19 Dezember 2024

Ergänzendes zu Hermann Hesse

Geschätzt wird auch von Kennern Die Morgenlandfahrt, die ich wohl nie ganz durchgelesen habe. Man kann sie als Vorstufe zum Glasperlenspiel sehen, sie hat aber als biographisches Zeugnis eine größere Aussagekraft. Denn zentral ist für die Morgenlandfahrt auch die Gemeinschaft vom Monte Verità. Hesse "entschuldigt" sich darin sozusagen, dass er es nicht bei dieser Gemeinschaft aushielt. 

Hesse hat Zeiten gehabt, wo er - z.B. in den USA - Furore gemacht hat, Zeiten, wo er in Deutschland wegen seiner Kritik am 1. Weltkrieg geradezu verfemt war, er wurde al medioker und kitschig angesehen. Er ist kein Superstilist und seine Werke sind nicht so welthaltig wie etwa die von Thomas Mann oder Fontane, sein Gedicht "Stufen" war aber bei einer Umfrage ums Jahr 2000 das beliebteste der befragten Deutschen (wer beteiligt sich schon bei einer solchen Umfrage?). Als Jugendlicher hat mich Demian fasziniert, meine Tochter war es von Siddharta. Seine menschliche Haltung gefällt mir sehr gut, als Ehemann und als Zeitgenosse war er wohl eher eine Zumutung.

Keiner von den ganz Großen, aber ein ungewöhnlich guter Kenner der Weltliteratur.


17 Dezember 2024

Jean Paul: Die unsichtbare Loge

 Dieser Versuch mit einem Roman von Jean Paul (Die unsichtbare Loge)* schlug fehl. Zwar habe ich inzwischen einige Romane von ihm gelesen und hier dokumentiert; aber gerade der Roman, mit dem er seinen Durchbruch als Schriftsteller hatte, hat mich geschafft. [Vgl. unten allerdings den Hinweis, wie ich wieder hineingefunden habe.]

Gut, das zu erleben und Jugendlichen nachzufühlen, was literarische Werke für eine Zumutung sein können, wenn man sich nicht auf sie einlassen kann.

Gerade hatte ich mit Grausen festgestellt, dass der Autor von dem sich jemand auf gutefrage.net weitere Texte der Art wünscht, Sebastian Fitzek ist, der Psychothriller schreibt, hatte ich - gerade etwas angeschlagen - nach etwas Langweiligem gesucht und nun das. 

Dabei wäre es völlig falsch, anzunehmen, ich hielte nichts von Jean Paul. Aber ähnlich wie Arno Schmidt verlangt er Lesern etwas ab, das sie ihm erst, wenn er sie für sich gewonnen hat, geben können. Sie müssen seine Schreibart genießen, und das ist mir auch nach mehreren Romanen nicht gelungen.

*"Die Reihe seiner schriftstellerischen Erfolge begann 1793 mit dem Roman Die unsichtbare Loge. Jean Paul hatte dem Schriftsteller Karl Philipp Moritz das Manuskript geschickt, und Moritz zeigte sich begeistert: „Ach nein, das ist noch über Goethe, das ist was ganz Neues!“, soll er gesagt haben, und durch seine Vermittlung fand das Buch rasch einen Verlag in Berlin. In Die unsichtbare Loge verwendete Jean Paul, der seine Arbeiten zuvor unter dem Pseudonym J. P. F. Hasus geschrieben hatte, aus Bewunderung für Jean-Jacques Rousseau erstmals den Namen Jean Paul. Doch Die unsichtbare Loge blieb ein Fragment, denn ..." (Wikipedia)

Zitate:

"Gewisse Schönheiten, wie gewisse Wahrheiten – wir Sterbliche halten beide noch für zweierlei – zu erblicken, muß man das Herz ebenso ausgeweitet und ausgereinigt haben wie den Kopf...". (S.23 in der Kindle-Ausgabe)

"Nach wenigen Schritten und Worten ist die Vorrede aus, auf die ich mich so lang gefreuet, und der Schneeberg da, auf dem ich mich erst freuen soll. – Es ist gut, wenn ein Mensch seine Lebensereignisse so wunderbar verflochten hat, daß er ganz widersprechende Wünsche haben kann, daß nämlich der Vorredner dauere und der Schneeberg doch komme." (S.26)

"Verlobung-Schach – graduierter Rekrut – Kopulier-Katze 

Meines Erachtens war der Obristforstmeister von Knör bloß darum so unerhört aufs Schach erpicht, weil er das ganze Jahr nichts zu tun hatte als einmal darin der Gast, die Santa Hermandad und der teure Dispensationbullen-Macher der Wildmeister zu sein. 

Der Leser wird freilich noch von keiner so unbändigen Liebhaberei gehört haben, als seine war. Das wenigste ist, daß er alle seine Bediente aus dem Dorfe Strehpenik verschrieb, wo man durch das Schach so gut Steuerfreiheit gewinnt als ein Edelmann durch einen sächsischen Landtag, damit er (obwohl in anderem als katonischen Sinne) ebenso viele Gegner als Diener hätte – oder daß er und ein oberysselscher Edelmann in Zwoll mehr Postgeld verschrieben als verreiseten, weil sie Schach auf 250 Meilen nicht mit Fingern, sondern Federn zogen (S.28)

"Aber ich und der Leser wollen über die ganze spielende Kompagnie wegspringen und uns neben den Rittmeister von Falkenberg stellen, der bei dem Vater steht und auch heiraten will. Dieser Offizier – ein Mann voll Mut und Gutherzigkeit, ohne alle Grundsätze als die der Ehre, der, um sich nichts hinter seine Ohren zu schreiben, die sonst bei einiger Länge das schwarze Brett und der Kerbstock empfangner Beleidigungen sind, lieber andre Christen hinter die ihrigen schlug, der feiner handelte, als er sprach, und dessen Kniestück ich nicht zwischen diesen zwei Gedankenstrichen ausbreiten kann – warb in dieser Gegend so lange Rekruten, bis er selber wollte angeworben sein von Ernestinen. Er haßte nichts so sehr als Schach und Herrnhutismus; indessen sagte Knör zu ihm: »abends um 12 Uhr fingen, weil er so wollte, die sieben Spiel-Turnierwochen an, und wenn er nach sieben Wochen um 12 Uhr die Spielerin nicht aus dem Schlachtfelde [...] (S. 28)

" [...] Brautbette hineingeschlagen hätte: so tät' es ihm von Herzen leid, und aus der achtjährigen Erziehung brauchte dann ohnehin nichts zu werden.« 

Die ersten 14 Tage wurd' in der Tat zu nachlässig gespielt und – geliebt. Allein damals hatten weder andre gescheite Leute noch ich selber jene hitzigen Romane geschrieben, wodurch wir (wir habens zu verantworten) die jungen Leute in knisternde, wehende Zirkulieröfen der Liebe umsetzen, welche darüber zerspringen und verkalken und nach der Trauung nicht mehr zu heizen sind. Ernestine gehörte unter die Töchter, die bei der Hand sind, wenn man ihnen befiehlt: »Künftigen Sonntag, so Gott will, werde um 4 Uhr in den Herrn A-Z, wenn er kommt, – verliebt.« Der Rittmeister biß im Artikel der Liebe überhaupt weder in den gärenden Pumpernickel der physischen – noch in das weiße kraftlose Weizenbrot der parisischen – noch in das Quitten- und Himmelbrot der platonischen, sondern in einen hübschen Schnitt Gesindebrot der ehelichen Liebe: er war 37 Jahre alt. Sechzehn Jahre früher hatt' er sich einen Bissen vom gedachten Pumpernickel abgeschnitten: seine Geliebte und sein und ihr Sohn wurden nachher vom ehrlichen Kommerzien-Agenten Röper geheiratet." (S.29)

"am Ende kehren Weiber und Ruderknechte allzeit eben den Rücken dem Ufer zu, an das sie anzurudern streben) " (S.31)

"Heute spielten wir oben im sinesischen Häuschen. Da die Abendröte, die gerade in sein Gesicht hineinfiel, verwirrte Schatten unter die Figuren warf und da mich sein rechter Zeigefinger dauerte, der von einem Säbelhiebe eine rote Linie hat und der auf der Schachbande auf lag: so kam ich aus Zerstreuung wahrhaftig um meine Königin, [...]" (S.45)

Dritter Sektor oder Ausschnitt 

Unterirdisches Pädagogium – der beste Herrnhuter und Pudel Jetzo 

(Norbert Miller (Hrsg.): Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung. Mumien. in: Jean Paul: Sämtliche Werke. Abteilung I. Erster Band, S.42)

"Ich weiß dein ganzes Leben voraus, darum beweget mich die klagende Stimme deiner ersten Minute so sehr; ich sehe an so manchen Jahren deines Lebens Tränentropfen stehen, darum erbarmet mich dein Auge so sehr, das noch trocken ist, weil dich bloß dein Körper schmerzet – ohne Lächeln kommt der Mensch, ohne Lächeln geht er, drei fliegende Minuten lang war er froh." (dito, S.42)

Und jetzt von Hedwig Storch für die Wikipedia ausgesuchte Aphorismen aus dem Buch:

Alles Schöne aber ist sanft[36].
Alles Große oder Wichtige bewegt sich langsam… – die Wolken bei schönem Wetter[37].
Der Mensch ist nie so schön, als wenn er um Verzeihung bittet oder selber verzeiht[38].
Der innere Mensch hat keine Zunge[39].

In einer Nachtstunde und von einer Trauerbotschaft ganz aus dem Tagegeschäft herausgerissen, überdies in der Lage, im Buch hin- und her- zu blättern, bin ich wieder besser in der Lage, den Geist zu schätzen, der bei Jean Paul überall herausblitzt, aber es so schwer macht, in die Texte zu finden. 
Also Folgendes (im 20. Sektor) ließ sich wieder gut lesen, und ich kann mir die Frauenzimmer der Zeit gut vorstellen, wie sie sich an dem Geist erfreut haben:
Zwanzigster Sektor

[171] Das zweite Lebens-Jahrzehend – Gespenstergeschichte – Nacht-Auftritt – Lebensregeln


Oefel hielt Wort. Vierzehn Tage darauf schrieb uns der Professor Hoppedizel, er werde den neuen Kadetten abholen. – – Nun wurde unser bisheriger Wunsch unsre Pein. Gustavs und mein Bund sollte auseinandergedehnt und verrenkt werden; jedes Buch, das wir nun zusammen lasen, kränkte uns mit dem Gedanken, daß es jeder allein zu Ende bringen würde; ich wollte meinem Gustav kaum etwas mehr lehren, dessen Ausbau ich an fremde Architekten übergeben mußte, und jeder schöne Blumenplatz war uns die Gartentür des Edens, die ein bewaffneter Cherub abschloß.[171] Die Sturmmonate seines Herzens rückten nun auch näher. Ich hatte ohnehin den Flügeln seiner Phantasie nicht Federn genug ausgerisssen und ihn aus seiner Einsamkeit nicht oft genug verjagt. In dieser trieb seine Phantasie ihre Wurzeln in alle Fibern seiner Natur hinein und verhing mit den Blüten, die seinen Kopf auslaubten, die Eingänge des äußern Lichts. -

Wahrhaftig weder der klappernde Mentor noch seine Bücher, d.h. weder die Gartenschere noch die Gießkanne sättigen und färben die Blume, sondern der Himmel und die Erde, zwischen denen sie steht – d.h. die Einsamkeit oder Gesellschaft, in der das Kind seine ersten Knospen-Minuten durchwächset. Gesellschaft treibt im Alltagkind, das seine Funken nur an fremden Stößen gibt. Aber Einsamkeit zieht sich am besten über die erhabnere Seele, wie ein öder Platz einen Palast erhebt; hier erzieht sie sich unter befreundeten Bildern und Träumen harmonischer als unter ungleichartigen Nutzanwendungen. Um so mehr haben General-Akziskollegien darauf zu sehen, daß große poetische Genies – im Grunde taugt keines zu einem gescheiten Kammer- oder Kanzleiverwandten – vom zehnten Jahre bis zum fünfunddreißigsten in lauter Besuch-, Schreib- und Votierzimmern herumgehetzet werden, ohne in eine stille Minute zu kommen; sonst ist keines in einen Archivar oder Registrator umzusetzen. [Hier höre ich Werthers Klagen aus Goethes Jugendroman.] Daher hält auch das Marktgetöse der großen Welt allen Wuchs der Phantasie so glücklich am Boden.

Daran dacht' ich oft und warf mir manches vor. Würde nicht (hielt ich mir vor) ein gründlicherer Schulkollege deinen Gustav, wenn er mit dem Rücken auf dem Grase liegt und in den blauen Himmelkrater hinaufzusinken oder auf Flügeln an den Schulterblättern durch das All zu schwimmen träumt, mit dem Spazierstock an ein Buch von Nutzen treiben? Und, sagt' ich, wenn ich zum gründlichern Kollegen sagte, es sei einerlei, woran eine kindliche Phantasie sich aufwinde, ob an einem lackierten Stäbchen, oder an einer lebendigen Ulme, oder an einem schwarzen Räucherstecken: würde der Kollege nicht witzig versetzen, eben deshalb, es sei also einerlei? –

Inzwischen besäß' ich meines Orts auch Witz; ich würde auf [172] die Replik verfallen: »Glauben Sie denn, Herr Konfrater, daß unter dem größten Spitzbuben und dem größten komischen Dichter, den Sie vertieren, ein Unterschied ist? – Allerdings; ein guter Plan des Cartouche ist von einem guten Plan des Dichters Goldoni darin verschieden, daß der erste die Komödie selber ausführet, die der letzte von Schauspielern ausführen lässet.«

Gustav war jetzt in der Mitte des schönsten und wichtigsten Jahrzehends der menschlichen Flucht ins Grab, im zweiten nämlich. Dieses Jahrzehend des Lebens besteht aus den längsten und heißesten Tagen; und – wie die heiße Zone zugleich die Größe und den Gift der Tiere mehrt – so kocht sich an der Jünglingglut zwar die Liebe reif, die Freundschaft, der Wahrheit-Eifer, der Dichtergeist, aber auch die Leidenschaften mit ihren Giftzähnen und Giftblasen. In diesem Jahrzehend schleicht das Mädchen aus ihren durchlachten Jahren weg und verbirgt das trübere Auge unter derselben hängenden Trauerweide, worunter der stille Jüngling seine Brust und ihre Seufzer kühlt, die für etwas Nähers steigen als für Mond und Nachtigall. Glücklicher Jüngling! in dieser Minute nehmen alle Grazien deine Hand, die dichterischen, die weiblichen und die Natur selber, und legen ihre Unsichtbarkeit ab und schließen dich in einen Zauberkreis von Engeln ein. Ich sagte: selber die Natur; denn an ihr glühen noch höhere Reize als die malerischen; und der Mensch, für dessen Auge sie ein meilenlanges Kniestück voll Zaubereien war, kann ihr ein Herz mitbringen, das aus ihr ein Pygmalions-Gebilde macht, welches tausend Seelen hat und mit allen eine umschlingt .... O sie kehrt niemals, niemals wieder, die zweite Dekade des armen Lebens, die mehr hat als drei hohe Festtage: ist sie vorüber, so hat eine kalte Hand unsre Brust und unser Auge berührt; was noch in diese dringt, was noch aus ihnen dringt, hat den ersten Morgenzauber verloren, und das Auge des alten Menschen öffnet sich dann bloß gegen eine höhere Welt, wo er vielleicht wieder Jüngling wird!

Drei Tage, eh' der Professor kam, war Gespensterlärm im Schloß; zwei Tage vorher währte er noch fort; einen Tag zuvor machte der Rittmeister Anstalten zur Entdeckung der Schelmerei. Er hatte einen Wasserscheu vor Gespenstergeschichten und gab[173] jedem Bedienten, der eine wie Bokaz erzählte, als ein Honorar seiner Novelle nach der Bogenzahl Prügel. Die Rittmeisterin ärgerte ihn durch ihren Leichtglauben, und sie bekam oft den Blick von ihm, den Männer werfen, wenn die Hoffnungen oder Befürchtungen ihrer Weiber Hasensprünge wie Erdhalbmesser tun. – Sie hatte nachts ein dreifüßiges Gehen durch den Korridor gehört, ein Blitz war durch ihr Schlüsselloch gefahren, und eine andre Taschenuhr als ihre hatte 12 geschlagen, und alles war verflogen. [...]" (Zeno 20. Sektor)

Zwei  Apercus Jean Pauls möchte ich aus diesem "20. Sektor" hervorheben:

"Die Rittmeisterin ärgerte ihn durch ihren Leichtglauben, und sie bekam oft den Blick von ihm, den Männer werfen, wenn die Hoffnungen oder Befürchtungen ihrer Weiber Hasensprünge wie Erdhalbmesser tun." 

"eine Mannsperson kann 20 Jahre alt werden, ohne ihre Zähne, und 25 Jahre, ohne ihre Augen-Wimpern zu kennen, indes ein Mädchen dahinter kommt vor der Firmelung"

Jean Pauls Stil wieder äußerst pathetisch, aber die Beobachtung feinsinnig: Der Mann will funktionieren und deshalb mutig sein. Die Frau nimmt menschliche Feinheiten genau wahr, über die der Mann achtlos hinweggeht. - Natürlich ist die Trennung dieser Züge künstlich, beides steckt in beiden Geschlechtern, und die deutliche Trennung, die es damals möglich machte, dass Frauen von Jean Pauls frühen Werken so begeistert waren, gibt es heute nicht mehr so. Aber Jean Paul beobachtet Feinheiten, die noch heute charakteristische Geschlechtsunterschiede der üblichen "cis-Menschen" sind. So ungewöhnlich cis-Menschen aus der LGBTQ-Sicht auch scheinen mögen. 


Ich folge dem Ablauf meiner Lektüre und kehre in den dritten Sektor (S.42) zur Geburt und 8 Jahre dauernden Erziehung unter der Erde, dem "Unterirdischen Pädagogium" zurück: Was in der Realität ein Horrorszenario wäre, erweist sich als Parodie auf die Herrenhuthische Auffassung vom Leben: Das Leben selbst ist nur die Vorbereitung auf das himmlische Leben nach dem Tod. Der Herrenhuther, der Gustav in einem Kellergewölbe aufzieht, malt ihn den Tod als Befreiung aus diesem Jammertal aus. Mit dem Tod werde er aus dem Gewölbe in einen himmlischen Raum aufsteigen, in dem die Decke völlig blau und unerreichbar hoch sei, und die Lampe stehe dort genauso hoch wie die Decke und strahle über alles.


14 Dezember 2024

Lea Ypi: Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte

 Lea Ypi: Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte (Perlentaucher)

(ihr Urgroßvater war der Ministerpräsident Xhafer Ypi)

Leseprobe

Reportage von ZEIT Nr. 53/ 11.12.2024

daraus:

"[...] Dass diese [rechte] Weltanschauung bei vielen Wählern verfängt, liegt laut Ypi auch daran, dass die linken Parteien kaum mehr grundsätzliche Kritik an den bestehenden Verhältnissen üben: "Die Linken haben es verlernt, die Systemfrage zu stellen." Stattdessen verteidigten sie im Namen der Demokratie den Status quo. So wie bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland. Da war das größte Versprechen, mit dem sie um Wähler warben, die Ablehnung der AfD. Oder im US-Wahlkampf. Da lautete das zentrale Argument von Kamala Harris: Ich bin nicht Donald Trump. "Wenn die politische Linke gegen die Rechte eine Chance haben will, muss sie sich wieder trauen, einen eigenen großen Gesellschaftsentwurf zu liefern", sagt Ypi. Wer ein System verteidige, das derart viele Menschen zu Verlierern macht, der könne nicht darauf hoffen, Mehrheiten zu erlangen. [...]

Das westliche Freiheitsverständnis beruht in Lea Ypis Augen auf Doppelmoral. Es bringe im Namen der Freiheit jede Menge Unfreiheit hervor: "Schauen Sie sich das Recht auf freie Meinungsäußerung an", sagt Ypi. "Was bleibt davon übrig, wenn die größten Plattformen der politischen Meinungsbildung von ein paar Tech-Milliardären gesteuert werden?" Oder das Recht auf freie Berufswahl: Was nütze es einem, wenn es keine Arbeit gibt? Am deutlichsten aber träten die Widersprüche dort zutage, wo das liberale Gesellschaftsmodell derzeit am stärksten unter Druck gerät: beim Thema Migration.

Ypi erzählt von ihrer Mutter, die wegen der Unruhen von 1997 auf illegalem Weg mit dem Schiff nach Italien kam – weil es einen legalen Weg für sie nicht gegeben habe. Während des Kommunismus galten Albaner, denen es gelang, ihr Land zu verlassen, als Flüchtlinge. Als Opfer eines Regimes, das seine Bürger mit Waffengewalt daran zu hindern versuchte, ins Ausland zu reisen. Als dann die Mauer gefallen war und die Albaner von der neu gewonnenen Reisefreiheit Gebrauch machen wollten, nannte man sie Kriminelle oder illegale Wirtschaftsmigranten. Von einem auf den anderen Tag hatten sie sich von unschuldigen Helden in unerwünschte Gäste verwandelt.

"Wie viel ist die Freiheit wert, wenn man zwar endlich ausreisen, aber nirgendwo mehr einreisen darf?", fragt Ypi. Welchen Unterschied mache es, ob man von Grenzsoldaten erschossen wird oder im Mittelmeer ertrinkt? Und welcher Logik gehorche ein System, dessen Gesellschaft sich Flüchtlinge vom Leib zu halten versucht – und dessen Wirtschaft sie zugleich als billige Arbeitskräfte missbraucht? [...]"

 (Hervorhebungen von Fontane)

10 Dezember 2024

Thomas Mann: Buddenbrooks und der Nobelpreis

 Die Buddenbrooks waren nicht nur die Familiengeschichte eines begabten Schreibers, der unbedenklich das Material aus seiner Familiengeschichte verarbeitete.

Sie waren auch das Werk eines mit 25 Jahren reifen Autors, der in den Überlegungen des 42-jährigen Senators Thomas Buddenbrook ("rechte Hand" des Bürgermeisters) vor dem Kauf der Poppenröder Ernte schildert, was der gut 50-jährige Nobelpreisträger 1929 empfunden haben mag: Den Nobelpreis für meinen ersten Roman und nicht für das Meisterwerk des reifen Mannes, den Zauberberg (und was Günter Grass empfand, wenn man die Blechtrommel über die Maßen lobte, was ihn immer wieder herausforderte, auf die "Hundejahre" hinzuweisen.).

Nicht mehr der Elan des Anfangs, dessen, für den alles noch vor ihm liegt. - Und dann dass Mann über 80 Jahre werden würde, seine gewaltige Josephstetralogie noch vor ihm lag und seine dichterische Gestaltung der NS-Herrschaft, die in die Welttragödie des Zweiten Weltkriegs mündete. 

Und danach noch der Aufschwung seines Alterswerks in den humorvollen, ironiegesättigten Werken Der Erwählte und Felix Krull.

Vom 25-Jährigen dichterisch gestaltet eine Midlife-Crisis, bevor sie 1957 benannt (erfunden?)  wurde. 

Prophetisch und dann doch ganz widerlegt durch das Leben, das sich eben nicht im "Zwischenhändlerdasein" erschöpfte, sondern in bewusstem Antagonismus zum Terror sein Gegendeutschland  ("Deutsche Hörer") schuf.

09 Dezember 2024

Christa und Gerhard Wolf

 Aufgrund ihres schlechten Gewissensihrer wegen ihrer kindlichen Hitlergläubigkeit war  Christa zu weit größeren Zugeständnissen an das kommunistische System bereit als ihr Mann. Aber dennoch unterschied sich ihre Bereitschaft deutlich von der eines durchschnittlichen Bundesbürgersgegenüber seinem System. Ihre Distanz blieb immer größer.

30 November 2024

Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne

 https://www.perlentaucher.de/buch/andreas-reckwitz/verlust.html

Andreas Reckwitz: Verlust, Suhrkamp, Berlin 2024

Erfreulich ist an den Rezensionen, dass alle Reckwitz relativ große Nüchternheit nachsagen, bemerkenswert (oder naheliegend?) dass Reckwitz nachgesagt wird, er übergehe reale Verluste und andererseits, er sei auf vermeintliche Verluste fixiert.

Verlagstext: "[...] Unter dem Banner des Fortschritts, so legt er dar, wird die westliche Moderne schon immer von einer Verlustparadoxie angetrieben: Sie will (und kann) Verlusterfahrungen reduzieren - und potenziert sie zugleich. Dieses fragile Arrangement hatte lange Bestand, doch in der verletzlichen Spätmoderne kollabiert es. Das Fortschrittsnarrativ büßt massiv an Glaubwürdigkeit ein, Verluste lassen sich nicht mehr unsichtbar machen. Das führt zu einer der existenziellen Fragen des 21. Jahrhunderts: Können Gesellschaften modern bleiben und sich zugleich produktiv mit Verlusten auseinandersetzen? [...]"

 Stefan Reinecke:" [...] In Anlehnung an Virilio spricht Reckwitz von einer Gesellschaft, in der die technische Entwicklung stetig weitergeht, die Zukunftsvision aber abhanden gekommen ist. Die eurozentrische Perspektive des Buches reflektiert Reckwitz selbst, so ganz zufrieden ist der Rezensent aber nicht damit, dass er in seiner Analyse die Rolle von China und Indien vernachlässigt." 

Guillaume Paoli: "[...] Denn die Grundprämisse des Buchs, nämlich "Verlust" nicht von seiner Konkretion her, sondern als Diskursphänomen behandeln zu wollen - also die Art und Weise, wie Verluste gesellschaftlich aufgearbeitet und thematisiert werden - findet Paoli wenig ertragreich. Die sich daraus ergebende Formel des "doing loss" passe zwar wunderbar zur praxistheoretischen Ausrichtung Reckwitz', sei aber eben blind für gewisse sehr reale Verluste wie etwa den der Biodiversität, der diskursiv wenig präsent und doch stetig fortschreitend sei, moniert Paoli. Auch die vehemente Abgrenzung des Autors von jeglicher Kulturkritik scheint den Kritiker zu nerven; die Beanspruchung einer neutralen Beobachterposition ist für ihn schlicht veraltet - und, ebenso wie Reckwitz' abschließende drei Zukunftsszenarien, recht unbrauchbar für den Umgang mit Verlusten."

Thomas Steinfeld : "[...] Besonders kritisiert Steinfeld die Fixierung auf vermeintliche Verluste, hinter denen oft gar keine realen Schäden stecken, sondern versteckte Ansprüche, wie etwa die Sehnsucht nach einer "biodeutsch reinen Volksgemeinschaft". Reckwitz' "Universalsoziologie" gerät dadurch eher zu einer Bestätigung landläufiger Vorurteile als zu einer eine originellen Analyse, meint der Kritiker. Wie nun der richtige Umgang mit dem Verlust aussieht, kann Reckwitz letztlich auch nicht sagen - ob seine Soziologie da weiterhelfen kann, "bleibt abzuwarten", schließt Steinfeld.

Dass man angesichts des Klimawandels, der schmelzenden Eisdecke, der verheerenden Brände jenseits des nördlichen Polarkreise, des weltweiten Anstiegs des Meeresspiegels und des zunehmenden Verlusts der Erwärmung bremsenden Eigenschaft der Weltmeere von "vermeintlichen" Verlusten sprechen kann, ohne sich die Mühe zu machen, den Klimawandel abzuleugnen, beeindruckt mich. Denn dass es Menschen gibt, die unter Realitätsverlust leiden und deshalb "Verluste" da sehen, wo nichts Wertvolles verloren geht, beweist ja nicht, dass es keine realen Verluste gibt. 

Und wenn von den weltweiten Verlusten nicht alle genannt worden sind, bedeutet das erst recht nicht, dass es überhaupt keine gäbe. 

17 November 2024

Henry de Montherlant: Die Aussätzigen

 Henry de Montherlant: Die Aussätzigen

"[...] Zu den prägenden Einflüssen seiner Jugend gehörten, neben seiner Familie, Sport, Literatur und Stierkampf. In seinen Anfangswerken sind Ich-Kult, Männlichkeit und der Kampf ums Dasein von ihm idealisierte Themen. Montherlant war vor allem von D’Annunzio, Nietzsche und Barrès beeinflusst. Erst später setzte er sich mit den Geschehnissen und der Gesellschaft seiner Zeit kritisch auseinander. Seine Stilsicherheit und sein gutes Vermögen, Menschen psychologisch zu analysieren, brachten ihm schon früh den Ruf eines Klassikers ein.

Montherlant war bekannt für antifeministische und frauenfeindliche Ansichten, die Simone de Beauvoir in einem Kapitel von Das andere Geschlecht  behandelte.[...][5] (Wikipedia)

Zitate:

  • "Am Unheil der Welt leiden und zu gleicher Zeit glücklich sein: eine jener absurden Gleichungen, deren ich mich stets befleißigt habe" - Tagebücher 1930-1944, Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1961, S. 322
  • "Das einzige Rezept: schöne Werke schaffen. Dann komme, was mag." - Tagebücher 1930-1944, Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1961, S. 14
  • "Das Mädchen wird unter Tränen zur Frau und unter Stöhnen zur Mutter." - Die jungen Mädchen
  • "Die Geschichte? Das gleiche Stück mit unterschiedlichen Rollenbesetzung." - Tagebücher 1930-1944, Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1961, S.168
  • "Eine anständige Frau ist eine, die nicht oder nicht mehr imstande ist, mehr als nur einen Mann unglücklich zu machen." - Erbarmen mit den Frauen
  • "Die Hoffnung ist der Wille der Schwachen" - Nutzloses Dienen, S.130, Leipzig, 1939
  • "Man bezahlt die Frauen, damit sie kommen, und man bezahlt sie, damit sie verschwinden; das ist ihr Schicksal." - Die Aussätzigen
  • "Wer dem Publikum - seiner "Kundschaft" - nicht zu mißfallen wünscht, ist, wie er es auch anstellen mag, ein Krämer. Sogar und vor allem, wenn er Literat ist. - Tagebücher 1930-1944, Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1961, S.60
Das Buch fiel mir in einem öffentlichen Bücherregal in die Hand, weil ich für eine Kurzreise kein Buch mitgenommen hatte. Ich bin zufrieden, dass ich mir jetzt ein Vorstellung von ihm machen konnte.
Die folgenden Textauszüge erklären zum einen den Titel "Die Aussätzigen", weil davon berichtet wird, wie der Protagonist mit der aussätzigen Rhadidja schläft und dann sein Verhältnis zu zwei anderen Frauen: Andrée Hacquebaut schreibt Briefe die den Protagonisten charakterisieren (diese Briefe finden sich ca. alle 20 Seiten), von denen aber immer wieder festgestellt wird: "Dieser Brief ist vom Empfänger ungeöffnet abgelegt worden." Solange Dandillot hat er in Genua kennengelernt und schreibt einen Roman über sie. Er findet sie sehr langweilig, doch nimmt er sie als Ausgangsfigur für die Heldin, die re für seinen neuen Roman erfindet. Während des Schreibens hält er sich monatelang von ihr entfernt. Zum Ausgleich dafür, dass er ihr gegenüber so herzlos war, heiratet er sie. 
Die Phase, in der sich die beiden kennenlernen, kommt im Roman nicht vor.