»Ich
will dir erst sagen, weshalb ich frage und was ich von dir wissen
möchte. Als ich dich heimführte aus Hof und Flur, da warst du trotz
deinem innigen deutschen Empfinden nach meiner Rücksicht eine
Gestalt, wie wir uns Nausikaa und Frau Penelope behaglich in ihrer
Umgebung ausmalen. Unbefangen nahmst du die Bilder der Welt in dich
auf, du standest sicher und stark in festumgrenztem Kreis von Rechten
und Pflichten; mit kindlichem Vertrauen holtest du von der Sitte
deines Kreises und aus heiligen Sprüchen die Richtschnur für Urteil
und Handeln. Deine Liebe zu mir, die Berührung mit anders geformten
Seelen, der Einblick in ein neues Gebiet des Wissens erweckten in
deinem Innern leidenschaftliche Klänge, die Unsicherheit kam und der
Zweifel, neue Gedanken arbeiteten heftig gegen alte Vorstellungen,
die Forderungen deines gegenwärtigen Lebens gegen den Inhalt deiner
Mädchenjahre. Du warst durch Monate unglücklicher als ich wußte.
Jetzt aber bist du in einer Zeit, wo ich mich deiner fröhlichen Ruhe
und deines Gedeihens freute, zu einem Verständnis des Menschen
vorgedrungen, das mich überrascht. Oft habe ich in den letzten
Abenden mit heimlicher Freude gesehen, wie warm deine Teilnahme und
wie mild dein Urteil die Charaktere des Dramas begriff. Ich hatte
erwartet, daß das Herbe und Ungeheure ihres Schicksals dich zuweilen
abstoßen würde, und daß du behend sein würdest in Zuneigung und
Abneigung, du aber hast dein Mitgefühl den dunkeln Gestalten gegönnt
wie den hellen, als wenn deine Seele selbst unter der Ahnung gezuckt
hätte, daß sich im eigenen Leben Gutes in Böses verkehren kann und
Segen in Fluch, und als wenn du in dir selbst erfahren hättest, daß
der Mensch nicht nur dem äußeren Sittengesetze zu folgen hat, wie
erhaben sein Ursprung sei, sondern daß in Stunden der Not noch ein
anderes Gebot dazukommen müsse, welches aus der Tiefe der
Menschenbrust heraufgeholt wird. [...]
Ich
dränge mich nicht in dein Vertrauen, aber ist dir's recht, so gib
mir Auskunft, wie ist dir die feine Empfindung für die geheimen
Kämpfe solcher Menschen aufgegangen, welche ein tragisches Schicksal
fortreißt?« Ilse faßte ihn an der Hand und zog ihn in ihr Zimmer.
»Auf dieser Stelle war's,« rief sie. »Ein Fremder fragte mich, ob
er sich tödlicher Gefahr aussetzen solle um seiner Ehre willen oder
ob er einen andern der Gefahr preisgeben dürfe. Ich hatte ihm ein
Recht zu solcher Frage gegeben, denn ich hatte schon früher zu ihm
mit größerer Offenheit über sein Leben gesprochen, als für eine
vorsichtige Frau klug war.
Gustav Freytag: Die verlorene Handschrift
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