesichtes, leuchteten purpurrot. Der struppige, dichte Schnurrbart und das kurzgestutzte Haar auf seinem runden Kopf verliehen ihm einen Ausdruck zügelloser Rohheit, und seine blauen, hervorstehenden, trotz aller Lebhaftigkeit finsteren Augen verrieten deutlich die unersättliche Sinnlichkeit des Mannes.

Seine Körpergröße und seine Kraft gaben ihm das Gefühl despotischer Überlegenheit. Er war der unumschränkte Herr und Meister der Via Mala. Jeder seiner Blicke war ein Befehl oder eine Drohung. Seine Frau und seine Kinder waren seine Sklaven und kannten keinen Herrn außer ihm. Sie verstanden den Sinn seiner Blicke, seines Nickens, seine Handbewegungen, und sie zitterten, wenn er seine Stimme erhob, denn er war der ungerechteste aller Herren, nie zufrieden, nie dankbar, aber stets auf dem Sprung, Strafen zu verhängen und anderen Menschen weh zu tun. Es machte ihm anscheinend Spaß, jeden, der ihm in die Nähe kam, zu quälen. Er war der König, der Prophet und das Orakel des Tales. Rundweg leugnete er alle menschlichen Beziehungen zu einem Gott. Er behauptete sogar, ein Geschöpf des Teufels zu sein, und seine finstere Seele veranlasste ihn, sich mit dem Satan zu verbinden und sich öffentlich dieser Freundschaft zu rühmen. Oft, sagte er, er sei dem Teufel begegnet, besonders zu den Zeiten, da die frommen Christen Weihnachten oder Ostern feiern. Sobald diese Tage heranrücken, kannte Lauretz' wüstes Benehmen keine Grenzen mehr. Wenn die paar Anwohner aus dem höher gelegenen Teil des Tales in ihrer besten Sonntagstracht sich auf den langen Weg ins Tiefland machten, um in der Kirche von Andruss, dem Hauptort dieser katholischen Bergpfarrei, bei dem Erlöser der Welt Trost zu suchen, sah man Lauretz am Straßenrand stehen. Er hielt die Vorübergehenden an und erzählte ihnen, dass er die ganze Nacht über an der und der Stelle mit dem Satan beisammen gewesen sei, und der Satan habe ihm die höllische Freiheit gewährt. Sie seien Dummköpfe sagte er, dass sie auf die Pfaffen und sonstige Blutsauger hörten, und manchmal hielt er seinen Nachbarn die Faust unter die Nase, sie sollten sich bloß unterstehen und behaupten, dass der Satan nicht allmächtig sei. Niemand aus seiner Familie durfte in die Kirche gehen." (S.11/12)

Lauretz kommt ins Gefängnis und die Familie bekommt Lebensmut. Sie überlegen sich, wie schön es wäre, wenn er dauerhaft nicht da wäre. 

Niklaus sagt: "Wir haben schon viel zu lange gewartet", sagte er und zog dabei seine Worte bedächtig in die Länge, wie es seine Gewohnheit war, wenn er jemand überzeugen wollte. "Wir haben die Gelegenheit verpasst, als die Zwillinge oben lagen wie zwei steifgefrorene Puppen. Einer von uns hätte aufstehen müssen und sagen, er hat gesehen, wie der Alte es getan hat." (S.122)

19. Kapitel

"Obgleich die Sorgen mannigfach waren, obgleich sie sich mit vielen Befürchtungen quälte, und obgleich ihre Handlungsfreiheit durch die aus dem Prozess herrührenden kleinen Eingriffe der Gerichtsbarkeit beschränkt war, begann die Familie Lauretz mit geringerem Bangen als bisher in die Zukunft zu blicken. Niklaus arbeitete mit über menschliche Energie. Von früh bis abends war er im Schuppen. Tagaus, tagein schnarrte die Säge und lieferte ganze Türme von Brettern. Niklaus aber schuftete nicht für seine eigene Rechnung, sondern für Bolbeiß und Schmid. Das ließ sich nicht ändern. Auf der Gläubigerversammlung war es so beschlossen worden, und die Gläubiger hatten das Gesetz auf ihrer Seite." (S.124)

"Noch nie hatte in der Sägemühle so viel Ordnung geherrscht. Es wurde mit einer ganz ungeheuerlichen Energie und Tatkraft gearbeitet. Niklaus fühlte sich voll Stolz als sein freier, eigener Herr.

"Und wenn der Alte nach Hause kommt", sagte er manchmal, "wird er auf jeden Fall große Augen machen, obschon das Geschäft noch nichts eingetragen hat."

Aber es verging keine Minute, ohne dass nicht der Gedanke an die Rückkehr des Alten ihn wie ein Gespenst verfolgte.

"Schau her, Jöry sagt er er immer wieder. "Schau dir jetzt meine Armmuskeln an! So sieht das aus, wenn man genug zu essen hat!" [...]

Frau Lauretz führte jetzt im Vergleich zu früher ein fast behagliches Leben. Das Nötigste war vorhanden, und der Haushalt begann ihr Freude zu machen. Mit einem wahren Feuereifer ging sie daran, Ordnung und Sauberkeit zu schaffen. Von früh bis abends scheuerte, wusch und fegte sie. Die alten Küchengeräte waren auf Silvelies Vorschlag in Jörys schmutzige Hütte gewandert, ebenso einige Kleinigkeiten aus dem Haushalt, so dass nun auch die Familie Wagner sich mit einem unerwarteten Wohlstand gesegnet sah." (S.126)

Silvelie wird Magd und Modell bei dem Maler Matthias Lauters.

"Silvelie verließ mit einem kleinen Körbchen das Haus und ging Blumen pflücken. Mit besonderem Eifer suchte sie Enzian, den sie liebte, diese wunderbaren, kleinen, samtenen, blauen Kelche, die fast so blau waren sie ihre Augen. Unterwegs pflückte sie zarte fFarnkräuter, die auf dem Moosbeeten zwischen den Felsblöcken wuchsen, und während sie neben dem Bach einherschlenderte sammelte sie einen kleinen Strauß Vergißmeinicht, die so blau waren wie der Himmel an diesem Tag, kühl und feucht und von köstlichem Duft. [...]

Was es auch sein mochte, man konnte nicht leugnen, dass sie in den zehn Wochen, die sie nun im Schlösschen Meister Lauters' als seine Dienstmagd, sein Faktotum, seine Leibwächterin, seine Pflegerin, seine Gehilfin, seine Privatsekretärin, sein Modell und zuweilen sogar als seine Kritikerin verbracht hatte, ein ganz anderer Mensch geworden war und sich sehr zu ihrem Vorteil verändert hatte.

Es war nicht sehr anstrengend, Matthias Lauters' Dienstmagd zu sein. Er aß nur sehr wenig und nur ganz einfache Sachen. Wenn sie das Essen auch noch so gut zubereitete, er aß nie mehr als ein paar Bissen. (S. 128/129)

Lauters will mit ihr nach Italien reisen, doch sie fühlt sich für ihre Familie verantwortlich, um ihnen das Los unter dem grausamen Vater leichter zu machen. 

Da verzichtet er auf die Reise, er malt ein überlebensgroßes Aktbild von ihr zwischen Gräbern. "Tod und Schönheit, nichts anderes mehr war in seinem Leben geblieben." (S.134)  

Über das Bild sagt er:  "Dieses Bild ist ein Testament. Nach meinem Tod wird man es lesen, einige wenige werden es vielleicht  verstehen, aber die meisten werden darüber lachen. Das macht nichts." (S.138)

Sie sorgt sehr für ihn, als er stirbt, aber versteckt sich und wagt nicht, sich zu zeigen, als seine Verwandten zu seiner Beerdigung kommen. Dabei war es, solang er lebte, ihre Aufgabe, ihn vor seiner Angst, seine Vettern könnten kommen, zu schützen. ("Leibwächterin") (S.138-46) 

Als Lauretz aus dem Gefängnis kommt, ist er sehr abgemagert und trinkt nach der strapziösen Entziehungskur im Gefängnis zunächst nichts. Doch auf Silvelies Versuch, ihm mit Liebe zu begegnen, reagiert er abweisend und mürrisch. (Kap.24 S.147-151)

Klaus, Hanna und ihre Mutter beschließen, ihn zu töten, weil er sonst ihre Leben vollends zugrunde richten werde. Ein konkreter Anlass ist, dass Lauretz seine Tochter Silvelie um das  vom Maler Lauters geerbte Geld bringt.

Kurz vor der Tat sagt Hanna zu Niklaus:

"Wenn er bloß nie wieder nach Hause käme! Nie wieder! Ich denke jetzt genau wie Silvelie. Er soll das Geld behalten, und wir sagen ihm, wir wollen ihn nicht mehr hier haben. Aber das da! Das da! Herr Jeses. Gott im Himmel! Wenn Silvelie es erfährt! Nein, ich könnte das nicht ertragen. Ich habe sie viel zu lieb."

"Dumme Gans!" sagte er. "Wir tun es doch ihretwegen!"

"Nein, nein! Unseretwegen!"

"Und warum auch nicht?" stieß er hervor. "Niemand wird etwas davon erfahren. Muss ich jetzt wieder ganz von vorne anfangen, nachdem wir uns längst entschlossen haben?"

"Es ist scheußlich, Niklaus, der Alte ahnt nichts – er wird nach Hause kommen und sich nicht wehren können."

"Soll ich ihn vielleicht warnen? Es ist gerecht so! Gerecht! Viele Jahre lang haben wir ihn ehrlich abgeurteilt und ihm schuldig befunden. Jetzt, wo das Urteil vollstreckt werden soll, kommt ihr Weiber mit moralischen Bedenken. Hol's der Teufel! Ich hab mir's feierlich geschworen, als er mich damals in Andruss geschlagen hat. Hundertmal hab ich mir's feierlich geschworen. Ich will endlich Ruhe haben." (S.180)

Nach der Tat sagt Hanna zu Nikolaus:

"Du sollst es nicht allein tun! Ich bin mit dabei! Ich mache es genauso wie du!"

Mit geschlossenen Augen beugte sie sich über den Körper ihres Vaters und stach wie eine Verrückte blindlings zu. [...] Das Messer entfiel ihren Händen. Frau Lauretz packte es. Sie stand neben ihnen.

"Ich habe euch geboren", sagte sie und blickte auf sie nieder.

"Ich tue es als Liebe zu euch! Ihr sollt nicht sagen, dass ich euch in diesem Augenblick im Stich gelassen habe!" (S.188)

Inhalt laut Wikipedia:

Der Ruf der einstmals angesehenen und wohlhabenden Familie ist mittlerweile völlig ruiniert, der alte Lauretz hat Schulden, Geschäfte will niemand mehr mit ihm machen, sein unmoralischer Lebenswandel und seine Gewalttätigkeit sind weithin bekannt.

Um seine Ausschweifungen bezahlen zu können, verwehrt er nicht nur seiner Familie eine ausreichende finanzielle Unterstützung, er bestiehlt auch seine eigenen Kinder, wenn sie unerwartet zu etwas Geld gekommen sind. Eine viermonatige Haftstrafe wegen verschiedener Vergehen bringt ihn nicht zur Räson – kaum entlassen, unterschlägt er einen grösseren Barbetrag, den seine jüngere (noch nicht volljährige) Tochter Silvia von einem Maler geerbt hat, für den sie eine Weile Magd, Modell und Vertraute war.

Dieses Ereignis führt zu dem zweiten „schlechten Weg“: Niklaus, Hanna, Jonas' Ehefrau und der Tagelöhner Jöry Wagner, den Jonas Lauretz ebenfalls um Geld betrogen und mit dessen Frau er ein Verhältnis hatte, töten ihn gemeinsam, als sich zeigt, dass die Haft ihn nicht gebessert hat und er seine Familie weiterhin quält, die Leiche wird verscharrt. Wagner erhält eine Geldsumme und verschwindet aus der Gegend. Die jüngere Tochter, die zur Tatzeit nicht anwesend ist, erfährt nach ihrer Rückkehr von der Tat. Obwohl sie diese entschieden ablehnt, verhält sie sich solidarisch zu ihrer Familie und belügt die Untersuchungsbehörden, denen gegenüber Jonas Lauretz als vermisst angezeigt wird.

Es folgen Jahre der Angst, der Gerüchte, der Unsicherheit, ob die Behörden den Fall abschliessen werden oder nicht – so hindern die Kinder ihre Mutter mit Gewalt daran, in die Kirche zu gehen, weil sie befürchten, sie würde den Mord beichten. Schließlich kommt es sogar so weit, dass sie sich bewusst den Mund mit einem glühenden Schürhaken verbrennt, in der Hoffnung, dass die Kinder sie dann, da sie ja nicht sprechen kann, in die Kirche gehen lassen würden.

Es sind aber auch Jahre, in denen es der Familie dank ihres Fleisses deutlich besser geht als zuvor und in denen sie sich neues Ansehen erwirbt. So gelingt es Niklaus, die Schulden des Vaters zu bezahlen und einige gewinnträchtige Aufträge für die Sägemühle zu erhalten; seine Schwester Hanna lernt einen jungen Postbeamten kennen, dessen Eltern sich zunächst gegen eine Verbindung mit der Tochter des verrufenen Sägemüllers wehren, angesichts des langsamen, sozialen Wiederaufstiegs der Familie Lauretz jedoch bald ihre Vorurteile ablegen.

Verkompliziert wird die Angelegenheit, als sich Silvia in den Untersuchungsrichter Andreas von Richenau verliebt, den sie an ihrer Arbeitsstelle als Kellnerin kennenlernt. Sie bringt es nicht über sich, ihm die Wahrheit zu sagen [...]

Silvia spricht: "Ich bin nicht die, für die du mich hältst", sagte sie ruhig. "Und eines Tages wirst du es merken. Du bist so klug, und ich bin so dumm. Du bist so reich, und ich bin arm. Du bist ein Richter, du gehst zur Kirche. Ich kenne keine Gesetze, und die Kirche ist für mich nur ein Gebäude. [...] Du bist in einem Schloss aufgewachsen und hast auf Universitäten studiert. Ich bin mein ganzes Leben lang im Geschäft gewesen – am Ende der Welt. [...] Ich bin mit katholischen Kindern zur Schule gegangen, die mich an spuckten und mir sagten, nach dem Tode würde Gott ein Huhn als mir machen. [...] "Nein, Andy! Für dich mag es leicht sein, dir vorzustellen, ich könnte meiner finsteren Vergangenheit für immer den Rücken kehren und in deinen Armen die Rettung finden. Aber gerade mein Elend hält mich davon ab, einen so leichten Schritt zu tun, ich will nicht vor meinen Sorgen und meinem Kummer davonlaufen. Ich will Ihnen die Stirn bieten. Mein Leben wird nicht glücklich sein, wenn ich es nicht fertigbringen kann, der Ungerechtigkeit und dem Elend entgegenzutreten und sie zu bekämpfen. Ich werde nicht ruhen, bevor nicht den Kindern in den Schulen beigebracht wird, daß es töricht ist, andere Kinder anzuspucken, die nicht an ihre Idole glauben. [...]"

Andreas von Richenau antwortet:
"Das Schlimmste heutzutage ist, dass jeder etwas anderes sein will, dass keiner das bleiben will, was er ist, dass jeder seine Ideen dem anderen aufzwingen will. Nimm zum Beispiel meinen alten Vater. Er hat ganz vergessen, dass ja eigentlich nichts weiter zu sein hätte, als ein Grundbesitzer, ein Bauer, und er hat sich jetzt mit industriellen und Händlern verschwistert. Er ist Protestant, unterstützt aber eine politische Partei, die von Katholiken geführt wird. [...] Die großen Missstände in unserer heutigen Welt sind alle in den Städten entstanden. Aus den Städten kommt nichts als Verwirrung.[...]" (S.369/ 370)

Andy bitte bietet Nikolaus an, ihm ein Kapital zu geben "Ein kleines Kapital wird ihm auf die Beine helfen, und ich bin entschlossen, ihm etwas zu leihen". (S. 385)

Silvia versucht der Ehe auszuweichen, vor der Heirat spielt sie mit dem Gedanken an Selbstmord, um Andreas nicht weiter zu hintergehen. Schließlich aber spricht sie sich vor, sie sei unschuldig und willigt in die Heirat ein. (S.385-416)

Inhalt laut Wikipedia:

Auch hier wird wieder ein „schlechter Weg“ eingeschlagen – das Glück der Eheleute wird durch das dunkle Geheimnis Silvias und ihre unregelmässig wiederkehrenden Gewissensbisse und Depressionen getrübt.

Schliesslich landet nach wenigen Jahren unverhofft die Akte des vermissten Jonas Lauretz auf dem Schreibtisch von Richenaus. Er entdeckt in ihr einige Ungereimtheiten und schöpft den Verdacht, dass es bei dessen Verschwinden nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Obwohl er, da es sich um die Familie seiner Frau handelt, den Fall eigentlich an einen Kollegen abgeben müsste, ist seine Neugier geweckt. Er beginnt Nachforschungen anzustellen, versucht auch, von Silvia Antworten auf seine Fragen zu bekommen, was die bis dahin glückliche Ehe in eine tiefe Krise stürzt. Schliesslich konfrontiert er die Familie Lauretz mit seinem Verdacht und setzt sie unter Druck, woraufhin er von Hanna und Niklaus die Wahrheit, aber auch das ganze Ausmass des durch Jonas Lauretz verursachten Elends erfährt.

Andi von Richenau schlägt nun eine Richtung ein, die, je nach Betrachtungsweise, ebenfalls als ein „schlechter Weg“ angesehen werden kann. Nach langem Ringen entschliesst er sich, seiner Berufsethik und dem hohen persönlichen Risiko zum Trotz, seinerseits den Mord zu decken: Er präsentiert den Fall seinem Vorgesetzten so geschickt, dass dieser ihm die Anweisung erteilt, die Sache abzuschließen – Jonas Lauretz wird als verschollen erklärt.


Wie Silvia, bevor sie sich entschließt, Andi zu heiraten, denkt auch Andi für den Fall, dass erkannt wird, dass er den Mord vertuscht hat, an Selbstmord, ist bei dem Volksfest der Glockeneinweihung in großer Unruhe. Dann:

"Sivvy?"
Der Klang seiner Stimme ließ sie zusammen schrecken. 
"Ja, Andi?"
Er zögerte, sagte dann fast flüsternd: 
"Präsident Gutknecht hat unterschrieben!"
Er fühlte, wie ihre Finger plötzlich gewaltsam seine Hände pressten. Er hörte sie tief Atem holen, es war wie ein Seufzer. Sie blickte durchs Fenster nach den Sternen, dann wandte sie sich wieder zu ihm.
"Hast du es den anderen schon gesagt?"
"Nein", sagte er, "du sollst es ihnen morgen früh selbst mitteilen."
Er schwieg einen Augenblick dann sagte er:
"Du weißt, warum ich es getan habe, Sivvy?"
"Warum?" murmelte sie
"Nicht um ihretwillen, wenn ich mir das auch manchmal eingebildet habe. Nein, Sivvy nein, ich habe es um deinetwillen getan." (S.611)







Christa Wolf: Nachdenken über Christa T.

Christa Wolf: Nachdenken über Christa T.

Wikipedia:

Die Ortschaft[A 2], in der sich die Erzählerin und Christa T. im November 1943 in der Schule kennenlernen, liegt zwei Fahrstunden von Berlin entfernt. Beyersdorf und Altensorge sind Nachbarorte. Christa T., Tochter eines Dorfschullehrers, kommt aus dem knapp 50 Kilometer entfernten Eichholz bei Friedeberg[A 3]. Die jungen Mädchen in der Klasse stehen auch nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 treu zu Adolf Hitler.[A 4]

Die Erzählerin und Christa T. verlieren sich 1945 aus den Augen, begegnen sich jedoch 1952 an der Uni Leipzig beim Pädagogikstudium[A 5] wieder. Umdenken ist angesagt; neue Namen stehen auf den Broschüren: Gorki und Makarenko. Christa T. liest Dostojewski und schreibt. Schreibend auf dem „Weg zu sich selbst“[7] entdeckt und behauptet sie sich; nähert sich den Dingen.[8] Während des mehrjährigen Lehrerstudiums in Leipzig verlässt Christa T., die als wirklichkeitsfremd gilt, mitunter – unruhig geworden[A 6] – ihre Kommilitonen, kommt aber stets wieder zurück. Dem Wunsch der Eltern, die Stelle ihres Vaters zu übernehmen, folgt sie nicht. In den Leipziger Jahren malen sich die künftigen Pädagogen ihre Paradiese aus – gleichviel ob mit Gas oder Atomstrom beheizt, es sind ihre Refugien, es ist ihre Sache.[9] Mit den Jahren verflüchtigen sich die Luftschlösser. Der Streit über die Ausgestaltung der Utopien geht in einstimmigen Chorgesang über.[10]

Am 22. Mai 1954 beendet Christa T. ihr Studium. In Leipzig hatte sie Justus, einen Veterinär, kennengelernt, den sie 1956 heiratet. Im selben Jahr wird ihre Tochter Anna geboren. Manchmal sucht Justus seine Verwandten in Westdeutschland auf. In der siebenjährigen Ehe kommen noch zwei Kinder zur Welt. Des Öfteren fahren Justus und Christa T. gemeinsam über Land. Für ihre Skizzen „Rund um den See“ lässt sich Christa T. von den Bauern Geschichten erzählen. Später beschließt das Paar, auf dem Land zu bleiben, wo Justus als Tierarzt tätig ist. Das Ehepaar baut ein Haus, einsam gelegen, auf einer kleinen Anhöhe am See. Bauen bedeutet in der DDR für Intelligenzler ohne „Beziehungen“ eine beträchtliche Kraftanstrengung. Die Ehe ist glücklich; nur einmal erlaubt sich Christa T. einen Seitensprung mit einem Jagdfreund von Justus. Der Gehörnte schafft das Problem aus der Welt, indem er seine Frau ein weiteres Mal schwängert.

Christa T. schluckt Unmengen Prednison gegen Leukämie. Auf den Tod an Panmyelophise erkrankt, bringt Christa T. im Herbst 1962 ihr drittes Kind, ein Mädchen, zur Welt. Im darauf folgenden Februar stirbt sie.

Christa Wolf und Christa T. (G. Gauss)

In den Schlussüberlegungen meint Wolf, 1993 dass hilfreiche Veränderungen nur von unten kommen können und fügt hinzu: Das hat etwas mit Verzicht zu tun.

Wortprotokoll:

Wolf: [...] Ich meine, es könnte sich vielleicht etwas ändern, nur würde das, wie ich es jetzt sehe, wahrscheinlich nicht wieder von einer Idee oder Ideologie ausgehen, was ich mir auch gar nicht wünschen würde, sondern das könnte eigentlich nur von unten kommen, aus den Verhältnissen der Leute und ihrem Ungenügen daran. Es könnte nur etwas Praktisches sein, vielleicht ganz klein anfangend, praktische Versuche, die das Miteinanderleben der Menschen betreffen, nach und nach vielleicht größeren Umfang annehmen könnten. Nur so kann ich das sehen.

Gaus: Ist dies die Hoffnung, oder gibt es eine andere Hoffnung, die Sie nicht aufgegeben haben?

Wolf: Ich habe manchmal wenig Hoffnung, aber ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass die jüngeren Menschen, die jetzt nachwachsen und die doch leben wollen, dass die nicht imstande sein sollen, dem zerstörerischen und selbstzerstörerischen Drang, der im Moment die Menschheit zu beherrschen scheint, in den Arm zu fallen. Natürlich ist das furchtbar schwer, weil das eine ganz grundlegende Änderung der Bedürfnisse bedeutet, der falschen Bedürfnisse, die jetzt auf falsche Weise befriedigt werden. Eine Änderung dieser Bedürfnisse hatte ich mir vom Sozialismus erhofft. Und genau das hat er ganz und gar nicht geleistet und nicht leisten können; er hat das Gegenteil getan. Die Frage ist, ob es irgendeine Chance gibt – von unten her, von zunächst kleinen Gruppen, und vielleicht ausgehend von der großen Gefahr, die dann die Menschen doch sehen mögen –, so etwas nach und nach zu tun. Das hängt sehr viel mit Verzicht zusammen. [Hervorhebung von Fontanefan - Diese Aussage scheint mir besonders im Zusammenhang mit einer Umstellung von Wirtschaft auf Klimaneutralität aktuell. Wobei Wolf 1993 nicht ahnen konnte, in welcher spezifischen Weise sie heute aktuell ist.]

Ulrich Plenzdorf: Die neuen Leiden des jungen W.

 Ulrich Plenzdorf: Die neuen Leiden des jungen W.





>



























Wertherzitate

Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bißchen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, daß sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden.  

 Kurz und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht. 

 Sie ist mir heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart.



 


28 März 2023

Goethe:Werther

Goethe: Die Leiden des jungen Werthers

 Es geht hier nicht um eine zweite oder dritte Lektüre, sondern darum, einige Zitate herauszustellen, damit ich sie leichter finden kann.

4. Mai 1771

"Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen! Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war, und froh zu sein!" 

"Am 10. Mai.

Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken, daß meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken. Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält; mein Freund! wenn's dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten – dann sehne ich mich oft und denke: Ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes! – Mein Freund – Aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.

Am 12. Mai

[...] Da kommen dann die Mädchen aus der Stadt und holen Wasser, das harmloseste Geschäft und das nötigste, das ehemals die Töchter der Könige selbst verrichteten. Wenn ich da sitze, so lebt die patriarchalische Idee so lebhaft um mich, wie sie, alle die Altväter, am Brunnen Bekanntschaft machen und freien, und wie um die Brunnen und Quellen wohltätige Geister schweben. O der muß nie nach einer schweren Sommertagswanderung sich an des Brunnens Kühle gelabt haben, der das nicht mitempfinden kann.


Am 13. Mai.


[...] Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuert sein, braust dieses Herz doch genug aus sich selbst; ich brauche Wiegengesang, und den habe ich in seiner Fülle gefunden in meinem Homer. Wie oft lull' ich mein empörtes Blut zur Ruhe, denn so ungleich, so unstet hast du nichts gesehn als dieses Herz. Lieber! brauch' ich dir das zu sagen, der du so oft die Last getragen hast, mich vom Kummer zur Ausschweifung und von süßer Melancholie zur verderblichen Leidenschaft übergehen zu sehn? Auch halte ich mein Herzchen wie ein krankes Kind; jeder Wille wird ihm gestattet. Sage das nicht weiter; es gibt Leute, die mir es verübeln würden. [...]

Den 17. Mai.


Ich habe allerlei Bekanntschaft gemacht, Gesellschaft habe ich noch keine gefunden. Ich weiß nicht, was ich Anzügliches für die Menschen haben muß; es mögen mich ihrer so viele und hängen sich an mich, und da tut mir's weh, wenn unser Weg nur eine kleine Strecke miteinander geht. Wenn du fragst, wie die Leute hier sind, muß ich dir sagen: wie überall! Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bißchen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, daß sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden. O Bestimmung des Menschen! [...]

Ach, daß die Freundin meiner Jugend dahin ist, ach, daß ich sie je gekannt habe! – Ich würde sagen: Du bist ein Tor! du suchst, was hienieden nicht zu finden ist! Aber ich habe sie gehabt, ich habe das Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir schien mehr zu sein, als ich war, weil ich alles war, was ich sein konnte. Guter Gott! blieb da eine einzige Kraft meiner Seele ungenutzt? Konnt' ich nicht vor ihr das ganze wunderbare Gefühl entwickeln, mit dem mein Herz die Natur umfaßt? [...] 

Leb' wohl! der Brief wird dir recht sein, er ist ganz historisch. 

Am 22. Mai.


Daß das Leben des Menschen nur ein Traum sei, ist manchem schon so vorgekommen, und auch mit mir zieht dieses Gefühl immer herum. Wenn ich die Einschränkung ansehe, in welcher die tätigen und forschenden Kräfte des Menschen eingesperrt sind; wenn ich sehe, wie alle Wirksamkeit dahinaus läuft, sich die Befriedigung von Bedürfnissen zu verschaffen, die wieder keinen Zweck haben, als unsere arme Existenz zu verlängern, und dann, daß alle Beruhigung über gewisse Punkte des Nachforschens nur eine träumende Resignation ist, da man sich die Wände, zwischen denen man gefangen sitzt, mit bunten Gestalten und lichten Aussichten bemalt – Das alles, Wilhelm, macht mich stumm. Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt! Wieder mehr in Ahnung und dunkler Begier als in Darstellung und lebendiger Kraft. Und da schwimmt alles vor meinen Sinnen, und ich lächle dann so träumend weiter in die Welt.

Daß die Kinder nicht wissen, warum sie wollen, darin sind alle hochgelahrten Schul- und Hofmeister einig; daß aber auch Erwachsene gleich Kindern auf diesem Erdboden herumtaumeln und wie jene nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen, ebensowenig nach wahren Zwecken handeln, ebenso durch Biskuit und Kuchen und Birkenreiser regiert werden: das will niemand gern glauben, und mich dünkt, man kann es mit Händen greifen. [...] Wer aber in seiner Demut erkennt, wo das alles hinausläuft, wer da sieht, wie artig jeder Bürger, dem es wohl ist, sein Gärtchen zum Paradiese zuzustutzen weiß, und wie unverdrossen auch der Unglückliche unter der Bürde seinen Weg fortkeucht, und alle gleich interessiert sind, das Licht dieser Sonne noch eine Minute länger zu sehn – ja, der ist still und bildet auch seine Welt aus sich selbst und ist auch glücklich, weil er ein Mensch ist. Und dann, so eingeschränkt er ist, hält er doch immer im Herzen das süße Gefühl der Freiheit, und daß er diesen Kerker verlassen kann, wann er will.


Am 26. Mai.


Du kennst von alters her meine Art, mich anzubauen, mir irgend an einem vertraulichen Orte ein Hüttchen aufzuschlagen und da mit aller Einschränkung zu herbergen. Auch hier habe ich wieder ein Plätzchen angetroffen, das mich angezogen hat.

Ungefähr eine Stunde von der Stadt liegt ein Ort, den sie Wahlheim1 nennen. Die Lage an einem Hügel ist sehr interessant, und wenn man oben auf dem Fußpfade zum Dorf herausgeht, übersieht man auf einmal das ganze Tal. Eine gute Wirtin, die gefällig und munter in ihrem Alter ist, schenkt Wein, Bier, Kaffee; und was über alles geht, sind zwei Linden, die mit ihren ausgebreiteten Ästen den kleinen Platz vor der Kirche bedecken, der ringsum mit Bauerhäusern, Scheuern und Höfen eingeschlossen ist. So vertraulich, so heimlich hab' ich nicht leicht ein Plätzchen gefunden, und dahin lass' ich mein Tischchen aus dem Wirtshause bringen und meinen Stuhl, trinke meinen Kaffee da und lese meinen Homer. [...] Das bestärkte mich in meinem Vorsatze, mich künftig allein an die Natur zu halten. Sie allein ist unendlich reich, und sie allein bildet den großen Künstler. Man kann zum Vorteile der Regeln viel sagen, ungefähr was man zum Lobe der bürgerlichen Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird nie etwas Abgeschmacktes und Schlechtes hervorbringen, wie einer, der sich durch Gesetze und Wohlstand modeln läßt, nie ein unerträglicher Nachbar, nie ein merkwürdiger Bösewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle Regel, man rede was man wolle, das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck derselben zerstören! Sag' du: ›Das ist zu hart! sie schränkt nur ein, beschneidet die geilen Reben‹ etc. – Guter Freund, soll ich dir ein Gleichnis geben? Es ist damit wie mit der Liebe. Ein junges Herz hängt ganz an einem Mädchen, bringt alle Stunden seines Tages bei ihr zu, verschwendet alle seine Kräfte, all sein Vermögen, um ihr jeden Augenblick auszudrücken, daß er sich ganz ihr hingibt. Und da käme ein Philister, ein Mann, der in einem öffentlichen Amte steht, und sagte zu ihm: ›Feiner junger Herr! Lieben ist menschlich, nur müßt Ihr menschlich lieben! Teilet Eure Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden widmet Eurem Mädchen. Berechnet Euer Vermögen, und was Euch von Eurer Notdurft übrig bleibt, davon verwehr' ich Euch nicht, ihr ein Geschenk, nur nicht zu oft, zu machen, etwa zu ihrem Geburts – und Namenstage‹ etc. – Folgt der Mensch, so gibt's einen brauchbaren jungen Menschen, und ich will selbst jedem Fürsten raten, ihn in ein Kollegium zu setzen; nur mit seiner Liebe ist's am Ende [...]


Im Folgenden habe ich noch keine Zitate herausgesucht.

Am 27. Mai.


Ich bin, wie ich sehe, in Verzückung, Gleichnisse und Deklamation verfallen und habe darüber vergessen, dir auszuerzählen, was mit den Kindern weiter geworden ist. [...]

                                                                                                                           Am 16. Junius.

Warum ich dir nicht schreibe? – Fragst du das und bist doch auch der Gelehrten einer. Du solltest raten, daß ich mich wohl befinde, und zwar – Kurz und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht. Ich habe – ich weiß nicht.

Dir in der Ordnung zu erzählen, wie's zugegangen ist, daß ich eins der liebenswürdigsten Geschöpfe habe kennen lernen, wird schwer halten. Ich bin vergnügt und glücklich, und also kein guter Historienschreiber.

Einen Engel! – Pfui! das sagt jeder von der Seinigen, nicht wahr? Und doch bin ich nicht imstande, dir zu sagen, wie sie vollkommen ist, warum sie vollkommen ist; genug, sie hat allen meinen Sinn gefangengenommen.

So viel Einfalt bei so viel Verstand, so viel Güte bei so viel Festigkeit, und die Ruhe der Seele bei dem wahren Leben und der Tätigkeit. –

Das ist alles garstiges Gewäsch, was ich da von ihr sage, leidige Abstraktionen, die nicht einen Zug ihres Selbst ausdrücken. Ein andermal – nein, nicht ein andermal, jetzt gleich will ich dir's erzählen. Tu' ich's jetzt nicht, so geschäh' es niemals. Denn, unter uns, seit ich angefangen habe zu schreiben, war ich schon dreimal im Begriffe, die Feder niederzulegen, mein Pferd satteln zu lassen und hinauszureiten. Und doch schwur ich mir heute früh, nicht hinauszureiten, und gehe doch alle Augenblick' ans Fenster, zu sehen, wie hoch die Sonne noch steht. – – –

Ich hab's nicht überwinden können, ich mußte zu ihr hinaus. Da bin ich wieder, Wilhelm, will mein Butterbrot zu Nacht essen und dir schreiben. Welch eine Wonne das für meine Seele ist, sie in dem Kreise der lieben, muntern Kinder, ihrer acht Geschwister, zu sehen! –

Wenn ich so fortfahre, wirst du am Ende so klug sein wie am Anfange. Höre denn, ich will mich zwingen, ins Detail zu gehen.

Ich schrieb dir neulich, wie ich den Amtmann S.. habe kennen lernen, und wie er mich gebeten habe, ihn bald in seiner Einsiedelei oder vielmehr seinem kleinen Königreiche zu besuchen. Ich vernachlässigte das, und wäre vielleicht nie hingekommen, hätte mir der Zufall nicht den Schatz entdeckt, der in der stillen Gegend verborgen liegt.

Unsere jungen Leute hatten einen Ball auf dem Lande angestellt, zu dem ich mich denn auch willig finden ließ. Ich bot einem hiesigen guten, schönen, übrigens unbedeutenden Mädchen die Hand, und es wurde ausgemacht, daß ich eine Kutsche nehmen, mit meiner Tänzerin und ihrer Base nach dem Orte der Lustbarkeit hinausfahren und auf dem Wege Charlotten S.. mitnehmen sollte. – »Sie werden ein schönes Frauenzimmer kennenlernen.« sagte meine Gesellschafterin, da wir durch den weiten, ausgehauenen Wald nach dem Jagdhause fuhren. – »Nehmen Sie sich in acht,« versetzte die Base, »daß Sie sich nicht verlieben!« – »Wieso?« sagte ich. – »Sie ist schon vergeben,« antwortete jene, »an einen sehr braven Mann, der weggereist ist, seine Sachen in Ordnung zu bringen, weil sein Vater gestorben ist, und sich um eine ansehnliche Versorgung zu bewerben.« – Die Nachricht war mir ziemlich gleichgültig.

Die Sonne war noch eine Viertelstunde vom Gebirge, als wir vor dem Hoftore anfuhren. [...]

Ich war ausgestiegen, und eine Magd, die ans Tor kam, bat uns, einen Augenblick zu verziehen, Mamsell Lottchen würde gleich kommen. Ich ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war und in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf zu zwei Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid, mit blaßroten Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab's jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes rief so ungekünstelt sein »Danke!«, indem es mit den kleinen Händchen lange in die Höhe gereicht hatte, ehe es noch abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrote vergnügt entweder wegsprang, oder nach seinem stillern Charakter gelassen davonging nach dem Hoftore zu, um die Fremden und die Kutsche zu sehen, darin ihre Lotte wegfahren sollte. – »Ich bitte um Vergebung,« sagte sie, »daß ich Sie hereinbemühe und die Frauenzimmer warten lasse. Über dem Anziehen und allerlei Bestellungen fürs Haus in meiner Abwesenheit habe ich vergessen, meinen Kindern ihr Vesperbrot zu geben, und sie wollen von niemanden Brot geschnitten haben als von mir.« – Ich machte ihr ein unbedeutendes Kompliment, meine ganze Seele ruhte auf der Gestalt, dem Tone, dem Betragen, und ich hatte eben Zeit, mich von der Überraschung zu erholen, als sie in die Stube lief, ihre Handschuhe und den Fächer zu holen. Die Kleinen sahen mich in einiger Entfernung so von der Seite an, und ich ging auf das jüngste los, das ein Kind von der glücklichsten Gesichtsbildung war. Es zog sich zurück, als eben Lotte zur Türe herauskam und sagte: »Louis, gib dem Herrn Vetter eine Hand.« – Das tat der Knabe sehr freimütig, und ich konnte mich nicht enthalten, ihn, ungeachtet seines kleinen Rotznäschens, herzlich zu küssen. – »Vetter?« sagte ich, indem ich ihr die Hand reichte, »glauben Sie, daß ich des Glücks wert sei, mit Ihnen verwandt zu sein?« – »O,« sagte sie mit einem leichtfertigen Lächeln, »unsere Vetterschaft ist sehr weitläufig, und es wäre mir leid, wenn Sie der schlimmste drunter sein sollten.« – Im Gehen gab sie Sophien, der ältesten Schwester nach ihr, einem Mädchen von ungefähr eilf Jahren, den Auftrag, wohl auf die Kinder acht zu haben und den Papa zu grüßen, wenn er vom Spazierritte nach Hause käme. Den Kleinen sagte sie, sie sollten ihrer Schwester Sophie folgen, als wenn sie's selber wäre, das denn auch einige ausdrücklich versprachen. Eine kleine, naseweise Blondine aber, von ungefähr sechs Jahren, sagte: »Du bist's doch nicht, Lottchen, wir haben dich doch lieber.« – [...]

»Wie ich jünger war«, sagte sie, »liebte ich nichts so sehr als Romane. Weiß Gott, wie wohl mir's war, wenn ich mich Sonntags in so ein Eckchen setzen und mit ganzem Herzen an dem Glück und Unstern einer Miß Jenny teilnehmen konnte. Ich leugne auch nicht, daß die Art noch einige Reize für mich hat. Doch da ich so selten an ein Buch komme, so muß es auch recht nach meinem Geschmack sein. Und der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, bei dem es zugeht wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so interessant und herzlich wird als mein eigen häuslich Leben, das freilich kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit ist.« [...]

Das Gespräch fiel aufs Vergnügen am Tanze. – »Wenn diese Leidenschaft ein Fehler ist,« sagte Lotte, »so gestehe ich Ihnen gern, ich weiß mir nichts übers Tanzen. Und wenn ich was im Kopfe habe und mir auf meinem verstimmten Klavier einen Contretanz vortrommle, so ist alles wieder gut.«

Wie ich mich unter dem Gespräche in den schwarzen Augen weidete – wie die lebendigen Lippen und die frischen,[23] muntern Wangen meine ganze Seele anzogen – wie ich, in den herrlichen Sinn ihrer Rede ganz versunken, oft gar die Worte nicht hörte, mit denen sie sich ausdrückte – davon hast du eine Vorstellung, weil du mich kennst. [...]

Der Tanz war noch nicht zu Ende, als die Blitze, die wir schon lange am Horizonte leuchten gesehn und die ich immer für Wetterkühlen ausgegeben hatte, viel stärker zu werden anfingen und der Donner die Musik überstimmte. Drei Frauenzimmer liefen aus der Reihe, denen ihre Herren folgten; die Unordnung wurde allgemein, und die Musik hörte auf. [...]

Einige unserer Herren hatten sich hinabbegeben, um ein Pfeifchen in Ruhe zu rauchen; und die übrige Gesellschaft schlug es nicht aus, als die Wirtin auf den klugen Einfall kam, uns ein Zimmer anzuweisen, das Läden und Vorhänge hätte. Kaum waren wir da angelangt, als Lotte beschäftigt war, einen Kreis von Stühlen zu stellen und, als sich die Gesellschaft auf ihre Bitte gesetzt hatte, den Vortrag zu einem Spiele zu tun.[26]

Ich sah manchen, der in Hoffnung auf ein saftiges Pfand sein Mäulchen spitzte und seine Glieder reckte. – »Wir spielen Zählens!« sagte sie. »Nun gebt acht! Ich geh' im Kreise herum von der Rechten zur Linken, und so zählt ihr auch rings herum, jeder die Zahl, die an ihn kommt, und das muß gehen wie ein Lauffeuer, und wer stockt oder sich irrt, kriegt eine Ohrfeige, und so bis tausend.« – Nun war das lustig anzusehen: Sie ging mit ausgestrecktem Arm im Kreise herum. »Eins«, fing der erste an, der Nachbar »zwei«, »drei« der folgende, und so fort. Dann fing sie an, geschwinder zu gehen, immer geschwinder; da versah's einer: Patsch! eine Ohrfeige, und über das Gelächter der folgende auch: Patsch! Und immer geschwinder. Ich selbst kriegte zwei Maulschellen und glaubte mit innigem Vergnügen zu bemerken, daß sie stärker seien, als sie den übrigen zuzumessen pflegte. Ein allgemeines Gelächter und Geschwärm endigte das Spiel, ehe noch das Tausend ausgezählt war. Die Vertrautesten zogen einander beiseite, das Gewitter war vorüber, und ich folgte Lotten in den Saal. Unterwegs sagte sie: »Über die Ohrfeigen haben sie Wetter und alles vergessen!« – Ich konnte ihr nichts antworten. – »Ich war«, fuhr sie fort, »eine der Furchtsamsten, und indem ich mich herzhaft stellte, um den andern Mut zu geben, bin ich mutig geworden.« – Wir traten ans Fenster. Es donnerte abseitwärts, und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihren Ellenbogen gestützt, ihr Blick durchdrang die Gegend; sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: »Klopstock!« – Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoß. Ich ertrug's nicht, neigte mich auf ihre Hand und küßte sie unter den wonnevollsten Tränen. Und sah nach ihrem Auge wieder – Edler! hättest du deine Vergötterung in diesem Blicke gesehen, und möcht' ich nun deinen so oft entweihten Namen nie wieder nennen hören! [...]


Am 21. Junius.


Ich lebe so glückliche Tage, wie sie Gott seinen Heiligen aufspart; und mit mir mag werden was will, so darf ich nicht sagen, daß ich die Freuden, die reinsten Freuden des Lebens nicht genossen habe. – Du kennst mein Wahlheim; dort bin ich völlig etabliert, von da habe ich nur eine halbe Stunde zu Lotten, dort fühl' ich mich selbst und alles Glück, das dem Menschen gegeben ist.

Hätt' ich gedacht, als ich mir Wahlheim zum Zwecke meiner Spaziergänge wählte, daß es so nahe am Himmel läge! Wie oft habe ich das Jagdhaus, das nun alle meine Wünsche einschließt, auf meinen weiten Wanderungen, bald vom Berge, bald von der Ebne über den Fluß gesehn! [...]

Am 1. Julius.

Was Lotte einem Kranken sein muß, fühl' ich an meinem eigenen armen Herzen, das übler dran ist als manches, das auf dem Siechbette verschmachtet. Sie wird einige Tage in der Stadt bei einer rechtschaffnen Frau zubringen, die sich nach der Aussage der Ärzte ihrem Ende naht und in diesen letzten Augenblicken Lotten um sich haben will. [...]

»Man predigt gegen so viele Laster,« sagte ich, »ich habe noch nie gehört, daß man gegen die üble Laune vom Predigtstuhle gearbeitet hätte.«4 – [...] Und nennen Sie mir den Menschen, der übler Laune ist und so brav dabei, sie zu verbergen, sie allein zu tragen, ohne die Freude um sich her zu zerstören! Oder ist sie nicht vielmehr ein innerer Unmut über unsere eigene Unwürdigkeit, ein Mißfallen an uns selbst, das immer mit einem Neide verknüpft ist, der durch eine törichte Eitelkeit aufgehetzt wird? Wir sehen glückliche Menschen, die wir nicht glücklich machen, und das ist unerträglich.« – Lotte lächelte mich an, da sie die Bewegung sah, mit der ich redete, und eine Träne in Friederikens Auge spornte mich fortzufahren. – »Wehe denen,« sagte ich, »die sich der Gewalt bedienen, die sie über ein Herz haben, um ihm die einfachen Freuden zu rauben, die aus ihm selbst hervorkeimen. Alle Geschenke, alle Gefälligkeiten der Welt ersetzen nicht einen Augenblick Vergnügen an sich selbst, den uns eine neidische Unbehaglichkeit unsers Tyrannen vergällt hat.« [...] 

Ich nahm das Schnupftuch vor die Augen und verließ die Gesellschaft, und nur Lottens Stimme, die mir rief, wir wollten fort, brachte mich zu mir selbst. Und wie sie mich auf dem Wege schalt über den zu warmen Anteil an allem, und daß ich drüber zugrunde gehen würde! daß ich mich schonen sollte! – O der Engel! Um deinetwillen muß ich leben!


Am 6. Julius.


Sie ist immer um ihre sterbende Freundin, und ist immer dieselbe, immer das gegenwärtige, holde Geschöpf, das, wo sie hinsieht, Schmerzen lindert und Glückliche macht. Sie ging gestern abend mit Marianen und dem kleinen Malchen spazieren, ich wußte es und traf sie an, und wir gingen zusammen. Nach einem Wege von anderthalb Stunden kamen wir gegen die Stadt zurück, an den Brunnen, der mir so wert und nun tausendmal werter ist. Lotte setzte sich aufs Mäuerchen, wir standen vor ihr. Ich sah umher, ach, und die Zeit, da mein Herz so allein war, lebte wieder vor mir auf. – »Lieber Brunnen,« sagte ich, »seither hab' ich nicht mehr an deiner Kühle geruht, hab' in eilendem Vorübergehn dich manchmal nicht angesehn.« – Ich blickte hinab und sah, daß Malchen mit einem Glase Wasser sehr beschäftigt heraufstieg. – Ich sah Lotten an und fühlte alles, was ich an ihr habe. Indem kommt Malchen mit einem Glase. Mariane wollt' es ihr abnehmen: »Nein!« rief das Kind mit dem süßesten Ausdrucke, »nein, Lottchen, du sollst zuerst trinken!« – Ich ward über die Wahrheit, über die Güte, womit sie das ausrief, so entzückt, daß ich meine Empfindung mit nichts ausdrücken konnte, als ich nahm das Kind von der Erde und küßte es lebhaft, das sogleich zu schreien und zu weinen anfing. – »Sie haben übel getan,« sagte Lotte. – Ich war betroffen. – »Komm, Malchen,« fuhr sie fort, indem sie es bei der Hand nahm und die Stufen hinabführte, »da wasche dich aus der frischen Quelle geschwind, geschwind, da tut's nichts.« – Wie ich so dastand und zusah, mit welcher Emsigkeit das Kleine mit seinen nassen Händchen die Backen rieb, mit welchem Glauben, daß durch die Wunderquelle alle Verunreinigung abgespült und die Schmach abgetan würde, einen häßlichen Bart zu kriegen; wie Lotte sagte: »Es ist genug!« und das Kind doch immer eifrig fortwusch, als wenn Viel mehr täte als Wenig – ich sage dir, Wilhelm, ich habe mit mehr Respekt nie einer Taufhandlung beigewohnt; und als Lotte heraufkam, hätte ich mich gern vor ihr niedergeworfen wie vor einem Propheten, der die Schulden einer Nation weggeweiht hat.

Des Abends konnte ich nicht umhin, in der Freude meines Herzens den Vorfall einem Manne zu erzählen, dem ich Menschensinn zutraute, weil er Verstand hat; aber wie kam ich an! Er sagte, das sei sehr übel von Lotten gewesen; man solle den Kindern nichts weis machen; dergleichen gebe zu unzähligen Irrtümern und Aberglauben Anlaß, wovor man die Kinder frühzeitig bewahren müsse. – Nun fiel mir ein, daß der Mann vor acht Tagen hatte taufen lassen, drum ließ ich's vorbeigehen und blieb in meinem Herzen der Wahrheit getreu: Wir sollen es mit den Kindern machen wie Gott mit uns, der uns am glücklichsten macht, wenn er uns in freundlichem Wahne so hintaumeln läßt. [...]


Am 10. Julius.


Die alberne Figur, die ich mache, wenn in Gesellschaft von ihr gesprochen wird, solltest du sehen! Wenn man mich nun gar fragt, wie sie mir gefällt? – Gefällt! das Wort hasse ich auf den Tod. Was muß das für ein Mensch sein, dem Lotte gefällt, dem sie nicht alle Sinne, alle Empfindungen ausfüllt! Gefällt! Neulich fragte mich einer, wie mir Ossian gefiele!


Am 11. Julius.


Frau M.. ist sehr schlecht; ich bete für ihr Leben, weil ich mit Lotten dulde. Ich sehe sie selten bei einer Freundin, und heute hat sie mir einen wunderbaren Vorfall erzählt. – [...]

Am 13. Julius.


Nein, ich betriege mich nicht! Ich lese in ihren schwarzen Augen wahre Teilnehmung an mir und meinem Schicksal. Ja ich fühle, und darin darf ich meinem Herzen trauen, daß sie – o darf ich, kann ich den Himmel in diesen Worten aussprechen? – daß sie mich liebt!

Mich liebt! – Und wie wert ich mir selbst werde, wie ich – dir darf ich's wohl sagen, du hast Sinn für so etwas – wie ich mich selbst anbete, seitdem sie mich liebt!

Ob das Vermessenheit ist oder Gefühl des wahren Verhältnisses? – Ich kenne den Menschen nicht, von dem ich etwas in Lottens Herzen fürchtete. Und doch – wenn sie von ihrem Bräutigam spricht, mit solcher Wärme, solcher Liebe von ihm spricht – da ist mir's wie einem, der aller seiner Ehren und Würden entsetzt und dem der Degen genommen wird.


Am 16. Julius.


[...]

Sie ist mir heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart. Ich weiß nie, wie mir ist, wenn ich bei ihr bin; es ist, als wenn die Seele sich mir in allen Nerven umkehrte. – Sie hat eine Melodie, die sie auf dem Klaviere spielet mit der Kraft eines Engels, so simpel und so geistvoll! Es ist ihr Leiblied, und mich stellt es von aller Pein, Verwirrung und Grillen her, wenn sie nur die erste Note davon greift.

Kein Wort von der Zauberkraft der alten Musik ist mir unwahrscheinlich. Wie mich der einfache Gesang angreift! Und wie sie ihn anzubringen weiß, oft zur Zeit, wo ich mir eine Kugel vor den Kopf schießen möchte! Die Irrung und Finsternis meiner Seele zerstreut sich, und ich atme wieder freier.


Am 18. Julius.


Wilhelm, was ist unserem Herzen die Welt ohne Liebe! Was eine Zauberlaterne ist ohne Licht! Kaum bringst du das Lämpchen hinein, so scheinen dir die buntesten Bilder an deine weiße Wand! Und wenn's nichts wäre als das, als vorübergehende Phantome, so macht's doch immer unser Glück, wenn wir wie frische Jungen davor stehen und uns über die Wundererscheinungen entzücken. [...]


Den 19. Julius.


»Ich werde sie sehen!« ruf' ich morgens aus, wenn ich mich ermuntere und mit aller Heiterkeit der schönen Sonne entgegenblicke; »ich werde sie sehen!« Und da habe ich für den ganzen Tag keinen Wunsch weiter. Alles, alles verschlingt sich in dieser Aussicht.


Den 20. Julius.


Eure Idee will noch nicht die meinige werden, daß ich mit dem Gesandten nach *** gehen soll. Ich liebe die Subordination nicht sehr, und wir wissen alle, daß der Mann noch dazu ein widriger Mensch ist. [...]


Am 24. Julius.


Da dir so sehr daran gelegen ist, daß ich mein Zeichnen nicht vernachlässige, möchte ich lieber die ganze Sache übergehen als dir sagen, daß zeither wenig getan wird.

Noch nie war ich glücklicher, noch nie war meine Empfindung an der Natur, bis aufs Steinchen, aufs Gräschen herunter, voller und inniger, und doch – Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, meine vorstellende Kraft ist so schwach, alles schwimmt und schwankt so vor meiner Seele, daß ich keinen Umriß packen kann; aber ich bilde mir ein, wenn ich Ton hätte oder Wachs, so wollte ich's wohl herausbilden. Ich werde auch Ton nehmen, wenn's länger währt, und kneten, und sollten's Kuchen werden!

Lottens Porträt habe ich dreimal angefangen, und habe mich dreimal prostituiert; das mich um so mehr verdrießt, weil ich vor einiger Zeit sehr glücklich im Treffen war. Darauf habe ich denn ihren Schattenriß gemacht, und damit soll mir g'nügen. [...]

Am 26. Julius.


Ich habe mir schon manchmal vorgenommen, sie nicht so oft zu sehn. Ja wer das halten könnte! Alle Tage unterlieg' ich der Versuchung und verspreche mir heilig: morgen willst du einmal wegbleiben. Und wenn der Morgen kommt, finde ich doch wieder eine unwiderstehliche Ursache, und ehe ich mich's versehe, bin ich bei ihr. Entweder sie hat des Abends gesagt: »Sie kommen doch morgen?« – Wer könnte da wegbleiben? Oder sie gibt mir einen Auftrag, und ich finde schicklich, ihr selbst die Antwort zu bringen; oder der Tag ist gar zu schön, ich gehe nach Wahlheim, und wenn ich nun da bin, ist's nur noch eine halbe Stunde zu ihr! – Ich bin zu nah in der Atmosphäre – Zuck! so bin ich dort. [...]


Am 30. Julius.


Albert ist angekommen, und ich werde gehen; und wenn er der beste, der edelste Mensch wäre, unter den ich mich[41] in jeder Betrachtung zu stellen bereit wäre, so wär's unerträglich, ihn vor meinem Angesicht im Besitz so vieler Vollkommenheiten zu sehen. – Besitz! – Genug, Wilhelm, der Bräutigam ist da! Ein braver, lieber Mann, dem man gut sein muß. Glücklicherweise war ich nicht beim Empfange! Das hätte mir das Herz zerrissen. Auch ist er so ehrlich und hat Lotten in meiner Gegenwart noch nicht ein einzigmal geküßt. Das lohn' ihm Gott! Um des Respekts willen, den er vor dem Mädchen hat, muß ich ihn lieben. Er will mir wohl, und ich vermute, das ist Lottens Werk mehr als seiner eigenen Empfindung; denn darin sind die Weiber fein und haben recht; wenn sie zwei Verehrer in gutem Vernehmen mit einander erhalten können, ist der Vorteil immer ihr, so selten es auch angeht.

Indes kann ich Alberten meine Achtung nicht versagen. Seine gelassene Außenseite sticht gegen die Unruhe meines Charakters sehr lebhaft ab, die sich nicht verbergen läßt. Er hat viel Gefühl und weiß, was er an Lotten hat. Er scheint wenig üble Laune zu haben, und du weißt, das ist die Sünde, die ich ärger hasse am Menschen als alle andre.

[...]


Am 12. August.


Gewiß, Albert ist der beste Mensch unter dem Himmel. Ich habe gestern eine wunderbare Szene mit ihm gehabt. Ich kam zu ihm, um Abschied von ihm zu nehmen; denn mich wandelte die Lust an, ins Gebirge zu reiten, von woher ich dir auch jetzt schreibe, und wie ich in der Stube auf und ab gehe, fallen mir seine Pistolen in die Augen. – »Borge mir die Pistolen«, sagte ich, »zu meiner Reise.« – »Meinetwegen,« sagte er, »wenn du dir die Mühe nehmen willst, sie zu laden; bei mir hängen sie nur pro forma.« – Ich nahm eine herunter, und er fuhr fort: »Seit mir meine Vorsicht einen so unartigen Streich gespielt hat, mag ich mit dem Zeuge nichts mehr zu tun haben.«

Am 30. August.


Unglücklicher! Bist du nicht ein Tor? Betriegst du dich nicht selbst? Was soll diese tobende, endlose Leidenschaft? Ich habe kein Gebet mehr als an sie; meiner Einbildungskraft erscheint keine andere Gestalt als die ihrige, und alles in der Welt um mich her sehe ich nur im Verhältnisse mit ihr. Und das macht mir denn so manche glückliche Stunde – bis ich mich wieder von ihr losreißen muß! Ach Wilhelm! wozu mich mein Herz oft drängt! – Wenn ich bei ihr gesessen bin, zwei, drei Stunden, und mich an ihrer Gestalt, an ihrem Betragen, an dem himmlischen Ausdruck ihrer Worte geweidet habe, und nun nach und nach alle meine Sinne aufgespannt werden, mir es düster vor den Augen wird, ich kaum noch höre, und es mich an die Gurgel faßt wie ein Meuchelmörder, dann mein Herz in wilden Schlägen den bedrängten Sinnen Luft zu machen sucht und ihre Verwirrung nur vermehrt – Wilhelm, ich weiß oft nicht, ob ich auf der Welt bin! Und – wenn nicht manchmal die Wehmut das Übergewicht nimmt und Lotte mir den elenden Trost erlaubt, auf ihrer Hand meine Beklemmung auszuweinen, – [...]


Am 3. September.


Ich muß fort! Ich danke dir, Wilhelm, daß du meinen wankenden Entschluß bestimmt hast. Schon vierzehn Tage gehe ich mit dem Gedanken um, sie zu verlassen. Ich muß fort. Sie ist wieder in der Stadt bei einer Freundin. Und Albert – und – ich muß fort!


Am 10. September.


Das war eine Nacht! Wilhelm! nun überstehe ich alles. Ich werde sie nicht wiedersehn! O daß ich nicht an deinen Hals fliegen, dir mit tausend Tränen und Entzückungen ausdrücken kann, mein Bester, die Empfindungen, die mein Herz bestürmen. Hier sitze ich und schnappe nach Luft, suche mich zu beruhigen, erwarte den Morgen, und mit Sonnenaufgang sind die Pferde bestellt.

Ach, sie schläft ruhig und denkt nicht, daß sie mich nie wieder sehen wird. Ich habe mich losgerissen, bin stark genug gewesen, in einem Gespräch von zwei Stunden mein Vorhaben nicht zu verraten. Und Gott, welch ein Gespräch! [...]


Zweites Buch

Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 6, Hamburg 1948 ff, S. 7-60.

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Die Narrenburg

Die Narrenburg

Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.

82 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon