31 August 2013

Ratte, Löwe und Kaninchen oder "Geschichte von den Steppentieren und der Ratte"

Die Ratte hält sich eine Kuh. Löwe und Elefant wollen sie ihr abnehmen und scheitern, weil sie sich vor den Schlägen der Ratte fürchten. Das Kaninchen aber nimmt der Ratte die Kuh ab.
Mit Übermacht nehmen die anderen Steppentiere, u.a. Leopard und Flusspferd, dem Kaninchen das Fleisch der Kuh ab.
Doch wiederum bleibt das Kaninchen Sieger, verjagt das Flusspferd in den See, den Löwen in die Savanne und den Elefanten in den Wald. Dort leben sie noch heute.
Das Kaninchen aber hat die Beute: das Fleisch.
"Das ist ihre Geschichte. Wirklich, so war es mit ihnen."

Wer über prüfen will, ob das wirklich ein afrikanisches Märchen ist, kann es hier  nachlesen (mit einigen anderen).
Wer wissen will, weshalb das Kaninchen unbedingt an Fleisch kommen will, darf sich etwas ausdenken und das Märchen erzählen, weshalb das Kaninchen Fleisch will.

Eine Erklärung wäre, dass der Erzähler des Märchens ein Mann war.

Sind Männer blöd?
Diese Frage beantwortet ein weiteres Märchen.

Die "Geschichte von Seliman bin Daud" schließt: "Und alle Leute freuten sich, dass ihr Sultan gesund wurde durch den Verstand des Hahnes."

27 August 2013

Hilaire Mbakop: Mambés Heimat

Wer sich sein heiles Bild von Afrika bewahren möchte: Sahara, Nil, Pyramiden, Serengeti und Badestrände am Meer, der sollte dies Buch besser nicht lesen.
Doch wenn er verstehen möchte, weshalb so viele Afrikaner so gar nicht "heimattreu" sind, weshalb sie große Strapazen, ja ein monatelanges, manchmal jahrelanges Wanderleben auf sich nehmen, um endlich an der Mittelmeerküste in das Schlauchboot zu steigen, das sie nach Europa, dem Kontinent der unbegrenzten Möglichkeiten und der Freiheit, bringen wird, dann ist "Mambés Heimat" für ihn der richtige Zugang.
"Nachdem Mambé 20 Jahre in Amerika verbracht hatte, kehrte er in seine Heimat zurück." So lautet der erste Satz.
Rückkehr zum Ort der Kindheit? Eine Welt der Abenteuer? Ein Start-up, das die alte Heimat "fit für die Zukunft" macht? Was erwartet uns?
Zunächst einmal Hitze ohne Klimaanlage, halsbrecherische Autofahrten über von Schlaglöchern durchsiebte Straßen und die allgegenwärtige Korruption. In Jaunde (Yaoundé) lernt man dann gesellschaftliches Leben von Kamerun kennen. So in einer der fünf Warteschlangen in der Bank, wo Mambé stundenlang warten muss, um Geld abholen zu können.
Das nützt ein "Verrückter" aus, um den Wartenden eine Rede zu halten. Mit wirtschafts- und regierungskrischen Tönen weckt er allgemeines Interesse, bis er eine Bombe ankündigt, mit der er das Land von der Diktatur befreien und sich selbst zum Präsidenten machen will. Auch will er einen Bestseller schreiben, den er bereits im Kopf habe.
Danach beginnt ein längerer Abschnitt, der in diesem Bestseller des "Verrückten" stehen könnte. Immer wieder folgen auf kurze Erlebnisse Mambés reflektierende Passagen, in denen über die Verhältnisse in Kamerun berichtet wird. So, als der im Hotel im Kabelfernsehen einen französischen Tierfilm sieht:
"Das kamerunische Fernsehen wäre nicht in der Lage gewesen, eine solche Sendung zu produzieren. Dazu müssten die Journalisten über eine gute technische Ausrüstung verfügen. In der Schule, in der die kamerunischen Journalisten ausgebildet wurden, fand man nur veraltete Geräte. Die meisten davon waren nicht funktionstüchtig. Schlimmer als die schlechte Ausrüstung dieser Schule war die Tatsache, dass sie die Kritikfähigkeit der Menschen unterdrückte. Sie brachte linientreue Journalisten hervor. Das war ihre einzige Aufgabe. [...] Der Staat hatte auch seine eigene Presse. Sie war ebenfalls linientreu. Wenn der Präsident sich ins Ausland begab, erzählte er gern dort, dass die kamerunische Medienlandschaft vielfältig sei. Das stimmte ja auch. Aber wenn er hinzufügte, dass diese Medienvielfalt mit der Pressefreiheit einherging, war es falsch. Denn die privaten Medien unterlagen der Zensur. Ein Journalist, der sich kritisch über die Regierung äußerte, wurde ohne Gerichtsurteil ins Gefängnis geworfen oder gar liquidiert. Gleichzeitig wurde seine Wohnung durchsucht. Es war verboten, sich über den Gesundheitszustand des Staatschefs zu äußern. Der Herausgeber einer Privatzeitung wurde inhaftiert, weil er einmal gesagt hatte, dass der Präsident krank sei. Tatsächlich war dieser krank. Er war nämlich nach Europa gereist, um sich behandeln zu lassen." (S.58/59)

Anschaulich wird es, als Mambé auf Wohnungssuche geht. Mit Maklern macht er bald übergenug schlechte Erfahrungen. Stets muss er die Gebühr im Voraus bezahlen und dann bekommt er nie etwas Brauchbares angeboten. Schließlich sucht er auf eigene Faust in den Vierteln, wo er hoffen darf, etwas Preisgünstiges zu finden.
Jetzt streift er durch Gassen, die so eng sind, dass sie den Tag in Nacht verwandeln, er wird immer wieder in Schwaden von Gestank eingetaucht und erlebt öffentliches Familienleben.
"Wenn man sich in den Armenvierteln Yaoundés befand, brauchte man nicht lange zu warten, um das, was man dort "kostenloses Theater" nannte, zu sehen. Die Szenen des Dramas spielten sich auf der Straße ab und überboten sich gegenseitig an Sensation und Tragik. In den vornehmen Vierteln dagegen waren solche Geschehnisse eher selten. Ihre Einwohner befanden sich hinter den hohen Mauern, die ihre Villen umgaben, oder in ihren Privatfahrzeugen, deren Fenster meistens aus Rauchglas waren. Die wenigen Probleme, die sie hatten, ließen sie die Passanten nicht mitbekommen. Die Armen hingegen hatten zu viele Probleme und scheuten sich nicht, sie vor aller Augen zu besprechen. Man wanderte durch die Straßen und sah und hörte eine skandalöse Geschichte um die andere." (S.114f.)
Diese skandalösen Geschichten prägen den letzten Teil des Buches, bis Mambé sich entschließt, zur Abwechslung mal ein Motorradtaxi zu besteigen, von dem man freilich nicht viel Gutes gelesen hat.
"Vor ihnen stand ein Haus in Flammen. Fünf Personen waren damit beschäftigt, Wasser aus einem Ziehbrunnen zu schöpfen und es in die aus dem Haus schlagenden Flammen zu schütten. Doch ihre Aktion war wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Einige Kinder weinten. Die schaulustige Menge schrie weiter. Die Brandstifterin war eine Frau von 30 Jahren. Nach ihrer Aktion hatte sie sich aus dem Staub gemacht. Ihr Ex-Freund war unter denjenigen, die das Feuer verzweifelt zu löschen versuchten. Sie hatte das Haus, in dem er wohnte, in Brand gesteckt, weil er sie angelogen hatte. Als sie mit ihm zusammen gewesen war, hatte er ihr häufig gesagt, dass er nur sie liebe und nur sie heiraten würde. Dann hatte er sein Wort gebrochen und eine andere geheiratet." (S.116)

Konventioneller wäre es, wenn Mbakop uns eine dieser Geschichten ausgestaltet und möglichst dramatisch erzählt hätte. So aber zeigt er uns eine Art Dokumentarfilm mit vielen kurzen Szenen und begleitendem intensivem Geruchskino.

Faszinierend ist daran die Authentizität. Was uns sonst nur gefiltert durch eine Übersetzung und entsprechende Bearbeitung erreichen würde, ist hier der Originalwortlaut des Verfassers. In seiner Muttersprache gibt es keinen Buchmarkt, er publiziert nur auf Deutsch und Französisch. Und man darf annehmen, dass in “Mambés Heimat” einiges von dem eingeflossen ist, was er nach seiner Rückkehr von einem Studienaufenthalt in Deutschland in seiner Heimat Kamerun erfahren hat.

Hilaire Mbakop: Mambés Heimat. Ein Streifzug durch den Alltag Kameruns. Roman, Athena-Verlag, 2007. 172 Seiten, broschiert. ISBN: 978-3-89896-294-0

vgl. auch die Rezension von Dr. Pierre Kodjio Nenguie: Hilaire Mbakops "Mambés Heimat: Ein Streifzug durch den Alltag Kameruns" : Postkoloniale Gewalt in Kamerun in: "Der Globale Leuchtturm"

24 August 2013

Sprache des Gefühls

Viktor glaubt sich ungeliebt und schreibt seinem Freund:

Ach, ich lache noch wie sonst, ich philosophiere noch wie sonst, aber mein Inneres sieht nur der Geliebte, dem ichs jetzt entblöße. O Schicksal, warum schlugst du in den Menschen den Funken einer Liebe, die in seinem eignen Herzblut ersticken muß? Ruht nicht in uns allen das holde Bild einer Geliebten, eines Geliebten, wovor wir weinen, wornach wir suchen, worauf wir hoffen, ach und so vergeblich, so vergeblich? – Steht nicht der Mensch vor der Brust eines Menschen wie die Turteltaube vor dem Spiegel und girret wie diese sich heiser vor einem toten flachen Bilde darin, das er für die Schwester seiner klagenden Seele hält? – Warum frägt uns denn jeder schöne Frühlingabend, jedes schmelzende Lied, jede überströmende Freude: wo hast du die geliebte Seele, der du deine Wonne sagst und gibst? Warum gibt die Musik dem bestürmten Herzen statt der Ruhe nur größere Wellen, wie das Geläute der Glocken die Ungewitter, anstatt zu entfernen, herunterzieht? Und warum ruft es draußen an einem schönen stillen hellen Tage, wenn du über das ganze aufgeschlagne Gemälde einer Landschaft siehest, über die Blumen-Meere, die auf ihr zittern, über die herabgeworfnen Wolkenschatten, die von einem Hügel zum andern fliehen, und über die Berge, die sich wie Ufer und Mauern um unsern Blumenzirkel ziehen, warum ruft es da denn unaufhörlich in dir: ›Ach, hinter den rauchenden Bergen, hinter den aufliegenden Wolken, da wohnt ein schöneres Land, da wohnt die Seele, die du suchst, da liegt der Himmel näher an der Erde‹? – Aber hinter dem Gebirge und hinter dem Gewölke stöhnt auch ein verkanntes Herz und schauet an deinen Horizont herüber und denkt: ›Ach, in jener Ferne wär' ich wohl glücklicher!‹

Jean Paul: Hesperus, 2. Heftlein, 19. Hundsposttag

19 August 2013

Auswirkungen fürstlicher Jagden auf die Bauern

Schlechte Relation aus der Bittschrift der Oberjägermeisterei 

»Da das Wild nicht lesen und schreiben könnte: so sei es die Pflicht der Jägermeisterei, die es könnte, für dasselbe zu schreiben und nach Gewissen einzuberichten, daß alles flachsenfingische Wild unter dem Drucke des Bauers schmachte, sowohl Rot- als Schwarzwildpret. 
Einem Oberförster blute das Herz, wenn er nachts draußen stehe und sehe, wie das Landvolk aus unglaublicher Mißgunst gegen das Hirschvieh die ganze Nacht in der größten Kälte neben den Feldern Lärm und Feuer machte, pfiffe, sänge, schösse, damit das arme Wild nichts fräße. Solchen harten Herzen sei es nicht gegeben, zu bedenken, daß, wenn man um ihre Kartoffeltische (wie sie um ihre Kartoffelfelder) eben solche Schützen und Pfeifer lagerte, die ihnen jede Kartoffel vom Munde wegschössen, daß sie dann mager werden müßten. Daher sei eben das Wild so hager, weil es sich erst langsam daran gewöhne, wie Regimentpferde den Hafer von einer gerührten Trommel zu fressen. Die Hirsche müßten oft meilenweit gehen – wie einer, der in Paris sein Frühstück aus Aubergen zusammenhole –, um in ein Krautfeld, das keine solche Küstenbewahrer und Widerparte des Wilds umstellen, endlich einzulaufen und sich da recht satt zu fressen. 
Die Hundjungen sagten daher mit Recht, sie zerträten in einer Parforcejagd mehr Getreide, als das Wild die ganze Woche abzufressen bekomme. – 
Dieses und nichts anders seien die Gründe, welche die Oberjägermeisterei bewogen hätten, bei Sr. Durchlaucht mit der untertänigen Bitte einzukommen, Daß Ew. den Landleuten auflegen möchten, nachts in ihren warmen Betten zu bleiben, wie tausend gute Christen tun und das Wild selber am Tage. Dadurch würde – getrauete sich die Obristjägermeisterei zu versprechen – den Landleuten und Hirschen zugleich unter die Arme gegriffen – letzte könnten alsdann ruhig, wie Tagvieh, die Felder abweiden und würden doch dem Landmann die Nachlese, indem sie mit der Vorlese zufrieden wären, lassen. – Das Landvolk wäre von den Krankheiten, die aus den Nachtwachen kämen, von Erkältungen und Ermüdungen glücklicherweise befreiet. Der größte Vorteil aber wäre der, daß, da bisher Bauern über die Jagdfronen murrten (und nicht ganz mit Unrecht), weil sie darüber die Zeit der Ernte versäumten, daß alsdann die Hirsche an ihrer Statt die Ernte in der Nacht übernähmen, wie sich in der Schweiz die Jünglinge für die Mädchen, die sie liebten, nachts dem Getreide-Schneiden unterzögen, damit diese, wenn sie am Morgen zur Arbeit kommen, keine finden – und so würden die Jagdfronen in den Ernten niemand mehr stören als höchstens das – Wild etc.«

Jean Paul: Hesperus, 2. Heftlein,  18. Hundsposttag 

17 August 2013

Über das Leben an einem deutschen Fürstenhof zur Goethezeit

"Mein Held ließ folgenden [Brief] an den Pfarrer ab:

»Mein lieber Herr Adoptiv-Vater! – Ich hatte bisher nicht so viel Zeit übrig, um die Augen aufzuheben und zu sehen, was wir für einen Mond haben. Wahrhaftig, einem Hofe fehlts zur Tugend schon – an Zeit.
Der Fürst führt mich überall wie ein Riechfläschchen bei sich und zeigt seinen närrischen Doktor vor. Mich werden sie bald nicht ausstehen können, nicht weil ich etwan etwas tauge – ich bin vielmehr fest versichert, sie ertrügen den tugendhaftesten Mann von der Welt ebensogut wie den schlimmsten, und das bloß, weil er ein Anglizismus, ein homme de Fantaisie, ein Naturspiel wäre –, sondern weil ich nicht genug rede. Geschäftleute bekümmern sich um keinen Gespräch- und keinen Briefstil; aber bei Hofleuten ist die Zunge die Pulsader ihres welken Lebens, die Spiral- und Schwungfeder ihrer Seelen; alle sind geborne Kunstrichter, die auf nichts als Wendung, Ausdruck, Feuer und Sprache sehen. Das macht, sie haben nichts zu tun; ihre gute Werke sind Bonmots, ihre Meßgeschäfte Besuchkarten, ihre Hauswirtschaft eine Spiel- und ihre Feldwirtschaft eine Jagdpartie, und der kleine Dienst eine Physiognomie. Daher müssen sie fremde Fehler den ganzen Tag in Ohren haben gegen die schlaffe Weile, wie die Ärzte die Krätze einimpfen gegen Dummheit: ein Hofstaat ist das ordentliche Pennypostamt der kleinsten Neuigkeiten, sogar von euch Bürgerlichen, wenn ihr gerade etwas recht – Lächerliches getan habt.
Zu wünschen wäre, wir hätten Festins, oder Spielpartien, oder Komödien, oder Assembleen, oder Soupers, oder etwas Gutes zu essen, oder irgendeine Lustbarkeit; aber daran ist nicht zu denken – wir haben zwar alle diese Dinge, aber nur die Namen davon; der Kammerpräsident würde die Achsel zucken, wenn wir nur des Jahrs viermal so glänzend fröhlich sein wollten, als Sie es des Monats viermal sind. Da unsere Woche aus sieben Sonntagen besteht: so sind unsere Lustbarkeiten nur Kalenderzeichen, Zeit-Abschnitte, auf die niemand achtet, und ein Festin ist nichts als ein Spielraum der Plane, die jeder hat, das Brettergerüst seiner Hauptrolle und die Jahrzeit der fortgesetzten Intrige gegen Opfer der Liebe oder des Ehrgeizes. Hier ist jede Minute eine stechende Moskite, und der Distelsame des schöngefärbten Kummers fliegt weit herum. [...]

Was mir aber dieses glückliche Hofleben oft versalzet, ist der allgemeine Mangel an Verstellung. Denn hier glaubt keiner, was er hört, und denkt keiner, wie er aussieht; alle müssen nach den ordentlichen Spielgesetzen, gleich den Karten, einerlei obere Seite haben und äußere Gesichtstille auf inneres Glühen decken, wie der Blitz nur den Degen, aber nicht die Scheide zerstört. – Folglich kann, da eine allgemeine Verstellung keine ist und da jeder dem andern Gift zutraut, keiner belügen, sondern jeder nur überlisten; nur der Verstand, nicht das Herz wird berückt. Inzwischen ist, die Wahrheit zu sagen, das keine Wahrheit; denn jeder hat zwei Masken, die allgemeine und die persönliche. Übrigens werden die Farben, die auf den wissenschaftlichen, feinen und menschenliebenden Anstrich des Äußern verbraucht werden, notwendig vom Innern abgekratzet, aber zum Vorteil, da am Innern nicht viel ist, und das Studium des Scheins verringert das Sein; [...]"
Jean Paul: Hesperus, 2. Heftlein, 17. Hundsposttag

Hesperus ist 1795 erschienen. 1792 begleitete Goethe seinen Herzog auf dem Feldzug der Fürstenkoalition gegen das revolutionäre Frankreich, 1793 versuchte er sich an Theaterstücken, in denen er sich über die Französische Revolution lustig machte.

14 August 2013

Psychologische Aspekte paulinischer Theologie

Gerd Theißen: Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, 1. Aufl. 1983 2. Aufl. 1993 (Text bei Sribd.com)

"Nicht die Außen- und Innenwelt an sich, sondern ihre Deutungen bestimmen menschliches Erleben und Verhalten. Deutungen [...] sind aktive kognitive Strukturierungsprozesse, in die kulturelle Tradition eingeht." (S.33)
Kap 1:
"Die Aufdeckung unbewußter Motive durch die paulinische Theologie. [...] Glaube an den allwissenden Gott [...] Der Mensch durchschaut nicht einmal sein eigenes Wesen." "Anerkennung einer eigenständigen inneren Realität" [...] ermöglicht die Vorstellung einer unbewußten Region im Menschen". (S.66) [1. Kor. 4, 1-5: Vorstellung einer unbewussten Schuld, über die freilich nicht Menschen, sondern nur Gott am Jüngsten Gericht urteilen kann. [Vgl. Röm. 2,16]
"Das Gebet ist aus der Evolution des inneren Dialogs nicht wezudenken." (S.113)
Kap 2:
"Die Hülle des Mose und die unbewußten Aspekte des Gesetzes" (2. Kor. 3, 4-4,6)
Die Hülle des Kopfes der Frau schützt sie vor eigener Begierde und vor den Angriffen durch die gefallenen Engel. (S.176)
In Joseph und Aseneth wird diese vom Engel freilich aufgefordert, den Schleier vom Kopf zu entfernen (JosAs, 15,1 - vgl. auch Joseph u. Asenat)). Gegenüber Gott entfällt der Schutz des Unbewussten.
Theißens Argumentation: Paulus ist gegen die "Auflösung der Geschlechtsrollensymbole" (S.178), verkennt allerdings den Unterschied zwischen kulturellen Symbolen (kurze Haare/lange Haare) und natürlich gegebenen (Bart beim Mann, vgl. dazu Epiktet III 1, 25-34).
Dazu 1. Kor. 11 (Verhüllung des Kopfes der Frau im jüd. Gottesdienst) und 2. Kor. 3, 14f (Aufhebung der Verhüllung aller gegenüber Gott im christl. Gottesdienst).
Mit der Forderung nach der Unterdrückung sexueller Impulse der Frau hinterlässt Paulus ein schweres Erbe. Mit dem Fortfallen der Hülle im christl. Gottesdienst aber gibt er "gegenüber den Forderungen und Inhalten des Überichs" mehr Freiheit. (S.180)

Kap 4: "Glossolalie - Sprache des Unbewußten?" (S.269ff)
"Glossolalie ermöglicht ein gesteigertes [...] positives Selbstbild"
Paulus: "Das Leiden soll in das Selbstbild [...] aufgenommen werden. [...] Wodurch wird die kognitive Umstrukturierung [...] bewirkt?" Durch Christus. "In seiner Gestalt sind die negativen Aspekte der Wirklichkeit mit der positiven Erfahrung der Erlösung verbunden." (S.339)
Vielleicht hat Paulus recht. Vielleicht ist Glossolalie mit dem "Sündenfall" in Verbindung zu bringen "als Erinnerung an ein unsemantisches phonetisches Spiel des Urmenschen, das noch nicht durch die Anforderungen der kulturellen Evolution eingeengt" und in Sprachen genutzt wurde. (S.340)

Kap5: "Weisheit für Vollkommene als höheres Bewußtsein" (S.341ff) [1. Kor. 2, 6-16)

Textanalyse 1. Kor. 18-25: Kreuzespredigt als Torheit, 1. Kor. 2, 6-16 Kreuzespredigt als Weisheit
Man kann das Verhältnis der Kreuzespredigt zur Weisheit im Sinne von Stufen oder im Sinne einer Dialektik verstehen. Für Stufen spricht die Form, für Dialektik der Inhalt. In "dieser Spannung von Form und Inhalt" liegt "der Schlüssel zum Verständnis des Textes" (S.343)

Schlussbemerkungen:
Paulus sieht wie die Moderne das Unbewusste als "bedrohliches Konfliktgeschehen" und als "heilende Kraft". Paulus öffnet sich dem Unbewussten freilich nicht total. Sexuelle Impulse will er kontrolliert sehen. Vielleicht ist das die Voraussetzung für "von sexueller Kontrolle entlastete Beziehungen [...] in der Gemeinde". (S.392)
"Herz paulinischer Theologie: Christus ermöglicht neue Verhaltens- und Erlebensweisen" (S.393)
Der Glaube, "Religion historisch und sachlich ohne psychologische Reflexion erhellen zu können" ist illusionär, aber mit dieser Reflexion ist längst nicht alles über Religion gesagt. [Bei Theißen nur auf das Christentum bezogen]. (S.394)

Informationen zum Buch

13 August 2013

Theodor Storm an Paul Heyse

Wie köstlich es gestern, unser Frühlingsanfang-Tag, in mei­nem Tannengarten war! Ich wollt, Du wärst bei mir gewesen. Alles voll Vogelgesang, und der tut merkwürdig wohl, wenn man selber matt und sangberaubt sich in der Sonne wärmt. Gartenlaubsänger, Buchfink, Meisen, Hänfling - alle waren sie da und sangen um mich her; sie bauten sich dabei wohl ihre Nester in den dichteren Tannenbeständen; sogar der Star, der Spitzbub, kam und ließ sich, wohl nur um die Ge­legenheit zu besehen, auf einen Kirschbaum nieder, der noch mit unaufgebrochenen Knospen stand. Frau Nachtigall sang freilich am 1. Mai den ganzen Tag in meinen Tannen und dann noch zweimal später; aber es waren nur Höflichkeits­visiten; und gestern abend schrie der Waldkauz aus den Tannen, der nur dem einen Gedanken nachgeht, all meine Künstler aufzufressen; bei Tage, und wohl auch später, schleicht ein schwarzer Kater hier herum: so steht der Tod an allen Freuden, und wir dürfen ihn nicht außer Rechnung lassen.
(17.5.1888)

07 August 2013

Njall Ferguson: Der Niedergang des Westens

Wer unter Bezug auf den Generationenvertrag behauptet, die jungen Wähler müssten alle Tea Party wählen, weil die anderen politischen Gruppierungen den Generationenvertrag nicht erfüllten, beweist damit, dass er entweder die ökologische Situationen nicht wirklich wahrgenommen hat (unwahrscheinlich) oder dass er seine Leser nicht für voll nimmt.
Das ist sein gutes Recht, denn erfahrungsgemäß kommen politische Argumentationen nicht an, sobald sie einen gewissen Komplexitätsgrad erreichen. Als Leser weiß ich aber dann, dass es sich um eine politische Propagandaschrift handelt, nicht um Populärwissenschaft, von Wissenschaft ganz zu schweigen. Populärwissenschaft lese ich gerne. Mommsens "Römische Geschichte" ist über große Strecken Populärwissenschaft in diesem guten Sinne. Durchaus auch für den Laien und mit Tendenz geschrieben, aber doch für einen Leser, der überzeugt, nicht überrumpelt werden soll.
Im Zusammenhang habe ich der "Niedergang des Westens" nur bis zur Mitte des zweiten Kapitels gelesen. Aber bis dorthin wiederholt sich immer wieder das Schema, dass Ferguson Wissenschaftlern, die er widerlegen will, Thesen unterstellt, die diese - meines Erachtens - nie aufgestellt haben, und dann diese  von ihm selbst formulierten Thesen widerlegt und dass er eine Fülle von Einzelaussagen macht, die - meines Erachtens - nicht geeignet sind, seine eigenen Thesen zu stützen.
Am meisten stört mich dabei, dass er behauptet, nach 1980 sei ein 'regulierendes Rahmenwerk' eingeführt worden (Seite 78), das für die darauffolgenden Fehlentwicklungen verantwortlich sei. Meiner Kenntnis nach hat mit Reagan und Margret Thatcher die Deregulierung, nicht eine neue  Regulierung begonnen.
Zu den Passagen, die mir lesenwert erscheinen, bei Gelegenheit. Bis dahin verweise ich auf folgende Rezensionen:
Niall Ferguson: "Der Westen und der Rest der Welt"; "Der Niedergang des Westens"

04 August 2013

Der Lord (Hesperus)

Über den Lord muß ich drei Worte sagen, nämlich drei Meinungen. 
Die erste ist ganz unwahrscheinlich: er hält nach ihr wie alle Welt- und Geschäftmänner das Menschengeschlecht für einen Apparat zu Versuchen, für Jagdzeug, für Kriegsgeräte, für Strickzeug – diese Menschen sehen den Himmel nur für die Klaviatur der Erde und die Seele für die Ordonnanz des Körpers an – sie führen Kriege, nicht um die Kränze der Eichen, sondern um ihren Boden und ihre Eicheln zu erbeuten – sie ziehen den Glücklichen dem Verdienstvollen vor und den Erfolg der Absicht – sie brechen Eide und Herzen, um dem Staate zu dienen – sie achten Dichtkunst, Philosophie und Religion, aber als Mittel; [...]
Die zweite Meinung ist wenigstens der ersten entgegen und besser: dem Lord ist, wie andern großen Menschen, die Laufbahn das Ziel, und die Schritte sind ihm die Kränze – Glück unterscheidet sich bei ihm von Unglück nicht im Werte, sondern in der Art, ihm sind beide zwei zusammenlaufende Rennbahnen zum Ewigkeit-Ringe der innern Erhebung – alle Zufälle dieses Lebens sind ihm bloße Rechenexempel in unbenannten Zahlen, die er durchmacht, aber nicht als Kaufmann, sondern als Indifferentialist und Algebraist, welchem die Produkte und die Multiplikanden gleich lieb sind, und dem es einerlei ist, mit Buchstaben oder mit Zentnern zu rechnen. [...]
Gleichwohl ist die dritte Meinung die wahre und zugleich die meinige: der Lord, [...]  ist einer der unglücklichen Großen, die zu viel Genie, zu viel Reichtum und zu wenig Ruhe und Kenntnisse haben, um glücklich zu bleiben – sie hetzen Freude statt der Tugend und verfehlen beide und schreien zuletzt über jeden bittern Tropfen, der ihnen in einem Zuckerhut eingegeben wird [...]
Jean Paul: Hesperus, 1. Heftlein, 13. Hundsposttag

Liebe und Jean Paul (Hesperus)

[...] wenn nun in diesen ehelustigen und ehelosen Zeiten ein Jüngling, der noch auf seine Messiasin wie ein Jude passet und der noch ohne den höchsten Gegenstand des Herzens ist, von ungefähr mit einer Tanz-Hälfte, mit einer Klubistin oder Associée oder Amtschwester oder sonstigen Mitarbeiterin hundert Seiten in den Wahlverwandtschaften oder in den Hundposttagen lieset – oder mit ihr über den Kleebau oder Seidenbau oder über Kants Prolegomena drei bis vier Briefe wechselt – oder ihr fünfmal den Puder mit dem Pudermesser von der Stirne kehrt – oder neben und mit ihr betäubende Säbelbohnen anbindet – oder gar in der Geisterstunde (die ebensooft zur Schäferstunde wird) über den ersten Grundsatz in der Moral uneins wird: so ist soviel gewiß, daß der besagte Jüngling (wenn anders Feinheit, Gefühl und Besonnenheit einander die Waage in ihm halten) ein wenig toll tun und für die besagte Mitarbeiterin (wenn sie anders nicht mit Höckern des Kopfes oder Herzens an seine Fühlfäden stößet) etwas empfinden muß, das zu warm ist für die Freundschaft und zu unreif für die Liebe, das an jene grenzt, weil es mehre Gegenstände einschließt, und an diese, weil es an dieser stirbt. Und das ist ja eben nichts anders als meine Gesamt- oder Zugleichliebe, die ich sonst Simultan- und Tuttiliebe genannt. Beispiele sind verhaßt: sonst zög' ich meines an. Diese Universalliebe ist ein ungegliederter Fausthandschuh, in den, weil keine Verschläge die vier Finger trennen, jede Hand leichtlich hineinfährt – in die Partialliebe oder in den Fingerhandschuh drängt sich nur eine einzige Hand. Da ich zuerst diese Sache und Insel entdeckt habe: so kann ich ihr den Namen schenken, womit sie andre nennen und rufen müssen. Man soll sie künftighin die Samm- oder Zugleichliebe benamsen, ob ich sie gleich auch, wenn ich und Kolbe wollten, die Präludierliebe – die Maskopei-Zärtlichkeit – die General-Wärme – die Einkindschafttreue nennen lassen könnte. [...]

Gleichwohl konnt' es Jean Paul – es mochte immerhin Platz genug übrig sein – nie so weit treiben, daß er nur in die zwei Koloniekörbe, nämlich in die Herzohren hineingekommen wäre, welches doch das Allerwenigste ist. Weil sein Gesicht zu mager aussieht, die Farbe zu gelb, der Kopf viel voller als die Tasche und sein Einkommen das einer Titular-Berghauptmannschaft ist: so quartieren sie den guten Schelm bloß am kältesten Orte ganz oben unter den Kopf-Mansarden ein, nicht weit von den Haarnadeln – und da sitzt er noch jetzunder und scherzet (schreibend) sein eilftes Kapitel hinaus....

Jean Paul: Hesperus, 1. Heftlein, 11. Hundsposttag