01 November 2025

Roger Willemsen. Enden der Welt

 Rezensionen bei Perlentaucher

Ich habe manche der Texte mehrmals gelesen, beeindruckt von der Fremdartigkeit dessen, was ich nicht mutig genug bin, es erleben zu wollen. Bei den Berichten aus dem Regenwald auf Borneo (S.198ff.) gewinne ich erstmals ein Verständnis für die Zusammenstellung so verschiedenartiger "Enden der Welt".

Im Himalaya geht eine alte Frau nicht um eine Kurve der Landstraße, weil sie eine zu große Angst hat vor dem dort drohenden Fremden. Willemsen geht weiter und trifft auf einen Stau und auf Zurückkehrende, weil dort im Nebel beim Aufreißen des Nebels deutlich wird, wie man da unversehens abstürzen kann. 

Mit Gibraltar sucht er eine Stelle der Welt auf, wo man sich in der Antike das Ende der Welt vorstellte, weil auf den Bereich der Küstenseefahrt des Mittelmeers die Hochseefahrt des Atlantik folgt. Dort verlässt ihn die Reisegefährtin, mit der er sich ohne große Absprachen zu einer Reise nach und durch Spanien zusammengefunden hat, ihm signalisierend, dass sie schon längst kein Interesse an irgendeiner Gemeinsamkeit mit ihm hat. Hier ist es also das Ende der antiken Vorstellungswelt und das Ende einer fast wortlosen Vertrautheit mit einem fremd gebliebenen Menschen. 

In Patagonien ist das Ende die Kälte und Unwirtlichkeit der Gegend, wo es immer weniger Menschen aushalten. 

Auf  Borneo ist es das Ende der zivilisierten Welt eine Großstadt, die nur über Wasserstraßen im Regenwald oder per Flugzeug erreichbar ist. Alle Straßen auf dem Land verlieren sich im Dschungel, in dem nur der "Vormensch" der Orang Utan sich zu Hause fühlt und durch das Mitschleppen von Saatgut die Vielfalt des Biotops zu erhalten versteht. Die Menschen, die hier Landwirtschaft betreiben, können es nur durch Brandrodung, mit der sie die Fruchtbarkeit durch Zerstörung der Biodiversität des Biotops zerstören. Nachdem sie das im Lauf von ein, zwei Jahren getan haben, ziehen sie weiter, weil nachhaltigeres Wirtschaften ihnen nicht möglich ist. 

Fast so, wie es der Menschheit nach 200 Jahren Nutzung der fossilen Energien geht, weil die nachhaltigen Energien noch nicht erlauben, den hochgezüchteten Lebensstandard für alle möglich zu machen. Multimilliardäre ziehen daraus den Schluss, das Sinnvollste sei es, die Erde zu verlassen und auf einem anderen Planeten eine Zivilisation aufzubauen, die selbstverständlich noch weniger als die Erde über 8 Milliarden Menschen zureichende Überlebensmöglichkeiten bietet. Der Vorteil, den sie suchen, ist offenbar, dass sie sich dort nicht in einer gated Community von anderen abschirmen müssen, weil der Weltraum dazwischen liegt. Vielleicht gelingt es ja einmal, die Ungleichheit auf der Erde so weit zu treiben, dass die unterdrückte Menschheit für einige wenige das Leben zu sichern versteht, so wie in Amerika das in der "Neuen Welt" besiedelte Land in den südlichen Staaten (nach Beseitigung der ursprünglichen Bevölkerung) nur mit Hilfe der von Sklaven wirtschaftlich auszubeuten war. (Dies wird von Willemsen selbstverständlich nicht so ausformuliert.)

In Timbuktu begegnet er dem Indio, der nicht bettelt, dann aber mit der unerwarteten Gabe in die Wüste flieht. Willemsen lässt es offen, was ihm die Flucht bringen wird. 

Inhalt  

Die Eifel. Aufbruch 9
Gibraltar. Das Nonplusultra 20
Der Himalaya. Im Nebel des Prithvi Highway.
Isajfördur. Der blinde Fleck, 77
God's Window. Letzter Vorhang 86
Minsk. Der Fremde im Bett 103.
Patagonien. Der verborgene Ort 118
Timbuktu. Der junge Indio, 161
Bombay. Das Orakel, 182
Tangkiling. Die Straße ins Nichts, 198 (Borneo)
Kamtschatka. Asche und Magma 222
Mandalay. Ein Traum vom Meer, 202
Der Fucciner See. Die Auszählung 285
Goree. Die Türe ohne Wiederkehr 300
Hongkong. Poste restante 335
Der Amu-Darja. An der Grenze zu Transoxanien
Tonga. Tabu und Verhängnis, 382
Toraja. Unter Toten 420
Kinshasa. Aus einem Krieg 437
Chiang Mai. Opium 457
Orvieto. Die fixe Idee, 472
Der Nordpol. Einkehr 502

Die Eifel. Der Aufbruch S.9ff.

Gibraltar S.20 ff

»Aber damit ist die Grenze des Nonplusultra doch schon überwunden«, widersprach Christa. »Genau, und deshalb lautete die Devise von KarlV auch Plus ultra! Und das, seit klar war, dass das Nonplusultra eben nicht das Ende der geographischen Welt bedeutete. Also: Plus ultra!«, rief ich noch und schnalzte mit der Zunge. »Dann ist dies jetzt der richtige Augenblick, dir zu sagen, dass ich hier umkehren werde«, antwortete sie und betrachtete mein verblüfftes Gesicht wie ein Exponat. »Hat sich deine Neugier erschöpft?« »Du hast sie erschöpft. Aber nimm's nicht persönlich.« Stunden später nahm sie den Zug nach Madrid, wo sie bei Freunden übernachten konnte. Ich brachte sie zum Gleis, wo wir uns zum Abschied tapfer auf den Mund küssten, um nicht zu gutmütig zu enden. Am nächsten Tag ließ ich die Säulen des Herkules hinter mir, erreichte Tanger und betrat ganz allein die jenseitige Welt.


Der Himalaya. Im Nebel des Prithvi Highway.
»Sagen Sie doch: Was erwartet uns auf der anderen Seite?« »Ich weiß es nicht.« »Aber Sie leben doch hier!« »Ich war nie dort.« »Warum nicht?« / Vor vielen Jahren, erzählt sie, träumte ihr, sie solle nicht um diese Kurve gehen, »von wegen dem Unglück, das passieren könne«, radebrecht sie in ihrem unbeholfenen Englisch. Und die Neugier? Die Neugier bedeute ihr nichts? »Nichts«, sagt sie. »Nach meinem Tod kann ich immer noch nachsehen.« Da es aber ein Leben vor dem Tod gibt und wir eine Weile ungestört und ganz vertraut miteinander geredet haben, darf ich schließlich doch ihre Hand nehmen, und so, in meine beiden Hände ihre federleichte Altfrauenhand nehmend, staksen wir beide aus dem Hüttchen an den Straßenrand, über den mit Pfützen bedeckten Kiesplatz, und tun Schritt für Schritt auf die Kurve zu. Und wenn ihr etwas zustoßen sollte, und wenn sich die Weissagung des Traums doch noch erfüllte? »Wir tun es wirklich, sehen Sie«, sage ich. Sie nickt voller Selbstvertrauen, ihr Gesicht strahlt, und ihre Hand hat jetzt die meine auch ihre Hand hat jetzt die meine auch fest gepackt. Wir gehen synchron, ein wenig humpelnd, aber synchron. Kurz vor dem Scheitelpunkt der Kurve sind wir schon angelangt, als die Greisin stehenbleibt. Sie lacht, als könne sie das nur stehend, löst ihre Hand aus der meinen, schlägt mir herzlich auf den Rücken und schnattert: »Du glaubst doch nicht, ich habe ein Leben lang auf dieser Seite der Kurve zugebracht, um jetzt mal eben so auf die andere Seite zu gehen!« So kehren wir um, und sie lacht und lacht, jetzt auch im Gehen, ist doch ihr Aberglauben um so vieles stärker als die schnöde Vernunft eines Durchreisenden aus Europa, eines blamierten Durchreisenden, der das andere Ende der Kurve für sich behalten soll, die Seite mit den ungeahnten Gefahren, den Bedrohungen des Greisinnen-Lebens. 

Als wir dann aufbrechen, die Hand der Greisin eher abwinkend als winkend hinter uns, als wir also wirklich um die Kurve kommen, stoßen wir zuerst auf einen weißen Büffel, der seinen riesigen Körper von einer Straßenseite zur anderen schaukelt. »Das Phlegma der Büffel ist das der Kamele«, sagt Monika, die schon Hilfsorganisationen in Afrika gründete, so wie jetzt in Nepal. Wir sind keine zwanzig Minuten gefahren, da kommt unser Wagen ganz zum Stehen. Ein Menschenauflauf, ein sozialer Entzündungsherd: Im Zentrum ein Bräutigam mit schmalem Oberlippenbart, Käppchen, Brauen und Wimpern kohlschwarz. Hinter ihm schwankt am Arm der Mutter die Braut, den jungen Kopf tief geneigt in den Schatten eines rosa Regenschirms, damit man sie nicht sehe. Doch nicht deshalb haben alle angehalten. Weiter weg, weiter oben muss »etwas« passiert sein. Der erste Regen fällt sogleich: Tropfen, die kaum die Zweige streifen und schon im Boden aufgehen, wie im Zeitraffer Keim, Rispe, Zweig werden und wiederum den Regen aufnehmen wollen. Die Kolonne der Fahrzeuge steht nicht nur still, die Motoren werden abgeschaltet. Mit kleinen melodischen Phrasen setzen sich die Vögel im ersterbenden Regen durch. Die Straße windet sich, niemand weiß, hinter wie vielen Kurven diesmal die Sperre wartet oder der Ernstfall. Ein Emissär wird losgeschickt. Die Zurückbleibenden treten an die Böschung zum Tal und tauschen Verlegenheiten vor der Aussicht. Wir sitzen auf dem Querbalken eines Viehgatters über der Ebene, die aussieht wie die Landschaft eines flämischen Meisters. Jemand erzählt von einem Mann und seiner Vorliebe für Käsestangen. Meine Gedanken kommen nicht los von der Familie der Greisin auf der anderen Seite der Bergschlaufe. Wenn unser Stau sich weiter dehnt, wird sein Ende unsere Kurve erreichen, und die Alte wird sagen: Nichts Gutes erwartet die Menschen hinter diesem Berg, nichts Gutes liegt da oben an der Straße. Unser Fahrer Rajiv dagegen fürchtet, dieses Mal seien es nicht die Maoisten, nein, es könnte schon wieder ein Unfall sein, der zur Straßensperre führte. »Ich hatte schon vier Tote im Wagen«, sagt Monika. »Rajiv hielt eine Frau in seinem Schoß und streichelte ihr den Kopf, aber da war sie längst tot. >Kümmere dich lieber um die hier<, habe ich ihm gesagt, denn da war ja noch diese junge Frau, >die atmet noch<.« Aber auch sie hatte es am Ende nicht geschafft. Aus dem Tal heben sich schwerfällig die dicksten Nebel, Wolken und Flüsse erscheinen. Der Mitarbeiter von Monikas Organisation sagt: »... dem gab man ein Glas Wein und ein paar Käsestangen, da war er glücklich.« Der Nebel wabert, das Gerede stockt. [...]

 Mit verzerrten Gesichtern treten die Rückkehrer aus dem Grau der Steilwand heraus, Gepäckstücke, Kanister, Textilien in den Händen. Ein Mann schüttelt nur immerfort den Kopf, die Rechte fasst mit Daumen und Zeigefinger in die inneren Augenwinkel, als müsse er sich konzentrieren, in der Linken schlenkert ein orangefarbenes Barett. Die Heraustretenden machen abwehrende Gesten. »Geht da nicht hin!« »Gott, das Motorrad...« Die in den Dunst laufen, werden farblos, dann zu Scheiben, zu bloßen Silhouetten, die wie durch eine Ausstanzung in der Nebelwand verschwinden. Jetzt erscheinen die Menschen ja schon selbst wie aus Nebelmasse geformt, sie verlieren sogar ihre Dreidimensionalität und kehren ins Schattenreich ein. Das Relief des Körpers verflacht, die Farben verschießen, die Silhouetten finden ihren Eingang in der Nebelwand und passieren. Zuletzt sind sie nur noch eine dunkle Aussparung im Nachtatem und treten durch diesen hindurch. Vor uns liegt das Jenseits, hinter uns die verbotene Kurve, in unserem Rücken der einschüchternde Himalaja. Wir ducken uns zwischen diese Steilwände als die Verschonten. (S.71-76)

Patagonien Der verbotene Ort  S.118ff. 

Ich reise aus einer Jahreszeit, die kommt, in eine Jahreszeit, die geht. Der Herbst Patagoniens aber hat mehr Mai in sich als unser März. Ich breche auf und denke an die allgemeine Erschöpfung, in die ich hineinreise, an die Gesten des Scheidens, Ablassens, Ermüdens und Kapitulierens in der Natur. Eine Reise führt fast immer irgendwo an die Abbruchränder zum Unvertrauten, dessen Vergangenheit und dessen Fortleben man nicht kennt. Zu Hause tritt man in die Erzählung wieder ein, aber auch sie ruckt und stockt zunächst, war man nur für eine Weile nicht ihr Zeitzeuge. Es gibt auf allen Reisen diese Stimmung, in der der Ausstieg dominiert. Noch ist man nirgends angekommen, noch möchte man nirgends ankommen. Fort will man sein, entkernt, gern heimatlos. Der Abschied vom Gewohnten korrespondiert mit den Durchgangs- und Warteräumen, in denen die Fremden schon präsent sind, ihre Erdteile einfließen lassen, sich zu einer Gesellschaft der internationalen Gesichter zusammenschließen und dahinter einfach das sind: müde, ungeschminkte, ambitionslos wirkende Gesichter. [...]" (S.113)

Tangkiling.* Die Straße ins Nichts, 198

"Als ich der Familie beim Abendessen erzählte, dass ich am liebsten auf einem Boot nach Palangkaraya reisen würde, breiteten sie eine Karte aus, und wir fuhren mit den Fingern Ströme abwärts, Ströme, Verästelungen und Mündungen, den ganzen Aderlauf des tropischen Regenwalds entlang, um am Ende aller dieser Kapillare den Knotenpunkt zu finden, der »Palangkaraya« heißt. Am nächsten Tag mieten sie einen Steuermann und einen Maschinisten und ich gehe an Bord eines Bootes. Mehrmals schieben sich während der Fahrt meterlange Schlangen und Krokodile ins Wasser. Sobald sich eine Wasserpflanze in unsere Schiffsschraube flicht, springt der Bootsmann trotzdem mit der Machete bewaffnet in die undurchsichtige Brühe und befreit uns in mehreren Tauchgängen, während der Maschinist von oben aufpasst, dass sich kein Angreifer nähert. Ehemals Feinde der Primaten, sind die Schlangen und Krokodile heute selbst bedroht. Ihr Hauptfeind ist auch der des Orang Utans: der Mensch. Am Strom winden sich Schlangen durch das vom Niedrigstand des Wassers freigelegte Wurzelwerk. An manchen Bäumen erkennt man die Markierungen der irgendwo im Busch lebenden Volksstämme, die so ihr Territorium bezeichnet haben. Einige wohnen sogar in den Bäumen, andere auf Lichtungen oder an nahen Bachläufen. Sie leben animistisch. Auch Anthropophagen, kannibalistische Stämme mit der Neigung, zum Schutz gegen Dämonen den menschlichen Skalp an der Außenwand des Hauses anzubringen, soll es bis in die fünfziger Jahre hinein auf Borneo gegeben haben. Doch nie verstummen die Geschichten, die Ähnliches noch für die jüngste Vergangenheit behaupten. In Palangkaraya aber, der erst 1957 gegründeten Hauptstadt von Zentralkalimantan, kann man fotokopieren und technische Apparate kaufen. Hier gibt es vier Kinos, aber Straßenbeleuchtung noch nicht lange. Es gibt ein großes Krankenhaus, aber nur einen Chirurgen für alle, die tagelang in ihren Einbäumen wegen einer Blinddarmoperation oder der Behandlung einer Schnittverletzung hierher unterwegs sind. Es gibt Banken, aber noch nicht lange solche, die Schecks oder Dollar akzeptieren. Es gibt Computerspezialisten und korrespondierende Mitglieder wissenschaftlicher Zeitschriften, aber nicht selten sind es dieselben, deren Glaubenspraxis rituelle Schlachtungen und Trance-Tänze einschließt. Der letzte Gouverneur der Region, immerhin im Rang eines Ministerpräsidenten, verfügte testamentarisch, sein Sarg solle aus dem Holz eines sogenannten »Herzbaums« gefertigt werden, eines Baums also, bei dessen Pflanzung in der Wurzel ein menschliches Herz eingesetzt wurde. Die Einheimischen merken sich im Urwald solche Bäume, [...]" (S.204/05)

"Seine Fruchtbarkeit verdankt der tropische Regenwald Borneos also nicht primär dem Boden. Sie liegt vielmehr in der Luft, im Blattgrün, in den zahllosen symbiotischen Verbindungen zwischen Pflanzen und Tieren. Vierzig Meter über dem Boden wachsen in toten Bäumen Sträucher und Blumen aus den verlassenen Nestern der Orang Utans. Kerne, verfaulte Früchte, Kot und vermodernde Zweige mischen sich zum Kompost und lassen neue Mikrokosmen entstehen mit einem hoch verletzlichen inneren Gleichgewicht. 

Die Schwestern erzählten mir auch von der Straße von Palangkaraya. Im wilden Herzen Borneos gibt es Pfade und Traumpfade, keine Straßen. Die Ansiedlungen im Dickicht aus Macchie und tropischem Regenwald, die Haufendörfer an den breiten grauen Strömen sind nur durch Wasserwege oder die unsicheren Luftrouten lokaler Fluggesellschaften miteinander verbunden." (S.209)

Der Fuciner See 

Die Auszehrung 

Um die Mitte der achtziger Jahre arbeitete in der Wiener Nationalbibliothek zäh und zehrend eine junge Frau mit schwarzem Pagenkopf. Allmorgendlich wuchtete sie einen gewichtigen Stapel Bücher auf den immer selben Tisch und schleppte ihn abends an den immer selben Schalter zurück. Ablenken ließ sie sich nicht. Die Einzigen, die ihre Stimme hörten, waren die Bibliotheksdiener, die ihr die Bücher aushändigten und diese abends wieder in Empfang nahmen. Niemand lud sie zum Kaffee ein, niemand hielt ein Schwätzchen mit ihr, und da ich zwei Tische hinter ihr saß, kann ich sagen: Sie hat auch selbst niemanden eingeladen oder von seinem Tisch abgeholt. Blass war sie, und dennoch weiß gepudert, ließ sich nie ohne campariroten Lippenstift sehen und musste sich schon in ihren späten Zwanzigern die Haare färben. Rabenschwarz. Vor den Zudringlichkeiten anderer Geistesarbeiter bewahrte sie nicht ihr etwas skurriles Aussehen oder ihr abweisender, beinahe höhnischer Habitus, und auch nicht ihr Arbeitseifer, der kein Eifer war, sondern ein Brennen, eine Wut, ein Sich-Verzehren.[...]

Kafka höhlte ihr Leben aus und bewegte sich in ihr, und wenn sie ihn ihren »geistigen Vater« nannte, tat sie es nicht, ohne den leiblichen Vater herabzusetzen, der als abruzzesischer Gastarbeiter nach Österreich gekommen war - in ihren Worten ein verachtenswerter, dort nie heimisch gewordener Mann, der sich in ihrer Kindheit Zweideutigkeiten mit ihr erlaubt hatte. Zweideutig auch, wie sie davon sprach, denn manchmal wirkte es, als wünschte sie, es sei so gewesen, damit sie einen Grund hätte, nach dem frühen Tod der Mutter nun auch den Vater von sich abzutrennen, um Platz für Kafka zu schaffen. Eine Zeitlang sahen wir uns regelmäßig. Es war immer unkonventionell, immer anregend mit ihr. Man schlief wenig, und gedanklich war alles erlaubt. Einmal erläuterte sie mir das Motiv des Hungerns bei Kafka: Es sei kein Hungern im materiellen oder sozialen Sinn, auch habe es mit dem Verlangen, der Not, dem Begehren nichts zu tun, vielmehr versuche sich der Hungerkünstler zu revidieren, also seine Existenz auszutrocknen, um sie am Ende wie eine Haut abstreifen zu können. »Es handelt sich um Selbstaufgabe als Bedingung der Selbsterschaffung. Er muss sich verlieren, um sich gewinnen zu können. Aber er kann es nicht mit einem Mal, [...]

Goree, S.300ff.

Die Tür ohne Wiederkehr 

Die Insel der Seligen ist unterkellert. Man weiß es, doch sieht man es nicht, wenn man mit einem kleinen Boot im Hafen von Dakar ablegt und auf diesen bloß drei Kilometer entfernten Festungsfelsen zufährt, die schreckliche Idylle, die zuerst bloß »Ber« hieß, später »IIa de Palma«. Die britischen Besatzer tauften sie »Cape Coast Castle«, und erst die Franzosen nannten sie schließlich Goree, den »guten Hafen« oder auch »Goree, die Glückliche«, aber das war schon zu der Zeit, als die Schiffe mit den aneinandergeketteten Sklaven über den Atlantik kamen und sich kaum jemand glücklich schätzte, Goree zu erreichen. Alle zwanzig Minuten geht heute die Fähre aus Dakar. Die Frauen auf dem Schiff in ihren prachtvollen Bubus balancieren auf den Köpfen Südfrüchte, Zucker, Süßkartoffeln, Obst. Wo sie ankommen, wohnen heute auf einem Felsen, der einmal fünftausend Einwohner beherbergte, noch etwa tausend. Von denen liegen an diesem Mittag die einen in Hängematten, die anderen flanieren unter der wehenden Wäsche über den Gassen, die Dritten lagern in der Wiese über den freilaufenden Schafen, 

Orvieto Die fixe Idee S.472ff.

"Die Trattoria Giusti in der Via Giuseppe Giusti war die Küche vieler, die in den späten siebziger Jahren in Florenz studierten oder als Langzeitreisende in der Stadt gestrandet waren. Ich studierte am Kunsthistorischen Institut und verdiente mein Geld als Reiseleiter. Meine Freunde waren zwei weitere Studenten, ein Uffizien-Wärter, eine sienesische Apothekertochter und ein kanadisches Journalistenpärchen. In der Trattoria standen nur zwei lange Tische, und eine Speisekarte gab es nicht. Man nahm an einem der Tische Platz, saß oft unter Fremden oder mischte Freunde mit Fremden, wählte zwischen Fisch oder Huhn und überließ den Rest dem Wirt. Der erste Besuch, der sich von zu Hause aus zu mir nach Florenz aufmachte, war eine Frau, die - ich weiß nicht, warum - »Matubi Hühnchen« genannt wurde, eine große, blonde, schüchterne Frau, die meine Ausgelassenheiten meist mit dem Satz quittierte: »Da muss ich ja lachen!« Aber das musste sie nicht. Zu Hause hatte sie in der Dachetage über einer Konditorei gewohnt. [...]

Eine der jungen Frauen, die wie wir zwischen die Linien der beiden feindlichen Fronten geraten war, fiel unmittelbar vor unseren Füßen in Ohnmacht. Wir ergriffen sie rechtzeitig, stellten sie hinter uns aufrecht an der Wand ab und warteten, bis die Kämpfenden an uns vorbeigezogen waren. Das Gewühl verlief sich, das Mädchen erwachte, und auf beiden Seiten eingehakt, ließ sie sich zu einem Cafe in einer Seitenstraße bugsieren. Bernadette war als amerikanisches Au-pair nach Rom gekommen, auf der Suche nach etwas Künstlerischem. Gefunden hatte sie die Liebe, verloren hatte sie sie auch. In ihren Erzählungen gab diese Liebe nur noch schwache Aromastoffe ab, und indem sie ihre langen braunen Locken in Bahnen zwischen den Fingern striegelte und mit ihren Augen unsere Augen festhielt, war ihr selbst klar, dass das Leben wieder in eine Romanze einbiegen sollte, einen Coup de foudre, eine Verrücktheit, wie sie nach einer Straßenschlacht im sommerlichen Siena, an der Seite zweier Fremder, geradezu auf der Hand lag. [479/80] Als die Nacht herunterkam, hatte Bernadette keinen Schritt getan, bei dem sie nicht von uns zu beiden Seiten untergehakt gewesen wäre. Sie hatte uns paritätisch geküsst, und kaum verschwand einer auch nur kurz in einem Laden oder auf der Toilette, gab sie dem anderen einen Kuss so heftig und nass, dass er sich auserwählt fühlen musste. Ja, ihre Küsse waren verschwenderisch und maßlos, sie stürzte sich mit einem Kopfsprung in jeden einzelnen von ihnen und legte einem dabei noch die nackte Armbeuge um den Nacken, damit der Kopf ja nicht ausweichen und sie alles noch besser genießen konnte. Wenn sie einen Kuss abgeschlossen hatte, warf sie den Kopf in den Nacken und lachte guttural, was ein bisschen irr, ein bisschen schmutzig, ein bisschen stolz klang, und manchmal wischte sie sich selbst mit dem Handrücken die Lippen ab. Sie wollte uns verrückt machen, beide, und wir sollten fühlen, wie an diesen Küssen noch dieser Mädchenkörper hing, der sich schmiegte, während die Zungen sich im Rachenraum umeinanderwälzten. Kurz vor Mitternacht hatte sich die Geschichte so weit entwickelt, dass an Trennung nicht mehr zu denken war. Bernadette machte jetzt kein Hehl daraus, dass sie am liebsten unzertrennlich geblieben wäre. Wir sollten uns eine Wiese außerhalb der Stadt suchen und dort gemeinsam die Nacht verbringen. Als wir zögerten, lief sie ein paar Schritte voraus, hob ihr T-Shirt fast auf Höhe ihrer Brüste, beugte sich vor und fragte: »Na, wer will mich?« [480/81] Männer mögen und fürchten solche Frauen, und ein wenig verachten sie sie auch. Aus Bernadette aber strahlte das Versprechen der Sommernacht heraus, und es war Verlangen genug in ihr für zwei. Peter war der Hund, der, zu allem bereit, mit den geöffneten Armen eines Jesus mir die Entscheidung überließ. Ich aber war der Feige, der mit einem »Macht ihr nur!« den Rückzug antrat und in Bernadettes Blick zweierlei erkennen konnte: ein Bedauern über den Verzicht und eine in Freundlichkeit aufgelöste Verachtung über den schamhaften Mann, der vielleicht auch nur die Konkurrenz scheute. Unser Abschied fiel deshalb von ihrer Seite so mütterlich aus, dass es fast verletzend war. Peter gab noch rasch den loyalen Freund, der immer noch bereit sei zu verzichten, schließlich gebe es Wichtigeres. Aber da waren wir schon verabredet für zwölf Uhr mittags am nächsten Tag vor dem Dom von Orvieto, und seine Begierde war jetzt schamlos und direkt. Ich bog zum Bahnhof ab. Als ich mich zum letzten Mal nach den beiden umsah, griff Peters Hand in ihren Hintern, als wolle er sagen: So macht man das, und sie warf im Gehen den Kopf in den Nacken und lachte den Nachthimmel an. Nachdem ich am Bahnhof erfahren hatte, dass der nächste Zug nach Orvieto erst im Morgengrauen fahren sollte, legte ich mich in der Wartehalle zu ein paar Rucksackreisenden in eine Ecke und schlief für Stunden, war aber rechtzeitig wach, um den Zug nach Orvieto abzupassen. Er war noch nicht eingefahren, als ein Pärchen - 481/82 zerzaust und mit verrutschten Kleidern - an den Bahnsteig torkelte - Peter sichtlich ernüchtert, Bernadette selig, aber derangiert und schräg in seinem Arm hängend, ihre Jeans mit Grasflecken bedeckt. Zum Abschied wurde sie von Peter nur noch routiniert geküsst. [...]" (S.479-82)

Der Nordpol Einkehr (501ff.)

In diesem Juli trägt die Stadt November. Ein läppischer, kühler Nieselregen geht über Moskau nieder, und unter dem fahlen Schweinehimmel ergrauen selbst die farbenfrohen, amphitheatralisch verschachtelten Siedlungen des Speckgürtels, die Drusen der Billigbauten des Stadtrands, der ganze menschliche Ameisendom. In den Zwischenräumen aber thronen die Vestalinnen der Likör- und Handyreklamen und herrschen. Auf den Straßen unter ihnen zirkulieren die verhärmten, wenn nicht verrohten Gesichter der neuen Proletarier und der alten, die sich noch erinnern, wie es war, als die Politik in ihrem Namen sprach. Damals galt es als Auszeichnung, ein solches Gesicht zu haben, ein abgearbeitetes, erschöpftes Gesicht. Inzwischen hat die Verelendung einige Kleider und den Bart erreicht: [...]

Noch morgens hatte es leicht geregnet, jetzt laviert sich das Schiff langsam zwischen den algenbesetzten, schmutzigen Eismassiven durch und auf einen Indifferenzpunkt zu zwischen den Becken, Senken, Brüchen. Unter den hoch aufragenden, zwei bis drei Meter dicken Schollenfragmenten steht die tiefschwarze See, in die manche Platte hinabgeschoben wird, ehe sich über ihr das Eis schließt. Der Kapitän manövriert die »Yamal« nun Zentimeter für Zentimeter, auf der Brücke umlagert von den Fotografierenden, die sich drängen, die Nadelposition auf 540/41 dem Hauptkompass in den Fokus ihrer Kameras zu bringen. Das Erreichen und sekundenlange Verweilen auf 90 Grad wird mit Applaus und Glückwünschen quittiert. Dann schenkt das ungerührte russische Personal süßen Sekt aus, man stößt an, umarmt sich und wendet sich der Reling zu, hinter der die Landschaft aussieht wie seit Tagen schon. Alle suchen die Gefühle, die zum Ereignis passen. Man denkt an die historischen Reisenden, die hier jubelnd und weinend anlangten, an die Toten, die das Eis immer noch einschließt, an die vergeblich Losgezogenen, die in die Irre Gelaufenen, die Gescheiterten. Alle Anwesenden, so scheint es, haben kleine Gefühle im Vergleich zu ihren Vorgängern. Das Erhabene trillert mit dem Banalen. Es ist ein Punkt der Ausleerung erreicht, der auch zum Nordpol gehört: Nicht gewachsen sein allem, was hier liegt, nichts vermögen als zu schauen, anzukommen, aber ohne es zu wollen, den fiktiven Ort zu betreten, aber verschwindend, schon in die Rückkehr hineinstarrend, die elende Rückkehr. Der Kapitän hält eine kurze Ansprache, in der der »alte Traum vom Erreichen des Nordpols« eine Rolle spielt. »Sie alle haben ihn verwirklicht«, sagt er. Wir haben nichts verwirklicht, denken wir. Wir haben ein Schiff bestiegen und sind angekommen. Jenseits vom Pol aber, dort, wo die Krümmung der Erdkugel wieder einsetzt und die Landschaft aus dem Blick taucht, wo das Eis ungebrochen vor unserem Rumpf liegt und sich in einem großen Laissez-faire die menschenabweisende 541/42 Todeszone der Natur ausdehnt, da erstreckt sich eine Schneefläche, rein und unberührt. Wir werden sie nicht mehr betreten. Der Neujahrsmorgen in der Eifel* kommt mir wieder in den Sinn, und die Decke des Krankenhauses öffnet sich schneeweiß, und nichts ist zu hören als das Echo der Grenze.  

*  Verweis auf das 1. Kapitel mit Gespräch mit dem Jungen