In solcher Weise verging die Zeit, da empfing Ulrich einen Brief seines Vaters.
»Mein lieber Sohn! Es sind nunmehr wieder Monate verflossen, ohne daß Deinen spärlichen Nachrichten zu entnehmen gewesen wäre, daß Du auf Deiner Laufbahn den geringsten Schritt vorwärts getan oder einen solchen vorbereitet hättest.
[...]
In Deutschland soll im Jahre 1918, u. zw. in den Tagen um den 15. VI. herum, eine große, der Welt die Größe und Macht Deutschlands ins Gedächtnis prägende Feier des dann eingetretenen 30jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms II. stattfinden; obwohl es bis dahin noch mehrere Jahre sind, weiß man doch aus verläßlicher Quelle, daß heute schon Vorbereitungen dazu getroffen werden, wenn auch selbstverständlich vorläufig ganz inoffiziell. Nun weißt Du wohl auch, daß in dem gleichen Jahre unser verehrungswürdiger Kaiser das 70jährige Jubiläum Seiner Thronbesteigung feiert und daß dieses Datum auf den 2. Dezember fällt. Bei der Bescheidenheit, die wir Österreicher allzusehr in allen Fragen haben, die unser eigenes Vaterland betreffen, steht zu befürchten, daß wir, ich muß schon sagen, wieder einmal ein Königgrätz erleben, das heißt, daß uns die Deutschen mit ihrer auf Effekt geschulten Methodik zuvorkommen werden, so wie sie damals das Zündnadelgewehr eingeführt hatten, bevor wir an eine Überraschung dachten.
Glücklicherweise wurde meine Befürchtung, die ich eben äußerte, von anderen patriotischen Persönlichkeiten mit guten Beziehungen schon vorweggenommen, und ich kann Dir verraten, daß in Wien eine Aktion im Gange ist, um das Eintreffen dieser Befürchtung zu verhindern und das volle Gewicht eines 70jährigen, segens- und sorgenreichen Jubiläums gegenüber einem bloß 30jährigen zur Geltung zu bringen. Da der 2. XII. natürlich durch nichts vor den 15.VI. gerückt werden könnte, ist man auf den glücklichen Gedanken verfallen, das ganze Jahr 1918 zu einem Jubiläumsjahr unseres Friedenskaisers auszugestalten. Ich bin darüber allerdings nur soweit unterrichtet, als die Körperschaften, denen ich angehöre, Gelegenheit hatten, zu der Anregung Stellung zu nehmen, das Nähere wirst Du selbst erfahren, sobald Du Dich bei Gf. Stallburg meldest, der Dir im vorbereitenden Komitee eine Deine Jugend ehrende Stellung zugedacht hat.
Desgleichen muß ich Dir nahelegen, die Beziehungen zu der Familie des Sektionschefs Tuzzi vom Ministerium des Äußeren und des Kaiserlichen Hauses, die ich Dir schon so lange empfohlen habe, nicht länger in der gleichen, für mich geradezu peinlichen Weise nicht aufzunehmen, sondern sofort seiner Gattin, welche, wie Du weißt, die Tochter eines Vetters der Frau meines verstorbenen Bruders und sonach Deine Kusine ist, Deine Aufwartung zu machen, denn, wie man mir sagt, nimmt sie eine hervorragende Stellung in dem Projekt ein, von dem ich Dir soeben schrieb, und mein verehrter Freund, Graf Stallburg, hatte bereits die überaus große Güte, ihr Deinen Besuch in Aussicht zu stellen, weshalb Du keinen Augenblick zögern darfst, das zu erfüllen.
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 19. Kapitel
Ulrich ist der "Mann ohne Eigenschaften", der nach drei Versuchen, ein bedeutender Mann zu werden, darauf verzichtet hat. Das ist durchaus nicht im Sinn seines Vaters.
Advent Nr. 24: Bachs Weihnachtsoratorium
vor 1 Tag
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