01 November 2025

Roger Willemsen. Enden der Welt

 Gibraltar

»Aber damit ist die Grenze des Nonplusultra doch schon überwunden«, widersprach Christa. »Genau, und deshalb lautete die Devise von KarlV auch Plus ultra! Und das, seit klar war, dass das Nonplusultra eben nicht das Ende der geographischen Welt bedeutete. Also: Plus ultra!«, rief ich noch und schnalzte mit der Zunge. »Dann ist dies jetzt der richtige Augenblick, dir zu sagen, dass ich hier umkehren werde«, antwortete sie und betrachtete mein verblüfftes Gesicht wie ein Exponat. »Hat sich deine Neugier erschöpft?« »Du hast sie erschöpft. Aber nimm's nicht persönlich.« Stunden später nahm sie den Zug nach Madrid, wo sie bei Freunden übernachten konnte. Ich brachte sie zum Gleis, wo wir uns zum Abschied tapfer auf den Mund küssten, um nicht zu gutmütig zu enden. Am nächsten Tag ließ ich die Säulen des Herkules hinter mir, erreichte Tanger und betrat ganz allein die jenseitige Welt.

Patagonien 

"Der verbotene Ort 

Ich reise aus einer Jahreszeit, die kommt, in eine Jahreszeit, die geht. Der Herbst Patagoniens aber hat mehr Mai in sich als unser März. Ich breche auf und denke an die allgemeine Erschöpfung, in die ich hineinreise, an die Gesten des Scheidens, Ablassens, Ermüdens und Kapitulierens in der Natur. Eine Reise führt fast immer irgendwo an die Abbruchränder zum Unvertrauten, dessen Vergangenheit und dessen Fortleben man nicht kennt. Zu Hause tritt man in die Erzählung wieder ein, aber auch sie ruckt und stockt zunächst, war man nur für eine Weile nicht ihr Zeitzeuge. Es gibt auf allen Reisen diese Stimmung, in der der Ausstieg dominiert. Noch ist man nirgends angekommen, noch möchte man nirgends ankommen. Fort will man sein, entkernt, gern heimatlos. Der Abschied vom Gewohnten korrespondiert mit den Durchgangs- und Warteräumen, in denen die Fremden schon präsent sind, ihre Erdteile einfließen lassen, sich zu einer Gesellschaft der internationalen Gesichter zusammenschließen und dahinter einfach das sind: müde, ungeschminkte, ambitionslos wirkende Gesichter. [...]"

Zum Anfang des Buches: Aufbruch

»Sagen Sie doch: Was erwartet uns auf der anderen Seite?« »Ich weiß es nicht.« »Aber Sie leben doch hier!« »Ich war nie dort.« »Warum nicht?« / Vor vielen Jahren, erzählt sie, träumte ihr, sie solle nicht um diese Kurve gehen, »von wegen dem Unglück, das passieren könne«, radebrecht sie in ihrem unbeholfenen Englisch. Und die Neugier? Die Neugier bedeute ihr nichts? »Nichts«, sagt sie. »Nach meinem Tod kann ich immer noch nachsehen.« Da es aber ein Leben vor dem Tod gibt und wir eine Weile ungestört und ganz vertraut miteinander geredet haben, darf ich schließlich doch ihre Hand nehmen, und so, in meine beiden Hände ihre federleichte Altfrauenhand nehmend, staksen wir beide aus dem Hüttchen an den Straßenrand, über den mit Pfützen bedeckten Kiesplatz, und tun Schritt für Schritt auf die Kurve zu. Und wenn ihr etwas zustoßen sollte, und wenn sich die Weissagung des Traums doch noch erfüllte? »Wir tun es wirklich, sehen Sie«, sage ich. Sie nickt voller Selbstvertrauen, ihr Gesicht strahlt, und ihre Hand hat jetzt die meine auch ihre Hand hat jetzt die meine auch fest gepackt. Wir gehen synchron, ein wenig humpelnd, aber synchron. Kurz vor dem Scheitelpunkt der Kurve sind wir schon angelangt, als die Greisin stehenbleibt. Sie lacht, als könne sie das nur stehend, löst ihre Hand aus der meinen, schlägt mir herzlich auf den Rücken und schnattert: »Du glaubst doch nicht, ich habe ein Leben lang auf dieser Seite der Kurve zugebracht, um jetzt mal eben so auf die andere Seite zu gehen!« So kehren wir um, und sie lacht und lacht, jetzt auch im Gehen, ist doch ihr Aberglauben um so vieles stärker als die schnöde Vernunft eines Durchreisenden aus Europa, eines blamierten Durchreisenden, der das andere Ende der Kurve für sich behalten soll, die Seite mit den ungeahnten Gefahren, den Bedrohungen des Greisinnen-Lebens. 

Als wir dann aufbrechen, die Hand der Greisin eher abwinkend als winkend hinter uns, als wir also wirklich um die Kurve kommen, stoßen wir zuerst auf einen weißen Büffel, der seinen riesigen Körper von einer Straßenseite zur anderen schaukelt. »Das Phlegma der Büffel ist das der Kamele«, sagt Monika, die schon Hilfsorganisationen in Afrika gründete, so wie jetzt in Nepal. Wir sind keine zwanzig Minuten gefahren, da kommt unser Wagen ganz zum Stehen. Ein Menschenauflauf, ein sozialer Entzündungsherd: Im Zentrum ein Bräutigam mit schmalem Oberlippenbart, Käppchen, Brauen und Wimpern kohlschwarz. Hinter ihm schwankt am Arm der Mutter die Braut, den jungen Kopf tief geneigt in den Schatten eines rosa Regenschirms, damit man sie nicht sehe. Doch nicht deshalb haben alle angehalten. Weiter weg, weiter oben muss »etwas« passiert sein. Der erste Regen fällt sogleich: Tropfen, die kaum die Zweige streifen und schon im Boden aufgehen, wie im Zeitraffer Keim, Rispe, Zweig werden und wiederum den Regen aufnehmen wollen. Die Kolonne der Fahrzeuge steht nicht nur still, die Motoren werden abgeschaltet. Mit kleinen melodischen Phrasen setzen sich die Vögel im ersterbenden Regen durch. Die Straße windet sich, niemand weiß, hinter wie vielen Kurven diesmal die Sperre wartet oder der Ernstfall. Ein Emissär wird losgeschickt. Die Zurückbleibenden treten an die Böschung zum Tal und tauschen Verlegenheiten vor der Aussicht. Wir sitzen auf dem Querbalken eines Viehgatters über der Ebene, die aussieht wie die Landschaft eines flämischen Meisters. Jemand erzählt von einem Mann und seiner Vorliebe für Käsestangen. Meine Gedanken kommen nicht los von der Familie der Greisin auf der anderen Seite der Bergschlaufe. Wenn unser Stau sich weiter dehnt, wird sein Ende unsere Kurve erreichen, und die Alte wird sagen: Nichts Gutes erwartet die Menschen hinter diesem Berg, nichts Gutes liegt da oben an der Straße. Unser Fahrer Rajiv dagegen fürchtet, dieses Mal seien es nicht die Maoisten, nein, es könnte schon wieder ein Unfall sein, der zur Straßensperre führte. »Ich hatte schon vier Tote im Wagen«, sagt Monika. »Rajiv hielt eine Frau in seinem Schoß und streichelte ihr den Kopf, aber da war sie längst tot. >Kümmere dich lieber um die hier<, habe ich ihm gesagt, denn da war ja noch diese junge Frau, >die atmet noch<.« Aber auch sie hatte es am Ende nicht geschafft. Aus dem Tal heben sich schwerfällig die dicksten Nebel, Wolken und Flüsse erscheinen. Der Mitarbeiter von Monikas Organisation sagt: »... dem gab man ein Glas Wein und ein paar Käsestangen, da war er glücklich.« Der Nebel wabert, das Gerede stockt. [...]

 Mit verzerrten Gesichtern treten die Rückkehrer aus dem Grau der Steilwand heraus, Gepäckstücke, Kanister, Textilien in den Händen. Ein Mann schüttelt nur immerfort den Kopf, die Rechte fasst mit Daumen und Zeigefinger in die inneren Augenwinkel, als müsse er sich konzentrieren, in der Linken schlenkert ein orangefarbenes Barett. Die Heraustretenden machen abwehrende Gesten. »Geht da nicht hin!« »Gott, das Motorrad...« Die in den Dunst laufen, werden farblos, dann zu Scheiben, zu bloßen Silhouetten, die wie durch eine Ausstanzung in der Nebelwand verschwinden. Jetzt erscheinen die Menschen ja schon selbst wie aus Nebelmasse geformt, sie verlieren sogar ihre Dreidimensionalität und kehren ins Schattenreich ein. Das Relief des Körpers verflacht, die Farben verschießen, die Silhouetten finden ihren Eingang in der Nebelwand und passieren. Zuletzt sind sie nur noch eine dunkle Aussparung im Nachtatem und treten durch diesen hindurch. Vor uns liegt das Jenseits, hinter uns die verbotene Kurve, in unserem Rücken der einschüchternde Himalaja. Wir ducken uns zwischen diese Steilwände als die Verschonten. (S.71-76)

Orvieto Die fixe Idee 

Die Trattoria Giusti in der Via Giuseppe Giusti war die Küche vieler, die in den späten siebziger Jahren in Florenz studierten oder als Langzeitreisende in der Stadt gestrandet waren. Ich studierte am Kunsthistorischen Institut und verdiente mein Geld als Reiseleiter. Meine Freunde waren zwei weitere Studenten, ein UffizienWärter, eine sienesische Apothekertochter und ein kanadisches Journalistenpärchen. In der Trattoria standen nur zwei lange Tische, und eine Speisekarte gab es nicht. Man nahm an einem der Tische Platz, saß oft unter Fremden oder mischte Freunde mit Fremden, wählte zwischen Fisch oder Huhn und überließ den Rest dem Wirt. Der erste Besuch, der sich von zu Hause aus zu mir nach Florenz aufmachte, war eine Frau, die - ich weiß nicht, warum - »Matubi Hühnchen« genannt wurde, eine große, blonde, schüchterne Frau, die meine Ausgelassenheiten meist mit dem Satz quittierte: »Da muss ich ja lachen!« Aber das musste sie nicht. Zu Hause hatte sie in der Dachetage über einer Konditorei gewohnt. [...]

Eine der jungen Frauen, die wie wir zwischen die Linien der beiden feindlichen Fronten geraten war, fiel unmittelbar vor unseren Füßen in Ohnmacht. Wir ergriffen sie rechtzeitig, stellten sie hinter uns aufrecht an der Wand ab und warteten, bis die Kämpfenden an uns vorbeigezogen waren. Das Gewühl verlief sich, das Mädchen erwachte, und auf beiden Seiten eingehakt, ließ sie sich zu einem Cafe in einer Seitenstraße bugsieren. Bernadette war als amerikanisches Au-pair nach Rom gekommen, auf der Suche nach etwas Künstlerischem. Gefunden hatte sie die Liebe, verloren hatte sie sie auch. In ihren Erzählungen gab diese Liebe nur noch schwache Aromastoffe ab, und indem sie ihre langen braunen Locken in Bahnen zwischen den Fingern striegelte und mit ihren Augen unsere Augen festhielt, war ihr selbst klar, dass das Leben wieder in eine Romanze einbiegen sollte, einen Coup de foudre, eine Verrücktheit, wie sie nach einer Straßenschlacht im sommerlichen Siena, an der Seite zweier Fremder, geradezu auf der Hand lag. 479/80 Als die Nacht herunterkam, hatte Bernadette keinen Schritt getan, bei dem sie nicht von uns zu beiden Seiten untergehakt gewesen wäre. Sie hatte uns paritätisch geküsst, und kaum verschwand einer auch nur kurz in einem Laden oder auf der Toilette, gab sie dem anderen einen Kuss so heftig und nass, dass er sich auserwählt fühlen musste. Ja, ihre Küsse waren verschwenderisch und maßlos, sie stürzte sich mit einem Kopfsprung in jeden einzelnen von ihnen und legte einem dabei noch die nackte Armbeuge um den Nacken, damit der Kopf ja nicht ausweichen und sie alles noch besser genießen konnte. Wenn sie einen Kuss abgeschlossen hatte, warf sie den Kopf in den Nacken und lachte guttural, was ein bisschen irr, ein bisschen schmutzig, ein bisschen stolz klang, und manchmal wischte sie sich selbst mit dem Handrücken die Lippen ab. Sie wollte uns verrückt machen, beide, und wir sollten fühlen, wie an diesen Küssen noch dieser Mädchenkörper hing, der sich schmiegte, während die Zungen sich im Rachenraum umeinanderwälzten. Kurz vor Mitternacht hatte sich die Geschichte so weit entwickelt, dass an Trennung nicht mehr zu denken war. Bernadette machte jetzt kein Hehl daraus, dass sie am liebsten unzertrennlich geblieben wäre. Wir sollten uns eine Wiese außerhalb der Stadt suchen und dort gemeinsam die Nacht verbringen. Als wir zögerten, lief sie ein paar Schritte voraus, hob ihr T-Shirt fast auf Höhe ihrer Brüste, beugte sich vor und fragte:

»Na, wer will mich?« 480/81 Männer mögen und fürchten solche Frauen, und ein wenig verachten sie sie auch. Aus Bernadette aber strahlte das Versprechen der Sommernacht heraus, und es war Verlangen genug in ihr für zwei. Peter war der Hund, der, zu allem bereit, mit den geöffneten Armen eines Jesus mir die Entscheidung überließ. Ich aber war der Feige, der mit einem »Macht ihr nur!« den Rückzug antrat und in Bernadettes Blick zweierlei erkennen konnte: ein Bedauern über den Verzicht und eine in Freundlichkeit aufgelöste Verachtung über den schamhaften Mann, der vielleicht auch nur die Konkurrenz scheute. Unser Abschied fiel deshalb von ihrer Seite so mütterlich aus, dass es fast verletzend war. Peter gab noch rasch den loyalen Freund, der immer noch bereit sei zu verzichten, schließlich gebe es Wichtigeres. Aber da waren wir schon verabredet für zwölf Uhr mittags am nächsten Tag vor dem Dom von Orvieto, und seine Begierde war jetzt schamlos und direkt. Ich bog zum Bahnhof ab. Als ich mich zum letzten Mal nach den beiden umsah, griff Peters Hand in ihren Hintern, als wolle er sagen: So macht man das, und sie warf im Gehen den Kopf in den Nacken und lachte den Nachthimmel an. Nachdem ich am Bahnhof erfahren hatte, dass der nächste Zug nach Orvieto erst im Morgengrauen fahren sollte, legte ich mich in der Wartehalle zu ein paar Rucksackreisenden in eine Ecke und schlief für Stunden, war aber rechtzeitig wach, um den Zug nach Orvieto abzupassen. Er war noch nicht eingefahren, als ein Pärchen - 481/82 zerzaust und mit verrutschten Kleidern - an den Bahnsteig torkelte - Peter sichtlich ernüchtert, Bernadette selig, aber derangiert und schräg in seinem Arm hängend, ihre Jeans mit Grasflecken bedeckt. Zum Abschied wurde sie von Peter nur noch routiniert geküsst. [...]"

Der Nordpol Einkehr (501ff.)

In diesem Juli trägt die Stadt November. Ein läppischer, kühler Nieselregen geht über Moskau nieder, und unter dem fahlen Schweinehimmel ergrauen selbst die farbenfrohen, amphitheatralisch verschachtelten Siedlungen des Speckgürtels, die Drusen der Billigbauten des Stadtrands, der ganze menschliche Ameisendom. In den Zwischenräumen aber thronen die Vestalinnen der Likör- und Handyreklamen und herrschen. Auf den Straßen unter ihnen zirkulieren die verhärmten, wenn nicht verrohten Gesichter der neuen Proletarier und der alten, die sich noch erinnern, wie es war, als die Politik in ihrem Namen sprach. Damals galt es als Auszeichnung, ein solches Gesicht zu haben, ein abgearbeitetes, erschöpftes Gesicht. Inzwischen hat die Verelendung einige Kleider und den Bart erreicht: [...]

Noch morgens hatte es leicht geregnet, jetzt laviert sich das Schiff langsam zwischen den algenbesetzten, schmutzigen Eismassiven durch und auf einen Indifferenzpunkt zu zwischen den Becken, Senken, Brüchen. Unter den hoch aufragenden, zwei bis drei Meter dicken Schollenfragmenten steht die tiefschwarze See, in die manche Platte hinabgeschoben wird, ehe sich über ihr das Eis schließt. Der Kapitän manövriert die »Yamal« nun Zentimeter für Zentimeter, auf der Brücke umlagert von den Fotografierenden, die sich drängen, die Nadelposition auf 540/41 dem Hauptkompass in den Fokus ihrer Kameras zu bringen. Das Erreichen und sekundenlange Verweilen auf 90 Grad wird mit Applaus und Glückwünschen quittiert. Dann schenkt das ungerührte russische Personal süßen Sekt aus, man stößt an, umarmt sich und wendet sich der Reling zu, hinter der die Landschaft aussieht wie seit Tagen schon. Alle suchen die Gefühle, die zum Ereignis passen. Man denkt an die historischen Reisenden, die hier jubelnd und weinend anlangten, an die Toten, die das Eis immer noch einschließt, an die vergeblich Losgezogenen, die in die Irre Gelaufenen, die Gescheiterten. Alle Anwesenden, so scheint es, haben kleine Gefühle im Vergleich zu ihren Vorgängern. Das Erhabene trillert mit dem Banalen. Es ist ein Punkt der Ausleerung erreicht, der auch zum Nordpol gehört: Nicht gewachsen sein allem, was hier liegt, nichts vermögen als zu schauen, anzukommen, aber ohne es zu wollen, den fiktiven Ort zu betreten, aber verschwindend, schon in die Rückkehr hineinstarrend, die elende Rückkehr. Der Kapitän hält eine kurze Ansprache, in der der »alte Traum vom Erreichen des Nordpols« eine Rolle spielt. »Sie alle haben ihn verwirklicht«, sagt er. Wir haben nichts verwirklicht, denken wir. Wir haben ein Schiff bestiegen und sind angekommen. Jenseits vom Pol aber, dort, wo die Krümmung der Erdkugel wieder einsetzt und die Landschaft aus dem Blick taucht, wo das Eis ungebrochen vor unserem Rumpf liegt und sich in einem großen Laissez-faire die menschenabweisende 541/42 Todeszone der Natur ausdehnt, da erstreckt sich eine Schneefläche, rein und unberührt. Wir werden sie nicht mehr betreten. Der Neujahrsmorgen in der Eifel* kommt mir wieder in den Sinn, und die Decke des Krankenhauses öffnet sich schneeweiß, und nichts ist zu hören als das Echo der Grenze.  

*  Verweis auf das 1. Kapitel mit Gespräch mit dem Jungen


30 Oktober 2025

Chinua Achebe: Things Fall Apart

  Chinua AchebeThings Fall Apart (französisch: Tout s'effondre

Deutsche Wikipedia"[...] Alles zerfällt [...] ist der erste Roman des nigerianischen Schriftstellers Chinua Achebe. Er erschien 1958 und wurde zu einem Meilenstein und zugleich Klassiker der afrikanischen Literatur. [...]"

Inhalt: Okonkwo oder Das Alte stürzt bzw. Alles zerfällt)

1. Kapitel: Okonkwos Vater war ein Versager. Das einzige, was er konnte, war Schulden machen und immer wieder, obwohl er nichts zurückzahlte. Sein Vater spielte für sein Ansehen keine Rolle. Das Sprichwort sagt: Wenn ein Kind seine Hände wäscht, kann es mit Königen essen. Und Okonkwo hatte sich die Hände gewaschen. Er war fähig. (S.3-7)

2. Kapitel: Okonkwo schämte sich für seinen Vater. Er selbst war fähig. Das einzige, was er fürchtete, so zu werden wie sein Vater. (S.8


Vgl. Chinua Achebe

27 Oktober 2025

David Graeber: Schulden: Die ersten 5000 Jahre

 David Graeber: Schulden

Vereinfachte Darstellung der Grundgedanken Graebers

Graeber hält die gegenwärtige Situation, wo Schuldverhätnisse bestehen, für ungerecht und versucht die Entstehung dieser Verhältnisse anders zu erklären als mit den herkömmlichen Theorien von Ökonomen. Dabei beruft er sich auf Beobachtungen, die er weltweit in ähnlicher Form gemacht hat.

Vorüberlegung: Jeder Mensch verdankt sehr viel seiner menschlichen Umwelt: die Eltern sorgen für ihn, bis er so weit heran gewachsen ist, dass er für sich selber sorgen kann. Darüber hinaus verdanken die Menschen aber sehr viel auch ihrer gesellschaftlichen Umgebung: die Sprache und die Regeln des wohlorganisierten Zusammenlebens ohne ständigen Streit und Streitregelung durch rohe Gewalt. Für diese Leistung der gesellschaftlichen Umwelt erwartet diese, dass man etwas an sie zurückgibt.

Durch das Geldwesen ist eine Maßeinheit geschaffen, die die Leistungen, die man der Gesellschaft leisten sollte, genau bestimmbar machte.

 Wenn es ein Maß für diese Schulden gibt, kann man fordern, dass exakt die Menge zurückgezahlt wird, die die Schuld von vorher ausmacht. (Er nimmt also an, dass es nie einen Tauschhandel gegeben hat, sondern nur Verhältnisse zwischen Menschen, wo einer etwas geleistet hat und der andere dafür eine Gegenleistung erbringen will oder soll.

Wenn ein bestimmter Betrag einsetzbar ist, dann kann man ihn nicht nur präzise bestimmen und zurückfordern, sondern man kann auch Zinsen auf den auch ausgegebenen Betrag fordern.

Damit kommt dann die Schuldknechtschaft und passend dazu die Sklaverei in die Welt.

Dazu passt, dass die Kolonisatoren von der Bevölkerung des Landes, das sie beanspruchten, ursprünglich keine Rechtfertigung hatten, von ihren Arbeit zu verlangen. Dafür mussten sie Steuern erheben, die ihrerseits in einer von den Kolonisatoren festgelegten Währung erbracht werden mussten. Dafür mussten die Kolonisierten Arbeit leisten, um das Geld, das sie zu bezahlen hatten, zu erhalten.

Soweit die Theorie: Graeber stützt sie dadurch, dass er darauf hinweist, dass Kriege es ermöglichen, den Reichtum eines anderen Volkes in Anspruch zu nehmen. Entweder, indem man ihnen ihre Werte wegnahm, oder in dem man von ihnen Personen wegnahm und sie verkaufte. Man konnte aber auch Reparationen verlangen, d.h. die Rückzahlung des Aufwandes, den der Angreifer hatte, um die anderen zu besiegen, um dann Geld von Ihnen verlangen zu können. 

Insofern wäre Wallensteins Formel: der Krieg ernährt den Krieg von Anfang an eine Devise aller Eroberer gewesen.

Graeber hat also das Ziel Befreiung von der Schuldknechtschaft und unternimmt es als Ethnologe, den Nachweis zu führen, dass überall, wo Geldwirtschaft entstand, ein aufgezwungenes Verhältnis zwischen zwei Partnern vorlag, üblicherweise das zwischen Eroberern und Unterworfenen

Allgemein wird die Notwendigkeit von staatlichen Steuern dadurch erklärt, dass der Staat Leistungen erbringt, die die Gemeinschaft braucht. Wenn aber ein Eroberer ins Land kommt, der seinerseits nicht bestehende Verhältnisse aufrecht zu erhalten versucht, sondern die Verhältnisse ändern will und dafür bezahlt werden will, dann bedarf es der abstrakten Maßeinheit für zu leistende Verpflichtungen in Waren oder Arbeit, die wir Geld nennen.

Zur Bestätigung seiner Theorie betrachtet Graeber sehr viele Beispiele an sehr vielen unterschiedlichen Ländern und Volkswirtschaften.


Weil über die Anfänge der Entstehung des Geldes wild spekuliert werden kann, ohne dass man etwas beweisen kann, führt Graeber eine andere Entwicklung ins Feld: als Öl so wichtig wurde, kamen die OEPEC-Staaten plötzlich zu sehr viel Geld, dass sie es gar nicht ausgeben konnten und deswegen es in westlichen Banken anlegten. Die Banken wussten zunächst gar nicht, was sie mit dem Geld anfangen sollten, weil nicht genügend Investitionsmöglichkeiten im Raum standen. Deshalb haben sie den damals so genannten Entwicklungsländern viel Kredit zur Entwicklung ihrer Wirtschaft angeboten, zunächst in recht niedrigen Zinsen, die sie dann aber immer weiter erhöht haben. Dadurch entstand die Schuldenfalle für die Länder des globalen Südens.
Um diese Länder aus der Schuldenfalle wieder zu erlösen, wird ein Erlassjahr gefordert oder zumindest die Aufschiebung der Rückzahlungen und der Kreditzinsen, bis die Wirtschaft zureichend, entwickelt sei.

Die Forderung, dass die Wirtschaften des Globalen Südens sich genau an die Regeln halten sollten, die von den Gläubigerländern ihnen auferlegt werden, hält Graeber für unangebracht und unzulässig. 

Ergebnisse eines Internetphilosophiekurses von Jean-Pol Martin 2010

David Graeber nennt als zentrale Fragestellung seines Buches »Schulden. Die ersten 5000 Jahre»[1] : «Was heißt das genau, zu sagen, unser Gefühl für Moral und Gerechtigkeit werde auf die Sprache eines Geschäfts reduziert? Was bedeutet es, wenn wir moralische Verpflichtungen auf Schulden reduzieren? Was ändert sich, wenn das eine zum anderen wird? Und wie sprechen wir darüber, wenn unsere Sprache so sehr vom Markt bestimmt wurde? Auf einer Ebene ist der Unterschied zwischen Verpflichtung und Schuld einfach und offensichtlich. Eine Schuld ist eine Verpflichtung, eine bestimmte Geldsumme zu zahlen. Folglich lässt sich eine Schuld anders als jede andere Form der Verpflichtung genau quantifizieren. Dadurch werden Schulden einfach, kalt und unpersönlich - und das macht sie wiederum übertragbar. Wenn man jemandem einen Gefallen schuldet oder sein Leben verdankt, ist man dieser bestimmten Person verpflichtet.» [2]

Graeber führt für seine Untersuchung basale Unterscheidungen ein: die Unterscheidung zwischen Verantwortung und Verschuldung, und die Unterscheidung zwischen Angehörigen und Fremden.

Zwischen Angehörigen besteht ursprünglich eine Beziehung der Verantwortung und Verpflichtung:

»Es herrscht die Annahme, von jedem, der nicht ausdrücklich Feind ist, könne man etwas erwarten nach dem Grundsatz »jeder nach seinen Fähigkeiten«, wenigstens bis zu einem gewissen Grad: ...» [3] Dagegen sind Fremde erst einmal Feinde, mit denen man friedfertigen Umgang erst aushandeln muss. Fremde werden verjagt, getötet oder versklavt.

Zwischen den Angehörigen einer solchen ursprünglichen Gesellschaft entfaltet sich eine Ökonomie des Gebens und Nehmens, die Graeber als »humane Ökonomie« bezeichnet. Ich hätte hier den Begriff Verpflichtungsökonomie als weniger missverständlich empfunden.

Zwischen den Angehörigen einer 'humanen Ökonomie' gibt es Kredit (man kann anschreiben lassen) und Geld (virtuelles Geld, eine Methode zu bestimmen: X entspricht sechsmal Y). In den 'humanen Ökonomien', « … [dient] Geld in erster Linie als soziales Zahlungsmittel [...], um Beziehungen zwischen Menschen zu schaffen, zu erhalten und zu trennen, und nicht dazu, Dinge zu kaufen.» [4]

Tauschen findet gelegentlich statt, normalerweise mit Fremden; Tauschen ist ein Austauschen von Geschenken – mit viel Trickserei (Tauschen = Täuschen). Dieser Vorgang zwischen (wilden) Angehörigen ist gefährlich (jeder ist "nur einen Millimeter von der Kehle aller anderen entfernt")[5]. Schon von daher verbietet sich die Annahme einer Tauschwirtschaft.

Nachdem die Verpflichtungsökonomie allmählich zerstört und durch die kommerzielle Ökonomie verdrängt worden war, werden Verantwortung, Tausch Geld und Schenken neu definiert. «Der Tauschhandel hingegen war offenbar in erster Linie eine Art zufälliges Nebenprodukt der Verwendung von Münzen und Papiergeld: Historisch betrachtet fand Tauschhandel anscheinend immer dann statt, wenn Menschen, die Transaktionen mit Geld gewohnt waren, aus dem einen oder anderen Grund keinen Zugang zu geldlichen Zahlungsmitteln hatten.» [6]

Die kommerzielle Ökonomie bestimmt nun, was «...Staat und Markt, unseren grundlegenden Vorstellungen, was Freiheit, Moral und Zusammenleben in einer Gesellschaft bedeuten. All das wurde durch eine Geschichte voller Krieg, Eroberungen und Sklaverei geprägt in einer Weise, die wir nicht einmal mehr wahrnehmen, weil wir uns die Dinge gar nicht mehr anders vorstellen können.» [7]

Der größere Teil des Buches befasst sich mit den falschen Mythen der kommerziellen Ökonomik, zentral mit dem Mythos vom Tauschhandel. Wenn man beim Lesen von David Graebers Buch nicht sorgfältig den Sprachgebrauch der kommerziellen Ökonomik, also den Sprachgebrauch, der seit spätestens Adam Smith bei der Beschreibung und Rechtfertigung von Gesellschaft, Wirtschaft, Markt und Arbeit vorherrschend ist, unterscheidet von Graebers Sprachgebrauch, bekommt man schnell Verständnisprobleme.

David Graeber stellt die Frage, warum der Tauschwirtschaftsmythos nicht verschwindet, obwohl er historisch nicht begründbar ist: «Anscheinend kann der Mythos vom Tausch nicht verschwinden, weil er für den gesamten Diskurs der Wirtschaftswissenschaften so entscheidend ist.» [8]


Kritik einzelner Thesen Graebers

Freiheit

Graeber behauptet, jedes Recht bestehe in den Verpflichtungen des anderen. "Mein Recht auf freie Meinungsäußerung ist die Verpflichtung eines anderen, mich nicht dafür zu bestrafen" [9] Wenn wir das Recht der Selbstbestimmung haben, bedeutet das, dass wir unsere Sklaven sind [10].

Jede entfremdete Arbeit bedeutet nach Graeber Sklaverei. Dass wir ihren Gewaltcharakter nicht erkennen, ist danach darauf zurückzuführen, "dass wir uns nicht mehr vorstellen können, wie eine Welt aussähe, die auf sozialen Vereinbarungen beruht, welche nicht die ständige Bedrohung durch Elektroschockwaffen und Überwachungskameras erfordern." [11]


Kritik

Seit langem ist bei uns Freiheit als durch die Freiheit des anderen begrenzt angesehen. Das heißt, die Meinungsäußerung ist nur so weit frei, wie sie nicht beleidigend ist oder zu ungesetzlichen Handlungen aufruft (weil dieses beides Freiheiten anderer einschränken würde). Der Staat kann zum Schutz dieser Freiheit aufgerufen werden.
Dagegen haben andere das Recht, uns wegen unserer Meinungsäußerungen durch soziale Ausgrenzung zu sanktionieren, so lange diese Ausgrenzung nicht unsere unmittelbaren Persönlichkeitsrechte berührt.
Auch in unserer Welt gibt es Arbeit, die wir nicht für sinnvoll halten, die wir aber aufgrund von sozialen ausführen, ohne dass ein durch physische Gewalt abgesichertes Machtverhältnis besteht.
Kurz gesagt: Graeber vertritt ein philosophisches Konzept, das durchaus nicht schlüssig hergeleitet ist und andere bestehende Konzepte stillschweigend negiert. (Walter)

Erwiderung

Um Graeber angemessen zu lesen muss man bereit sein, die 'gängige' Metaphysik (z.B. den mataphysischen Begriff 'Freiheit' wie Schiller ihn gebraucht in seinem Gedicht 'Drei Worte des Glaubens') zu dekonstruieren. Graeber: »Dass die Vorstellung von Ehre ohne die Möglichkeit der Entwürdigung keinen Sinn ergibt, zeigt eine Rekonstruktion dieser Geschichte, und das kann uns noch mehr Grund zur Beunruhigung bieten, wie stark unsere grundlegenden Konzepte von Freiheit und Moral durch Institutionen geformt wurden — vor allem, aber nicht ausschließlich durch die Sklaverei —, an die wir lieber nicht mehr erinnert werden möchten.« [12]
Schuld, Kredit, Zins

Nach Graeber gilt: "Eine Schuld ist definitionsgemäß eine schriftliche Aufzeichnung wie auch eine Vertrauensbeziehung." [13]

Kritik

Aber: "Die Ursprünge des Zinses [...] liegen vor der Schrift."[14] Er wurde für "Darlehen" erhoben.

Walter: Darlehen begründen doch offenkundig ein zahlenmäßig bestimmbare Schuld. Sonst könnte ja kein Zins berechnet werden. Was gilt also: Schriftform oder keine?

Die Einführung von Darlehen bringt (nach G.) "einen grundlegenden Mangel an Vertrauen zum Ausdruck".[15]

Walter: Setzt eine Schuld also eine Vertrauensbeziehung voraus oder einen Mangel an Vertrauen?.

Erwiderung

Der Kredit setzt immer eine Vertrauensbeziehung voraus; auf der Seite des Gläubigers mindestens das Vertrauen in die Verfügbarkeit von Mitteln, den Schuldner bei Fälligkeit zur Zahlung der Schuld zwingen zu können; auf der Seite des Schuldner das Vertrauen, bis zur Fälligkeit unbehelligt zu bleiben. Der Unterschied zwischen den den einzelnen Kreditverhältnissen besteht hauptsächlich darin, ob Gläubiger und Schuldner Nächste sind, oder Fremde. In dem Maße, in dem die Regeln der Kreditverbindungen sich an dem Usus der Fremdenkredite ausrichten reduzieren sich Menschen und Dinge zu Wertgegenständen, die einen Preis haben. Schuldner und Gläubiger sind nur noch wechselseitig am Besitz/Eigentum des Gegenübers interessiert. Graeber sieht Schulden als Indikator von gestörten Sozalbeziehungen: »Was sind Schulden denn überhaupt? Sie sind nichts weiter als die Perversion eines Versprechens, das von der Mathematik und der Gewalt verfälscht wurde. Wenn wirkliche Freiheit darin besteht, Freundschaften zu schließen, so umfasst sie zwangsläufig auch die Fähigkeit, wirkliche Versprechen abzugeben. Welche Art von Versprechen könnten wirklich freie Menschen einander geben? Heute sind wir nicht einmal in der Lage, diese Frage zu beantworten. Wir müssen erst einmal die Fähigkeit entwickeln, herauszufinden, wie solche Versprechen aussehen könnten.«[16]

Medien

David Graeber bei Maybrit Illner

Mehr zu Geldtheorie

Currency-Theorie - Joseph Huber - Richard Werner

Hier die Darstellung der Wikipedia:

"Schulden: Die ersten 5000 Jahre ist ein 2011 in englischer Sprache als Debt: The first 5,000 Years veröffentlichtes Buch des US-Amerikaners David Graeber (1961–2020), Ethnologe, Anarchist und Wirtschaftsprofessor an der London School of Economics and Political Science. Es wurde 2012 mit dem britischen Literaturpreis Bread and Roses Award for Radical Publishing ausgezeichnet und erschien im selben Jahr auf Deutsch. Graeber analysiert darin die Rolle von Schulden in der Geschichte, vor allem vor dem Hintergrund von Revolutionen und sozialen Umbrüchen, und kritisiert verschiedene grundlegende ökonomische Konzepte.

Graeber gibt als Motiv für das Verfassen des Buches an, dass Verschuldung nahezu jeden Aspekt unseres Lebens durchdringe. Er nennt hierbei Defizitfinanzierung sowie Schulden von Verbrauchern und Staat und betont, dass die meisten Menschen mindestens einen Teil des Lebens als Schuldner verbringen. Er behauptet, dass dauerhafte politische Systeme eine Lösung für die „Schuldenfalle“ finden mussten, um die Bevölkerung davor zu schützen, Sklaven oder Tagelöhner ihrer Gläubiger zu werden. Er postuliert,   Platon oder Aristoteles würden, wenn sie heute leben würden, den Großteil der US-amerikanischen   Bevölkerung heute für Schuldsklaven halten, und sagt, dass man einen Staat benötige, um eine solche Situation überhaupt zu schaffen.[1]

Zu Beginn bezieht sich Graeber etwa auf die Schriften Alfred Mitchell-Innes’ von 1913 und 1914, in welchen jener darlegt, dass die in den Wirtschaftswissenschaften vorherrschenden, axiomatischen Annahmen über die Entstehung des Geldes (z. B. die Erzählung Adam Smiths) nicht den Tatsachen entsprechen würden. Graeber meint hierzu: „Kein Historiker hat Mitchell-Innes je widerlegt. Sie ignorierten ihn kurzerhand. Die Lehrbücher blieben bei ihrer Geschichte - obwohl alles dafür sprach, dass sie schlichtweg falsch war.“[e 1]

In Schulden: Die ersten 5000 Jahre erläutert Graeber den   Mythos   des   Tauschhandels[e 2] und die ersten Vorkommen von Schulden.[e 3][2] Er beschreibt anhand von anthropologischen Studien, dass Handel mit einer einfachen Form des Kredits beginnt, nämlich dem Versprechen, die Entgegennahme von Waren später zu begleichen. Münzgeld sei erst mindestens 2000 Jahre später erfunden worden und Tauschhandel sei nur entstanden, wenn Geldsysteme zwischenzeitlich zusammenbrachen.[1] Er behauptet, die Gründung des modernen Bankensystems habe zur Finanzierung europäischer Kriege gedient und die von den Zentralbanken verwalteten Schulden seien im Grunde Kriegsschulden der Regierung.[1] Er stellt daher die Notwendigkeit der Rückzahlung von Schulden in Frage und kritisiert, dass den Entwicklungsländern der Washington Consensus aufgezwungen wurde und sie in eine schuldbasierte Abhängigkeit getrieben hat.[e 4] Hierbei hinterfragt er, warum die Moral der Schulden stärker als jede andere Art der Moral ist und sonst untolerierbares Leid akzeptabel erscheinen lässt. Zudem behandelt Graeber die moralischen Fundamente für ökonomische Beziehungen[e 5] und kritisiert den vermeintlich freien Markt. Er beschreibt hierbei Ehre und Entehrung als Grundlage der zeitgenössischen Zivilisation und Wirtschaftsordnung.[e 6] Geld sei nicht als Sache immanenten Werts zu verstehen,[2] sondern nur als Verhältnis zwischen Dingen von Wert. Indem es nicht mehr als Beziehung, sondern als eigenständiger Gegenstand betrachtet worden sei, habe Geld soziale Beziehungen korrumpiert. Vermeintliche Geldschöpfer und Geldnutzer würden mit zweierlei Maß bewertet und dies habe soziale Umstürze zur Folge:[3]

„‚Offenbar haben sich diese Leute gesagt: Wenn heute schon jeder ein Miniatur-Kapitalist werden soll, warum sollen wir dann nicht auch Geld aus nichts schaffen dürfen?‘ Jetzt erkennen sie, dass der American International Group erlaubt ist, was ihnen verwehrt ist – ein Blick auf Mesopotamien, das antike Griechenland und Rom zeigt, dass das die Inkubation sozialer Umsturzbewegungen ist. Das Schuldensystem, das auf einer ‚Schöpfung aus Nichts‘ aufgebaut ist, hat deshalb in den Augen des Anthropologen nichts mehr mit Märkten und auch nichts mit Wissenschaft zu tun (die Formeln bei AIG mussten von Astrophysikern geschrieben werden, weil sie so schwierig waren), sondern mit Theologie. Wir leben in einer Welt der doppelten Theologie, ‚eine für die Geldgeber und eine für die Schuldner‘.“

– Frank SchirrmacherEurokrise: Und vergib uns unsere Schulden. (2011)[3]

In der geschichtlichen Perspektive unterteilt Graeber die Entwicklung von Geld und Schulden in fünf Zeitalter:

  1. Die Phase der frühen städtischen Zivilisationen (ÄgyptenMesopotamienIndustalChina) etwa von 3.000 v. Chr. bis 800 v. Chr.[e 7] Aufgrund der Quellenlage behandelt Graeber hauptsächlich Mesopotamien, postuliert aber ähnliche Verhältnisse für die anderen drei Regionen. Der Handel habe auf Kreditvereinbarungen beruht, Geld sei in erster Linie eine Verrechnungseinheit gewesen. Staatliche oder religiöse Autoritäten horteten große Edelmetallschätze und Warenvorräte, die Tempel oder Depots fungierten gleichzeitig als zentrale Warenumschlagplätze. Die Verschuldung von Privatleuten führte immer wieder zu sozialen Krisen, denen durch regelmäßige allgemeine Schuldenerlasse begegnet wurde.
  2. Die „Achsenzeit[e 8] von 800 v. Chr. bis 600 n. Chr. Den Begriff „Achsenzeit“ übernimmt Graeber von Karl Jaspers, erweitert aber den Zeitraum gegenüber Jaspers erheblich. Während Jaspers die philosophischen und religiösen Entwicklungen betrachtet, stellt Graeber die wirtschaftlichen Wandlungen der Zeit in den Vordergrund und betrachtet den geistigen Wandel als deren Folge. Unabhängig voneinander, aber fast zeitgleich sei in China, in Nordindien und im Mittelmeerraum Münzgeld aus Edelmetall eingeführt worden. Dies sei jeweils in einer Phase geschehen, in der in der Region zahlreiche Kleinstaaten permanent Krieg gegeneinander führten, das Münzgeld sei von den Staaten zur Bezahlung ihrer Söldnerheere eingeführt worden, da sich das bisherige Kreditsystem dazu wenig eignete: „a heavily armed itinerant soldier is the very definition of a poor credit risk“[e 9]. Das Edelmetall habe man beschafft, indem die Heere auf ihren Feldzügen Staats- und Tempelschätze plünderten, außerdem durch den massenhaften Einsatz von Sklaven (Kriegsgefangenen) in Gold- und Silberminen. Schließlich sei eine völlig auf Sklavenarbeit beruhende Ökonomie entstanden. Schuldenerlasse wurden abgeschafft, die Verelendung verarmter freier Bürger (und daraus folgende soziale Unruhen) sei durch Aussiedlung in eroberte Gebiete oder durch direkte staatliche Alimentierung (Brot und Spiele) vermieden worden. Geistige Folge des durch Münzgeld unpersönlich gewordenen Warentausches seien materialistische Anschauungen gewesen, die Profitstreben als einzige Leitschnur menschlichen Handelns postulierten. Dagegen wandten sich idealistische philosophische und religiöse Schulen, aus denen die heutigen Weltreligionen, die klassische griechische Philosophie und der Konfuzianismus hervorgegangen seien. Diese setzten sich schließlich durch, nachdem durch die Bildung von Großreichen die Basis der Eroberungsökonomien wegfiel.
  3. Das „Mittelalter[e 10] von 600 bis 1450. Die Zeit der freien Dorfmarken des frühen europäischen Mittelalters, sowie der freien Städte, Kommunen und Stadtbünde des Hochmittelalters.
  4. Das „Zeitalter der großen kapitalistischen Imperien[e 11] von 1450 bis 1971.
  5. Graeber beendet sein Buch mit der heutigen Phase ab der Aufhebung des Goldstandards des US-Dollars am 15. August 1971, genannt „Der Anfang von etwas, das noch nicht bestimmt werden kann“ („The Beginning of Something Yet to Be Determined“).[e 12]
Rezensionen sehen das Werk im Zusammenhang mit verschiedenen sozialen Protesten seit 2011. (Proteste in Spanien 2011/2012, Arabischer Frühling, Proteste in Griechenland 2010–2012, Occupy Wall Street).[3][4][2] Die Financial Times vergleicht das Werk mit denen von Marcel Mauss, Karl Polanyi und Keith Hart.[5]

Für Frank Schirrmacher, den damaligen Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, zeigt das Buch, dass „praktisch alle Aufstände, Umstürze und sozialen Revolutionen der europäischen Geschichte […] aus einer Situation der Überschuldung entstanden“ seien. Dabei seien Schulden eine Kategorie, die nicht allein der Deutungshoheit des Systems der „scheinbar ökonomischen Realität“ überlassen werden dürfe. Denn Schulden seien im Kern „ein moralisches Prinzip und eine moralische Waffe'“, und zwar seit der Zeit Mesopotamiens ein machtgebundenes. „Käme Plato mit einer Zeitmaschine zu uns […], er würde sich nicht wundern, Menschen zu sehen, die arbeiten müssen, nicht um ihr Leben zu leben, sondern um eine Schuld zu bezahlen, für die ihr Leben gar nicht ausreicht. Zu seiner Zeit nannte man sie Sklaven.“ In der Antike etwa wurden immer wieder Schulden erlassen und das Land neu verteilt.[3]

Für Thomas Meaney in der New York Times behandelt „Graeber, in der besten Tradition der Ethnologie, Schuldenobergrenzen, Subprime-Hypotheken und Credit Default Swaps als wären sie exotische Praktiken eines selbstzerstörerischen Stammes. Das Buch, geschrieben in frechem, einnehmenden Stil, ist zudem eine philosophische Untersuchung über die Natur von Schuld – woher sie kam und wie sie entstand.“[6]

Der ehemalige Chefvolkswirt der Deutschen Bank Thomas Mayer stützt sich in seiner Analyse der Zentralbankwirtschaft im Kontext der Entstehung der Kreditwirtschaft auf Graebers Buch.[7]

Zitate aus dem Buch:

"In beiden Städten [Athen und Rom] beginnt die Geschichte mit einer Abfolge von Schuldenkrisen. In Athen ereignete sich die erste Krise, die 594 vor Chr. zu den Reformen Solons führte, schon so früh, dass die Münzprägung dabei kaum eine Rolle gespielt haben kann. Auch in Rom lag die erste Krise anscheinend vor der Entstehung der Währung. In beiden Fällen erwies sich die Münzprägung als eine Lösung. [...] Die Münzprägung spielte eine wichtige Rolle für das Überleben dieser freien Bauernschaft – diese Bauern besaßen ihr eigenes Stück Land und waren nicht durch Schuldverhältnisse an einen hohen Herrn gebunden. Die Finanzpolitik vieler griechischer Städte war im Grunde nichts anderes als ein ausgeklügeltes System der / Beuteverteilung. Kaum eine griechische Stadt verbot, exzessive  Kreditvergabe oder Schuldknechtschaft vollständig; stattdessen versuchten die Städte, das Problem mit Geld zu bekämpfen. Gold und vor allem Silber wurden im Krieg erworben oder von Sklaven, die im Krieg gefangen genommen worden waren, in Minen abgebaut. Die Münzstätten lagen in den Tempelbezirken (dem traditionellen Ort für die Aufbewahrung von Beutegut), und die Stadtstaaten fanden vielfältige Mittel und Wege, um Münzen zu verteilen, nicht nur unter den Soldaten, Seeleuten und den Herstellern der Waffen für die Schiffe, sondern auch unter der allgemeinen Bevölkerung. [...] 
Die Demagogen brauchten Geld, um die Menschen für die Teilnahme an der Versammlung und den Geschworenendienst zu bezahlen; denn wenn die Menschen daran nicht teilnahmen, drohten die Demagogen, ihren Einfluss zu verlieren. Sie konnten zumindest einen Teil dieses Geldes aufbringen, indem sie die Auszahlung jener Gelder verhinderten, die den Befehlshaber der Triremen [Kriegsschiffe] zustanden. [...] Da die Kommandeure, der Triremen nicht bezahlt wurden, konnten diese auch ihre Lieferanten und Arbeiter nicht entlohnen, die daraufhin die Kommandeure der Triremen verklagten. Um diesen Gerichtsverfahren zu entgehen, taten sich die Triremen- Kommandeure zusammen und stürzten die Demokratie.
Es war die Sklaverei, die all dies ermöglichte. [Sklaven in den Silberminen]" (Graeber: Schulden,   S.240/41)

"Viele Kirchenväter waren der Ansicht, man könne nicht gleichzeitig ein Händler und ein Christ sein. Im frühen Mittelalter war dies keine dringende Frage – vor allem, weil ein Großteil des Handels in den Händen von Ausländern lag. Die begrifflichen Schwierigkeiten hingegen wurden nie gelöst: Was bedeutete es, dass man nur 'Ausländern' Geld leihen konnte? War das einfach Zinswucher? Oder war auch der Handel gleichbedeutend mit Krieg?
Ihren wohl berüchtigsten und in vielen Fällen katastrophalen Ausdruck fand diese Frage im Hochmittelalter in den Beziehungen zwischen Christen und Juden. In den Jahrhunderten seit Nehemia hatte sich die jüdische Einstellung zum Geldverleih geändert. Unter der Herrschaft des Augustus hatte Rabbi Hillel das Sabbatjahr in totes Recht verwandelt, indem er zwei Parteien erlaubte, in einen Darlehensvertrag eine Zusatzbestimmung aufzunehmen, in der sie vereinbarten, das Sabbatjahr außer Kraft zu setzen. Obwohl verzinste Kredite weder in der Tora noch im Talmud erlaubt waren, wurden Ausnahmen im Umgang mit Nichtjuden zugelassen – vor allem, weil die europäischen Juden im Laufe des 11.und 12. Jahrhunderts von fast allen anderen Tätigkeiten ausgeschlossen wurden. Dadurch wiederum wurde es schwieriger, die Praxis verzinster Darlehen einzudämmen, was in einem beliebten Scherz aus dem 12. Jahrhundert zum Ausdruck kommt, der zur Rechtfertigung des Zinswuchers unter Juden herangezogen wurde. Der Scherz bestand offenbar darin, den Vers im 5. Buch Mose 32,21 in fragendem Ton zu zitieren, um den offenkundigen Sinn des Gebots ins Gegenteil zu verkehren: 'Von einem Ausländer darfst du Zinsen nehmen, von deinem Bruder darfst du keine Zinsen nehmen?'
Auf christlicher Seite fand die 'Ausnahme des Ambrosius' im Jahr 1140 ihren Weg in das Dekretum Gratiani, die einflussreichste Sammlung des kanonischen Rechts. Damals regelte im Wesentlichen die Kirche des Wirtschaftsleben. Man sollte meinen, damit wären die Juden außerhalb des Systems in Sicherheit gewesen, aber in der Realität lagen die Dinge nicht so einfach. Zum einen herrschte die Meinung vor, dass die 'Ausnahme' eigentlich nur für die Sarazenen oder andere galt, mit denen sich die Christenheit tatsächlich im Krieg befand, obwohl sich sowohl Juden als auch Nichtjuden, gelegentlich darauf beriefen. Schließlich lebten Juden und Christen in denselben Städten und Dörfern. Wenn man annahm, dass die 'Ausnahme' den Juden und den Christen das Recht gab, einander Geld zu Zinsen zu leihen, so bedeutete dies auch, dass sie das Recht hatten, einander zu ermorden. Zugegeben wollte das eigentlich niemand. Auf der anderen Seite kam die realen Beziehungen zwischen Christen und Juden, diesen unglücklichen Ideal, oft gefährlich nahe – wobei die tatsächlichen Morde (abgesehen von der rein wirtschaftlichen Aggression) offenkundig nur von der christlichen Seite verübt wurden." (Graeber: Schulden, S. 302/303 )