Was Pest
und Krieg verdarben, ist wenig gegen die verhängnisvolle Verwüstung
der Völker, welche durch dies besondere Leiden der Herrscher
angerichtet wurde. Denn diese Krankheit, welche noch lange nach
Tacitus unter den römischen Imperatoren wütete, ist kein Leiden,
welches auf das alte Rom beschränkt war, sie ist zuverlässig so
alt, wie die Despotien des Menschengeschlechts, sie befiel auch
später in den christlichen Staaten zahlreiche Herrscher, sie brachte
in jeder Zeit anders geformte, groteske Gestalten hervor, sie war
durch Jahrtausende der Wurm, welcher, in der Hirnschale
eingeschlossen, das Mark des Hauptes verzehrte, das Urteil
vernichtete, die sittlichen Empfindungen zerfraß, bis zuletzt nichts
übrigblieb als der hohle Schein des Lebens. Zuweilen wurde es
Wahnsinn, den auch der Arzt nachweisen kann, aber in zahlreichen
anderen Fällen hörte die bürgerliche Zurechnungsfähigkeit nicht
auf und der geheime Schaden barg sich sorgfältig. Es gab Zeiträume,
wo nur einzelne festgefügte Seelen sich billige Gesundheit
bewahrten, und wieder andere Jahrhunderte, wo ein frischer Luftzug
aus dem Volke die Häupter, welche das Diadem trugen, frei erhielt.
Ich bin überzeugt, wer den Beruf hat, die Zustände späterer Zeit
genau zu untersuchen, wird im Grunde denselben Verlauf der Krankheit
selbst noch in den milderen Formen unserer Bildung erkennen. Meinem
Leben liegen diese Beobachtungen fern, auch zeigt der römische Staat
allerdings die abenteuerlichsten Formen der Krankheit, denn dort sind
die größten Verhältnisse und eine so mächtige Entfaltung der
Menschennatur in Tugend und Verkehrtheit, wie seitdem selten in der
Geschichte.«
»Den
Herren Gelehrten aber macht das besondere Freude, diese Leiden
früherer Herrscher ans Licht zu stellen?« fragte der Fürst.
»Sie sind
gewiß lehrreich für alle Zeiten,« fuhr der Professor sicher fort,
»denn sie prägen durch furchtbare Beispiele die Wahrheit ein, daß
der Mann, je höher er steht, um so stärkere Schranken nötig hat,
welche die Willkür seines Wesens bändigen. Ew. Hoheit freies
Urteil und reiche Erfahrung werden schärfer als jemand aus meinem
Lebenskreise beobachten, daß diese Krankheitserscheinungen sich
stets da zeigen, wo der Regierende weniger zu scheuen und zu ehren
hat als ein anderer Sterblicher. Was den Menschen in gewöhnlicher
Lage gesund erhält, ist doch nur, daß ihm eine strenge und
unablässige Kontrolle seines Lebens in jedem Augenblick fühlbar
wird, seine Freunde, das Gesetz, die Interessen anderer umgeben ihn
von allen Seiten, sie fordern gebieterisch, daß er Denken und Wollen
der Ordnung füge, durch welche andere ihr Gedeihen sichern. Zu jeder
Zeit ist die Gewalt dieser Fesseln bei dem Regenten minder stark; was
ihn einengt, vermag er leichter niederzuwerfen, eine ungnädige
Handbewegung scheucht den Warnenden für immer von seiner Seite, vom
Morgen bis zum Abend ist er mit Personen umgeben, welche ihm bequem
sind, ihn mahnt kein Freund an seine Pflicht, ihn straft kein Gesetz.
Hundert Beispiele lehren, daß frühere Herrscher selbst bei großen
äußeren Erfolgen an innerer Verwüstung litten, wo nicht eine
starke öffentliche Meinung und kräftige Teilnahme des Volkes am
Staat sie unablässig zwang, sich selbst zu behüten. Es liegt nahe,
an die riesengroße Kraft eines Feldherrn und Eroberers zu denken,
den die Erfolge und Siege des eigenen Lebens ins Wüste und Maßlose
getrieben haben, er war ein furchtbarer Phantast geworden, Lügner
gegen sich selbst, Lügner gegen die Welt, bevor er gestürzt wurde,
und lange bevor er starb. Doch dergleichen zu untersuchen, ist, wie
gesagt, nicht mein Beruf.«
»Nein,«
sagte der Fürst tonlos.
»Die
entfernte Zeit,« begann der Obersthofmeister, »welche Sie im Auge
haben, war aber nicht nur für die Regenten, auch für die Völker
eine traurige Epoche. Wenn mir recht ist, war das Gefühl des
Absterbens allgemein, auch bewunderte Schriftsteller taugten nicht
viel, mir wenigstens sind solche Männer wie Apulejus und Lucian als
eitle und kläglich gemeine Menschen erschienen.«
Der
Professor sah überrascht auf den Hofmann.
»In
meiner Jugend las man dergleichen häufiger,« fuhr dieser fort. »Ich
verdenke den Besseren jener Zeit nicht, wenn sie sich mit Widerwillen
von solchem Treiben abwandten und sich in das engste Privatleben oder
in die Thebanische Wüste zurückzogen. Deshalb, wenn Sie von einer
Krankheit der römischen Imperatoren sprechen, möchte ich entgegnen,
daß sie nur Folge einer ungeheuern Erkrankung der Völker ist,
obgleich ich sehr wohl einsehe, daß sich während diesem Verderb der
einzelnen ein großer Fortschritt des Menschengeschlechts vollzogen
hat, die Befreiung der Völker aus abschließendem Volkstum zu einer
Kultureinheit, und der neue Idealismus, welcher durch das Christentum
auf die Erde kam.«
»Zuverlässig
ist die Form des Staates und die Form der Bildung, welche die
einzelnen Kaiser vorfanden, entscheidend für ihr Leben gewesen.
Jedermann ist in diesem Sinne Kind seiner Zeit, und wenn es gilt, das
Maß ihrer Schuld zu bestimmen, dann wird vorsichtiges Abwägen
ziemen. Aber was ich die Ehre hatte, Sr. Hoheit als besonderen
Vorzug des Tacitus anzuführen, ist auch nur die Meisterschaft, mit
welcher er die eigentümlichen Symptome und den Verlauf des
Zäsarenwahnsinns schildert.«
»Sie
waren alle wahnsinnig,« unterbrach der Fürst mit heiserer Stimme.
»Verzeihung,
gnädiger Herr,« entgegnete der Professor arglos. »Augustus wurde
auf dem Throne ein besserer Mann, und nach der Zeit, in welcher
Tacitus schrieb, haben noch manche gute und maßvolle Herrscher
gelebt. Etwas von dem Fluch, welchen übel beschränkte Macht auf die
Seelen ausübte, mag an der Mehrheit der römischen Kaiser erkennbar
sein. In den besseren aber lag er wie eine Kränklichkeit, welche,
nur selten bemerkbar, immer wieder durch Tüchtigkeit oder gute Natur
gebändigt wurde. Eine Anzahl freilich verdarb durchaus, und in ihnen
entwickelte sich die Krankheit nach einer bestimmten Stufenfolge,
deren innere Gesetzlichkeit wir wohl begreifen.«
»Sie
wissen also auch, wie den Leuten zumute war?« fuhr der Fürst auf,
den Professor scheu anblickend.
Der
Obersthofmeister trat in eine Fensternische.
»Der
Verlauf der Krankheit ist im allgemeinen nicht schwer zu verfolgen,«
versetzte der Professor, erfüllt von seinem Gegenstande. »Die
Übernahme der Regierung wirkt zunächst erhebend. Der höchste
Erdenberuf steigert auch beschränkte Menschen wie den Claudius,
verdorbene Buben wie den Caligula, Nero und Domitian während der
ersten Wochen zu einem gewissen pathetischen Adel. Lebhaft ist das
Bestreben, zu gefallen, beflissen die Arbeit, sich durch Gnade
festzusetzen; die Scheu vor einflußreichen Persönlichkeiten oder
vor dem Widerstreben der Masse zwingt zur Vorsicht. Die Herrschaft
aber hat den Menschen zum Sklaven gemacht, und der Sklavensinn trägt
eine Verehrung entgegen, welche den Kaiser äußerlich über andere
Menschen hinausstellt, er ist von den Göttern besonders begnadigt,
ja seine Seele ein Ausfluß der göttlichen Kraft. In dieser
knechtischen Unterwürfigkeit aller und der Sicherheit der Herrschaft
wuchert bald der Egoismus. Die zufälligen Forderungen eines
ungebändigten Willens werden rücksichtslos, die Seele verliert
allmählich das Urteil über Bös und Gut, der persönliche Wunsch
erscheint dem Regierenden sofort als Bedürfnis des Staates, jede
Laune des Augenblicks heischt Befriedigung. Das Mißtrauen gegen
Unabhängige führt zu kopflosem Argwohn, wer sich nicht fügt, wird
als Feind beseitigt, wer sich geschmeidig anzupassen versteht, ist
sicher, eine Herrschaft über den Herrscher auszuüben. Die
Familienbande reißen, die nächsten Verwandten werden als geheime
Feinde umlauert, der gleißende Schein eines herzlichen Vertrauens
wird bewahrt, plötzlich durchbricht eine Missetat den Schleier, mit
welchem Heuchelei ein innerlich hohles Verhältnis umzogen hat.«
Der Fürst
rückte mühsam seinen Sessel von dem Kaminfeuer in das Dunkel.
Der
Professor fuhr eifrig fort: »Die Idee des römischen Staates
verliert sich zuletzt ganz aus den Seelen, ja sie wird als feindselig
gehaßt, nur persönliche Anhänglichkeit wird gefordert, treue
Hingabe an den Staat erscheint als Verbrechen. Diese Hilflosigkeit
und das Schwinden des Urteils über die Tüchtigkeit, ja über die
wirkliche Ergebenheit der Menschen bezeichnen einen Fortschritt der
Krankheit, durch welchen bereits die Zurechnungsfähigkeit
beeinträchtigt wird. In dieser Zeit werden die Bildungselemente
immer beschränkter und einseitiger, das Wollen immer eitler und
kleinlicher. Ein kindisches Wesen wird sichtbar, Freude an elendem
Tand und eitlen Possen, daneben eine bubenhafte Tücke, welche
zwecklos verdirbt, es wird Genuß, nicht nur zu quälen, auch die
Qualen anderer zu schauen, unwiderstehlich wird das Gelüst,
Hervorragendes in das Gemeine herabzuziehen, ja auch Gleichgültiges
zu vernichten. Sehr merkwürdig ist, wie mit dieser Abnahme der
Denkkraft eine unruhige und zerstörende Sinnlichkeit überhandnimmt.
Ihre dunkle Gewalt wird übermächtig. Während sonst die Würde des
höheren Alters auch dem Schwachen Haltung gibt, verletzt hier das
widerliche Bild bejahrter Wüstlinge wie Tiberius und Claudius. In
einer schamlosen und raffinierten Hingabe an Lüste wird die letzte
Lebenskraft zerstört.«
»Das ist
sehr merkwürdig,« wiederholte tonlos der Fürst.
Der
Professor schloß: »So vollendet sich der Verderb in vier Stufen,
zuerst maßlose Selbstsucht, dann Argwohn und Heuchelei, dann
knabenhafte Unvernunft, das letzte tut widerwärtige Ausschweifung.«
G. Freytag: Die verlorene Handschrift, Kapitel 33
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