14 August 2017

Wieland: Die Geschichte vom Emir 1. Teil (in: Der goldene Spiegel)

Der Philosoph Danischmend erzählt dem Sultan Schach-Gebal eine Geschichte, hat sich dabei aber nach den Anforderungen des Sultans zu richten, der ihm, je nach dem, wie ihm die Erzählung gefällt, Prügel androht oder Geld auszahlen lässt. Die Haupterwartung des Sultans ist, dass er danach gut schlafen kann. Jedes Gähnen des Sultans ist also ein Erfolg.

"[...] Schach-Gebal nickte ein sultanisches Ja, und der Philosoph fing also an.
»Zu den Zeiten des Kalifen Harun Al Raschid« – –
»Fi, Herr Doktor«, unterbrach ihn der Sultan, »das fängt verdächtig an! Sobald man diesen Kalifen nennen hört, kann man sich nur gleich auf Genien und Verwandlungen gefaßt halten, oder auf platte Historien von kleinen Buckligen, schwatzhaften Barbierern, und liederlichen Königssöhnchen, welche, um eine lange Reihe begangener Torheiten mit einem würdigen Ende zu krönen, sich die Augenbraunen abscheren und Kalender werden
»Ich stehe Ihrer Hoheit mit meinen Augenbraunen dafür«, sagte Danischmend, »daß weder Bucklige noch Kalender in meiner Erzählung vorkommen, und daß alles so natürlich darin zugehen soll, als man es nur wünschen kann.
Zu den Zeiten des besagten Kalifen also begab sich, daß ein reicher Emir aus Yemen auf seiner Rückreise von Damask das Unglück hatte, in den Gebirgen des felsigen Arabiens von Räubern überfallen zu werden, welche so unhöflich waren, sein Gefolge niederzusäbeln, und nachdem sie die schönen Frauen, die er zum Staate mit sich führte, nebst allen Kostbarkeiten, die er bei sich hatte, zu Handen genommen, sich so schnell, als sie gekommen waren, wieder ins Gebirge zurück zogen. Glücklicher Weise für den Emir war er gleich zu Anfang des Gefechtes in Ohnmacht gefallen; ein Umstand, der so viel wirkte, daß die Räuber sich begnügten, ihm seine schönen Kleider auszuziehen, und ihn, ohne sich zu bekümmern ob er wirklich tot sei, unter den Erschlagenen liegen zu lassen.« [...]
»so kam der gute Emir wieder zu sich selbst, und stellte sehr unangenehme Betrachtungen an, da er sich in einem wilden unbekannten Gebirge auf einmal ohne Zelten, ohne Geräte, ohne seine Weiber und Verschnittenen, ohne Küche, und sogar ohne Kleider befand; er, der von dem ersten Augenblicke seines Lebens, dessen er sich erinnern konnte, an allen ersinnlichen Gemächlichkeiten niemals einigen Mangel gelitten hatte. [...]
»Von allen diesen Betrachtungen des Emirs (welche zu verworren und unangenehm waren, als daß es ratsam sein könnte, sie Ihrer Majestät vorzulegen) war das Ende, daß er sich entschließen mußte, eine Sache zu tun, die ihn aus Mangel der Gewohnheit sehr hart ankam, nämlich seine Beine in Bewegung zu setzen, und zu versuchen, ob er irgend einen Weg aus dieser Wildnis finden möchte. Die Sonne neigte sich schon stark, als er endlich mit unbeschreiblicher Mühe einen Ort erreichte, wo das Gebirge sich öffnete, und ihm die Aussicht in ein Tal zu genießen gab, welches seine Einbildung selbst sich nicht reizender hätte schaffen können. Der Anblick einiger wohl gebauten Wohnungen, die zwischen den Bäumen aus dem schönsten Grün hervorstachen, ermunterte ihn seine letzten Kräfte zusammen zu raffen, um diese Wohnungen wo möglich noch vor Untergang der Sonne zu erreichen. In der Tat war der ganze Weg, den er schon zurückgelegt und den er noch vor sich hatte, nicht um zehen Schritte mehr, als was ein junger Landmann alle Tage morgens und abends ohne Murren unternimmt, um seinem Mädchen einen Kuß zu geben; aber für die schlaffen Sehnen und marklosen Knochen des Emirs war dies eine ungeheure Arbeit. Er mußte sich so oft niedersetzen, um wieder zu Atem zu kommen, daß es finstre Nacht wurde, eh er die Pforte der nächsten Wohnung erreichte, die einer Art von ländlichem Palast ähnlich sah, aber nur von Holze gebaut war. Ein angenehmes Getöse, aus Gesang, Saitenspiel und andern Zeichen der Fröhlichkeit vermischt, welches ihm schon von fern aus diesen Wohnungen entgegen kam, vermehrte seine Verwundrung, alles dies mitten in dem ödesten Gebirge zu finden. Da er keine andre Belesenheit als in Geistermärchen hatte, so war sein erster Gedanke, ob nicht alles, was er sah und hörte, ein Werk der Zauberei sei. So furchtsam ihn dieser Gedanke machte, so überwog doch endlich das Gefühl seiner Not. Er klopfte an, und bat einen Hausgenossen, welcher heraus kam um zu sehen was es gäbe, mit einer so wunderlichen Mischung von Stolz und Demut um die Nachtherberge, daß man ihn vermutlich abgewiesen hätte, wenn die Gastfreiheit ein weniger heiliges Gesetz bei den Bewohnern dieser Gegend gewesen wäre. Der Emir wurde mit freundlicher Miene in einen kleinen Saal geführt, wo man ihn ersuchte, sich auf einen unscheinbaren aber sehr weich gepolsterten Sofa niederzulassen. In wenigen Augenblicken erschienen zwei schöne Jünglinge, um ihn in ein Bad zu führen, wo er mit ihrer Beihülfe gewaschen, beräuchert, und mit einem netten Anzuge von dem feinsten baumwollenen Zeuge bekleidet wurde. Damit ihm die Weile nicht zu lang würde, trat ein niedliches Mädchen, so schön als er jemals eines in seinem Harem gehabt hatte, mit einer Theorbe in der Hand herein, setzte sich ihm gegenüber, und sang ein Lied, aus dessen Inhalt er so viel abnehmen konnte, daß man über die Ankunft eines so angenehmen Gastes sehr erfreut sei. [...]
 Der ganze Saal war mit großen Blumenkränzen behangen, die von etlichen jungen Mädchen von Zeit zu Zeit mit frischem Wasser angespritzt wurden. Alles dies zusammen genommen machte einen sehr angenehmen Anblick; aber es war nicht das Schönste, was sich seinen Augen in diesem bezauberten Orte darstellte. Ein ehrwürdiger Greis, mit silberweißen Haaren, lag, in der Stellung einer gesunden und vergnüglichen Ruhe nach der Arbeit, auf dem obersten Platze des Sofas; ein Greis, wie der gute Emir weder jemals einen gesehen, noch für möglich gehalten hatte daß es einen solchen geben könnte. Munterkeit des Geistes glänzte aus seinen noch lebhaften Augen; achtzig Jahre eines glücklichen Lebens hatten nur schwache Furchen auf seiner heiter ausgebreiteten Stirne gezogen,[47] und die Farbe der Gesundheit blühte gleich einer späten herbstlichen Rose noch auf seinen freundlichen Wangen. ›Dies ist unser Vater‹, sagten einige junge Personen, die den Emir umgaben, indem sie ihn an der Hand zum Sitze des Alten hinführten.
 Der Alte stand nicht auf, machte auch keine Bewegung als ob er aufstehen wollte; aber er reichte ihm die Hand, drückte des Emirs seine mit einer Kraft, welche diesen in Erstaunen setzte, und hieß ihn sehr leutselig in seinem Hause willkommen sein. Aber gleichwohl (sagt mein Autor) sei in dem ersten Blicke, den der Greis auf den Emir geworfen habe, unter den leutseligen Ausdruck der gastfreien Menschenfreundlichkeit etwas gemischt gewesen, welches den Fremden betroffen gemacht habe, ohne daß er sich selbst habe erklären können wie ihm sei. Der Alte hieß ihn Platz an seiner Seite nehmen« – [...]
»Inzwischen wurde das Abendessen aufgetragen, wobei der Emir eine neue Erfahrung machte, die ihm, der so wenig gewohnt war über irgend etwas zu denken, die unbegreiflichste Sache von der Welt zu sein deuchte. Allein, eh ich mich hierüber erklären kann, seh ich mich genötigt, eine kleine Abschweifung über den Charakter dieses Emirs zu machen, der eine Hauptfigur in meiner Erzählung vorstellt, wiewohl es in der Tat nur die Rolle eines Zuschauers ist. Er war von seiner Jugend an dasjenige gewesen, was man einen ausgemachten Wollüstling nennt; ein Mensch, der keinen andern Zweck seines Daseins kannte, als zu essen, zu trinken, sich mit seinen Weibern zu ergetzen, und von so mühsamen Arbeiten sich durch eine Ruhe, welche ungefähr die Hälfte von Tag und Nacht wegnahm, zu erholen, um zu der nämlichen Beschäftigung wieder aufzuwachen. Mit dieser groben Sinnlichkeit verband er einen gewissen Stolz, der sehr geschickt war, die nachteiligen Wirkungen derselben zu beschleunigen. Er setzte ihn darein, die schönsten Frauen, die besten Weine, und die gelehrtesten Köche von ganz Asien zu besitzen: aber auch daran genügte ihm noch nicht; er beeiferte sich auch, der größte Esser, der größte Trinker, und der größte Held in einer andern Art von Leibesübung zu sein, worin er mit Verdruß den Sperling und den Maulwurf für seine Meister erkennen mußte. Wenn ein Mann das Unglück hat, bei dieser verkehrten Art von Ehrgeiz alle Mittel zu Befriedigung desselben zu besitzen, so wird man ihn bald genug dahin gebracht sehen, zu Kanthariden und Betel und andern solchen Zwangsmitteln seine Zuflucht zu nehmen. Aber die Natur ermangelt nie, sich für die Beleidigungen, die man ihr zufügt, zu rächen, und pflegt desto grausamer in ihrer Rache zu sein, je weniger Vorwand ihre Wohltätigkeit uns zu Rechtfertigung unsrer Ausschweifungen gelassen hat. Der Emir befand sich also, mit dem reinsten arabischen Blute und der stärksten Leibesbeschaffenheit, in seinem dreißigsten Jahre zu dem elenden Zustande herunter gebracht, der ein Mittelstand zwischen Leben und Sterben ist; gepeinigt durch Erinnerungen, welche sein Vergnügen hätten erhöhen sollen, und verdammt zu ohnmächtigen Versuchen, den Zorn der Natur durch die Geheimnisse der Kunst zu versöhnen, denen er die Verlängerung seines Daseins zu danken hatte. [...]
Beim Eintritt in das Schlafzimmer, welches ihm selbst angewiesen wurde, fand er die beiden Knaben wieder, die ihn im Bade bedient hatten. Ihr Anblick erinnerte ihn an die schöne Dirne, die ihn auf eine so reizende Art willkommen gesungen hatte, und er konnte nicht mit sich selbst einig werden, ob er sich über ihre Abwesenheit betrüben oder erfreuen sollte. Er wurde ausgekleidet, und auf eine so weiche, so elastische, so wollüstige Ottomanne gebracht, als jemals von einem Emir gedrückt worden sein mag. Aber kaum hatten sich die Knaben weggeschlichen, so trat die schöne Sängerin mit ihrer Theorbe im Arm herein, einen Kranz von Rosenzweigen um ihre los gebundenen Haare, die bis zur Erde herab flossen, und einen Strauß von Rosen vor einem Busen, dessen Weiße die Augen des Emirs blendete. Mit stillschweigendem Lächeln neigte sie sich tief vor ihm, nahm von einem Armsessel neben seinem Ruhebette Besitz, stimmte ihre Theorbe, und sang ihm mit der angenehmsten Stimme von der Welt so zauberische Lieder vor, daß der gute Emir, von ihrer Gestalt, von ihrer Stimme und von dem achtzigjährigen Wein seines Alten berauscht, alles vergaß, was ihn billig hätte erinnern sollen weise zu sein. Die schöne Sängerin hatte vermutlich keinen Auftrag, in einem Hause, worin alles glücklich war, einen Unglücklichen zu machen. Aber ach!« –
– Ein Blick des Sultans, der vielleicht eine ganz andere Bedeutung hatte als Danischmend sich einbildete, machte ihn stutzen. »Sire«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort, »um nicht in den Fehler des Vesirs Moslem zu fallen, begnüge ich mich zu sagen, daß der Emir Ursache fand, sich von allen Zauberern und Feen der Welt verfolgt zu glauben. ›Beruhige dich‹, sagte die schöne Sklavin mit einem Lächeln, in welches mehr Mitleiden als Verachtung oder Unwillen gemischt war, ›ich will dir ein Adagio vorspielen, auf welches du so gut schlafen sollst, als der glücklichste aller Schäfer.‹ Aber ihr Adagio tat das versprochene Wunder nicht. Der Emir konnte nicht aufhören sich selbst zu betrügen, bis endlich die Sklavin, welche seinen Eigensinn wirklich unbillig fand, für besser hielt sich zurück zu ziehen, indem sie ihm so wohl zu schlafen wünschte als er könnte.« [...]
»Die Geschichte des Emirs und der schönen Sklavin blieb nicht lange geheim, und dieser Prinz hatte die Ehre, der erste Mann von seiner Art zu sein, den man jemals in diesen Gegenden gesehen hatte. Die Einwohner des Hauses, männliche und weibliche, konnten gar nicht von ihrem Erstaunen über ihn zurück kommen. Sie hatten gar keinen Begriff davon, wie man das sein könne was er war. ›Das arme Geschöpf!‹ riefen sie alle mit einem Ton des Mitleidens, welcher nicht sehr geschickt gewesen wäre sein Leid zu ergetzen. 
 Wirklich war der unglückliche Mann in seinem ganzen Leben nie so übel mit sich selbst zufrieden gewesen als in dieser nämlichen Nacht. Die Vergleichung, die er zwischen sich selbst, einem Greise von zweiunddreißig, und diesem silberlockigen Jüngling von achtzig anstellte, – begleitet von den Vorstellungen, welche ihm die schöne Sklavin zurück gelassen hatte, war mehr als genugsam ihn zur Verzweiflung zu bringen. Er biß die Lippen zusammen, schlug sich vor den Kopf, und verfluchte in der Bitterkeit seines Herzens seinen Harem, seinen Leibarzt, seine Köche, und die jungen Toren, die ihn durch Beispiel und Grundsätze aufgemuntert hatten, sein Leben so eilfertig zu verschwenden. Erschöpft von ohnmächtiger Wut, und betäubt von einem Schwall quälender Gedanken, die ihm das Gefühl seines Daseins zur Marter machten, schlummert‹ er endlich ein; und da er nach einigen Stunden wieder erwachte, fehlte wenig, daß er nicht alles, was ihm seit seinem letzten Schlafe begegnet war, für einen bloßen Traum gehalten hätte.
(Der goldene Spiegel 1. Teil 3. u. 4. Kapitel)

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