29 Oktober 2013

Diotima und Graf Leinsdorf

Es lag etwas von der überheblichen Unsicherheit des Geistes gegenüber roherer Lebenskraft in der Art, wie sie ihn zum Wiederkommen aufforderte. Als er ihre milde, gewichtlose Hand wieder in der seinen hielt, sahen sie einander in die Augen. Ulrich hatte den bestimmten Eindruck, daß sie auserwählt seien, einander große Unannehmlichkeiten durch Liebe zu bereiten. 
»Wahrhaftig,« dachte er »eine Hydra von Schönheit!« Er hatte die Absicht, die große vaterländische Aktion vergeblich auf sich warten zu lassen, aber sie schien in Diotima Gestalt angenommen zu haben und war bereit, ihn zu verschlingen. [...]
Es gehörte selbstverständlich zu den Überzeugungen ihres Kreises, »Händler« nicht allzu hoch zu schätzen, aber wie alle Menschen bürgerlicher Gesinnung, bewunderte sie Reichtum in einer Tiefe des Herzens, die von Überzeugungen ganz unabhängig ist, und die persönliche Begegnung mit einem so über die Maßen reichen Mann wirkte auf sie wie goldene Engelsfittiche, die sich zu ihr niedergelassen hatten. [...]
In dieser Stellung kamen nun viele Leute zu Tuzzi, die etwas von ihm wollten, und von diesem Augenblick an belebte sich auch in Diotima fast zu ihrem eigenen Erstaunen ein Schatz von Erinnerungen an »geistige Schönheit und Größe«, den sie sich angeblich im kulturvollen Elternhaus und in den Zentren der Welt, in Wahrheit aber wohl auf der höheren Töchterschule als vorzügliches Lernkind angeeignet hatte, und sie fing an, ihn vorsichtig zu verwerten. Der nüchterne, aber ungemein verläßliche Verstand ihres Mannes hatte die Aufmerksamkeit unwillkürlich auch auf sie gelenkt, und sie handelte nun vollkommen arglos wie ein feuchtes Schwämmchen, welches das wieder von sich gibt, was es ohne besondere Verwendung in sich aufgespeichert hat, indem sie, sobald sie wahrnahm, daß man ihre geistigen Vorzüge bemerkte, mit großer Freude kleine »hochgeistige« Ideen an passenden Plätzen in ihre Unterhaltung einflocht. Und allmählich, während ihr Mann weiter emporstieg, fanden sich immer mehr Leute ein, die seine Nähe suchten, und ihr Haus wurde zu einem »Salon«, der in dem Ruf stand, daß »Gesellschaft und Geist« dort einander begegneten. [...]
Von den Körperteilen, nach denen Freundschaften benannt werden, lag der gräflich Leinsdorfsche an einem solchen Ort zwischen Kopf und Herz, daß man Diotima nicht anders als seine Busenfreundin nennen dürfte, wenn dieses Wort noch gebräuchlich wäre. Se. Erlaucht verehrte Diotimas Geist und Schönheit, ohne sich unerlaubte Absichten zu gestatten. Durch sein Wohlwollen gewann Diotimas Salon nicht nur eine unerschütterliche Stellung, sondern erfüllte, wie er sich auszudrücken pflegte, ein Amt. 
Für seine Person war Se. Erlaucht der reichsunmittelbare Graf »nichts als Patriot«. Aber der Staat besteht nicht nur aus der Krone und dem Volk, dazwischen die Verwaltung, sondern es gibt in ihm außerdem noch eins: den Gedanken, die Moral, die Idee! – 
So religiös Se. Erlaucht war, so wenig verschloß er sich, als ein von Verantwortung durchdrungener Geist, der überdies auf seinen Gütern Fabriken betrieb, der Erkenntnis, daß sich heute der Geist in vielem der Bevormundung durch die Kirche entzogen habe. Denn er konnte sich nicht vorstellen, wie zum Beispiel eine Fabrik, eine Börsenbewegung in Getreide oder eine Zuckerkampagne nach religiösen Grundsätzen zu leiten wären, während andrerseits ohne Börse und Industrie ein moderner Großgrundbesitz rationell nicht zu denken ist; und wenn Se. Erlaucht den Vortrag seines Wirtschaftsdirektors empfing, der ihm zeigte, daß in Verbindung mit einer ausländischen Spekulantengruppe ein Geschäft besser zu machen sei als an der Seite des heimischen Grundadels, so mußte Se. Erlaucht sich in den meisten Fällen für das erste entscheiden, denn die sachlichen Zusammenhänge haben ihre eigene Vernunft, der man sich nicht einfach nach Gefühl entgegenstellen kann, wenn man als Leiter einer großen Wirtschaft die Verantwortung nicht für sich allein, sondern auch für ungezählte andere Existenzen trägt. 
Es gibt etwas wie ein fachliches Gewissen, das unter Umständen dem religiösen widerspricht, und Graf Leinsdorf war überzeugt, daß selbst der Kardinal Erzbischof dabei nicht anders handeln könnte als er.

Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 22, 23, 24

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