Auf der Straße flutete noch Unruhe hin und her, und Arnheim, der am Fenster gestanden hatte, kam ihm von dort entgegen, um ihn zu begrüßen. Der unerwartete Zufall dieses zögernd gesuchten Zusammentreffens belebte sein Gesicht, aber er wollte vorsichtig sein und fand nicht den gewünschten Anfang. Auch Ulrich konnte sich nicht entschließen, gleich mit den galizischen Öllagern zu beginnen, und so schwiegen die beiden Männer bald nach den ersten Begrüßungsworten und traten schließlich gemeinsam ans Fenster, wo sie stumm auf die Erregung in der Tiefe hinabsahen.
Nach einer Weile sagte Arnheim: »Ich kann Sie nicht verstehen; ist es nicht tausendmal wichtiger, sich mit dem Leben abzugeben, als zu schreiben?!«
»Ich schreibe ja nichts« erwiderte Ulrich knapp.
»Daran tun Sie recht!« – Arnheim paßte sich der Antwort an – »Das Schreiben ist, so wie die Perle, eine Krankheit. Sehen Sie –:« Er wies mit zweien seiner gepflegten Finger auf die Straße, eine Bewegung, die trotz ihrer Schnelligkeit ein wenig vom päpstlichen Segen an sich hatte. »Da kommen die Leute einzeln und in Rudeln, und von Zeit zu Zeit wird von innen ein Mund aufgerissen und schreit! Ein andermal würde der Mann schreiben; da haben Sie recht!«
Es war natürlich unmöglich, darauf nein zu sagen; aber da Ulrich unwillkürlich ein wenig abgerückt war, wirkte diese rhetorische Höflichkeit wie eine Seilschlinge, die ihn wieder heranholte. »Ich hoffe,« begann Arnheim »daß Sie unseren letzten kleinen Zusammenstoß nicht übel vermerkt, sondern der Teilnahme zugute gehalten haben, die ich Ihren Anschauungen entgegenbringe, auch wenn sie, was ja nicht selten geschieht, den meinen zu widersprechen scheinen. Dann darf ich Sie also fragen, ob Sie wirklich daran festhalten, daß – ich möchte es gerne zusammenfassend sagen: – daß man mit einem eingeschränkten Realgewissen leben soll? Drücke ich mich richtig aus?« [...]
»Aber nun verzeihen Sie mir noch eine letzte Frage: Sie empfinden, wie mir Ihre Kusine wiederholt gesagt hat, lebhafte Teilnahme für einen krankhaft-gefährlichen Menschen. Ich verstehe das, nebenbei bemerkt, sehr gut. Auch gibt es noch kein rechtes Verfahren mit solchen Leuten, und das Verhalten der menschlichen Gesellschaft ist ihnen gegenüber schändlich fahrlässig. Aber wie die Verhältnisse nun einmal liegen und nur die Wahl lassen, daß dieser Mensch entweder unschuldig getötet wird oder Unschuldige tötet: Würden Sie ihn in der Nacht vor seiner Hinrichtung entschlüpfen lassen, wenn Sie die Macht dazu hätten?«
»Nein!« sagte Ulrich.
»Nein? Wirklich nein?!« fragte Arnheim, plötzlich sehr lebhaft.
»Ich weiß es nicht. Ich glaube nein. Ich könnte mich natürlich darauf ausreden, daß ich in einer falsch eingerichteten Welt gar nicht so handeln darf, wie es mir recht vorkommt; aber ich will Ihnen einfach zugeben, daß ich nicht weiß, was ich zu tun hätte.«
»Dieser Mann ist zweifellos unschädlich zu machen« sagte Arnheim nachdenklich. »Er ist aber in den Zeiten seiner Anfälle ein Sitz des
Dämonischen, das in allen starken Jahrhunderten dem Göttlichen verwandt empfunden worden ist. Früher hätte man den Mann, wenn seine Anfälle kamen, in die Wüste geschickt; er würde dann vielleicht auch gemordet haben, aber in einer großen Vision, wie Abraham den Isaak schlachten wollte! Das ist es! Wir wissen heute nichts mehr damit anzufangen, und wir meinen nichts mehr ehrlich!«
Vielleicht hatte sich Arnheim zu diesen letzten Worten hinreißen lassen und wußte selbst nicht genau, was er damit sagen wollte; daß Ulrich nicht so viel »Seele und Torheit« aufbrachte, um die Frage, ob er Moosbrugger retten würde, ohne Hemmung zu bejahen, hatte seinen eigenen Ehrgeiz aufgestachelt. Aber Ulrich, obwohl er diese Wendung des Gesprächs fast als ein Zeichen empfand, das ihn unerwartet an seinen »Beschluß« im Leinsdorfschen Palais erinnerte, ärgerte sich über die verschwenderische Ausschmückung, die Arnheim dem Gedanken an Moosbrugger gab, und beides ließ ihn gespannt trocken fragen: »Würden Sie ihn befreien?«
»Nein« erwiderte Arnheim lächelnd; »aber ich wollte Ihnen einen anderen Vorschlag machen.« Und ohne ihm Zeit zum Widerstand zu lassen, fuhr er fort: »Ich will Ihnen schon lange diesen Vorschlag machen, damit Sie Ihr Mißtrauen gegen mich aufgeben, das mich, offen gestanden, kränkt; ich möchte Sie sogar für mich gewinnen! Haben Sie eine Vorstellung davon, wie ein großes Wirtschaftsunternehmen innen aussieht? Es hat zwei Spitzen: die Geschäftsleitung und den Verwaltungsrat; über diesen beiden gewöhnlich noch eine dritte, das Exekutivkomitee, wie Sie es hierzulande nennen, das aus Teilen von beiden besteht und täglich oder beinahe täglich zusammentritt. Der Verwaltungsrat ist selbstverständlich mit Vertrauensleuten der Aktienmajorität besetzt –« Er gönnte Ulrich jetzt erst eine Pause, und sie war so, als prüfe er ihn, ob ihm nicht schon bisher etwas aufgefallen sei. »Ich sagte, die Aktienmajorität entsende ihre Vertrauensleute in Verwaltungsrat und Exekutivkomitee« half er nach: »Stellen Sie sich unter dieser Majorität etwas Bestimmtes vor?«
Ulrich tat es nicht; er besaß nur eine unbestimmte Sammelvorstellung vom Geldwesen, die Beamte, Schalter, Kupons und urkundenähnliche Papiere enthielt.
Arnheim half abermals nach. »Haben Sie schon jemals einen Verwaltungsrat gewählt? Sie haben es nie getan!« – setzte er gleich selbst hinzu – »Und es hätte auch keinen Sinn, daran zu denken, denn Sie werden nie die Aktienmajorität eines Unternehmens besitzen!« Er sagte das so bestimmt, daß sich Ulrich fast durch den Mangel einer so wichtigen Eigenschaft hätte beschämt fühlen können; und es war auch ein echt Arnheimscher Einfall, mit einem einzigen Schritt und ohne Mühe von den Dämonen zu den Verwaltungsräten überzugehn. Er
fuhr lächelnd fort: »Ich habe Ihnen eine Person bisher nicht genannt, und es ist in gewissem Sinn die wichtigste! Ich habe ‹die Aktienmajorität› gesagt, das klingt wie eine harmlose Vielheit: dennoch ist das fast immer eine einzelne Person, ein ungenannter und der großen Öffentlichkeit unbekannter Hauptanteilbesitzer, der von jenen verdeckt wird, die er an seiner Statt vorschickt!«
Nun dämmerte es Ulrich natürlich, daß dies Dinge seien, von denen man jeden Tag in der Zeitung lesen könne; aber Arnheim verstand es immerhin, ihnen Spannung zu geben. Neugierig fragte er ihn, wer die Aktienmajorität der Lloyd-Bank besitze.
»Das weiß man nicht« erwiderte Arnheim ruhig. »Richtiger gesagt, Eingeweihte wissen es natürlich, aber es ist nicht üblich, davon zu sprechen. Lassen Sie mich lieber auf den Kern dieser Dinge kommen: Überall, wo zwei solche Kräfte da sind, ein Auftraggeber auf der einen, eine Verwaltung auf der anderen Seite, entsteht von selbst die Erscheinung, daß jedes mögliche Mehrungsmittel ausgenutzt wird, ob es nun moralisch und schön ist oder nicht. Ich sage wirklich ‹von selbst›, denn diese Erscheinung ist in hohem Grade unabhängig vom Persönlichen. Der Auftraggeber kommt nicht unmittelbar in Berührung mit der Ausführung, und die Organe der Verwaltung sind dadurch gedeckt, daß sie nicht aus persönlichen Gründen, sondern als Beamte handeln. Dieses Verhältnis finden Sie heute allenthalben und durchaus nicht nur im Geldwesen. Sie können versichert sein, daß unser Freund Tuzzi in größter Gewissensruhe das Zeichen zu einem Krieg geben würde, selbst wenn er persönlich nicht einen alten Hund totschießen könnte, und ihren Freund Moosbrugger werden Tausende zum Tode befördern, weil sie es bis auf drei nicht mit leiblicher Hand zu tun brauchen! Durch diese zur Virtuosität ausgebildete ‹Indirektheit› wird heute das gute Gewissen jedes Einzelnen wie der ganzen Gesellschaft gesichert; der Knopf, auf den man drückt, ist immer weiß und schön, und was am anderen Ende der Leitung geschieht, geht andere Leute an, die für ihre Person wieder nicht drücken. Finden Sie es abscheulich? So lassen wir Tausende sterben oder vegetieren, bewegen Berge von Leid, richten damit aber auch etwas aus! Ich möchte beinahe behaupten, daß sich darin, in der Form der sozialen Arbeitsteilung, nichts anderes ausdrückt als die alte Zweiteilung des menschlichen Gewissens in gebilligten Zweck und in Kauf genommene Mittel, wenn auch in einer grandiosen und gefährlichen Weise.« [...]
Als Ulrich auch darauf eine Antwort nicht nötig fand, sagte Arnheim so höflich, wie es einer Ungezogenheit gegenüber das richtige ist: »Ich habe nur Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken wollen, wie sehr man sich heute bei wirtschaftlichen Entscheidungen, von denen ohnehin beinahe alles abhängt, auch noch die moralische Verantwortung selbst zurechtlegen muß und wie fesselnd sie dadurch werden.« Es lag ein leichter werbender Nachdruck selbst in dieser zurechtweisenden Bescheidenheit.
»Verzeihen Sie« entgegnete Ulrich; »ich habe über Ihre Worte nachgedacht.« Und als täte er es noch, fügte er hinzu: »Ich wüßte gerne, ob Sie es auch für eine zeitgemäße Indirektheit und Bewußtseinsteilung
halten, wenn man der Seele einer Frau mystische Gefühle einflößt, während man es für das Vernünftigste hält, ihrem Gatten ihren Körper zu überlassen?«
Arnheim verfärbte sich ein wenig bei diesen Worten, aber er verlor nicht die Beherrschung der Lage. Er erwiderte ruhig: »Ich weiß nicht mit Sicherheit, was Sie meinen. Aber wenn Sie von einer Frau sprechen würden, die Sie lieben, könnten Sie das nicht sagen, denn die Gestalt der Wirklichkeit ist immer reicher als die Linienführung der Grundsätze.« – Er war vom Fenster weggegangen und lud Ulrich zum Sitzen ein. »Sie geben sich nicht leicht gefangen!« – fuhr er in einem Ton fort, der sowohl von Anerkennung wie von Bedauern etwas hatte – »Aber ich weiß, daß ich für Sie mehr ein feindliches Prinzip als einen persönlichen Gegner bedeute. Und die, welche für ihre Person die erbittertsten Gegner des Kapitalismus sind, sind im Geschäft nicht selten seine besten Diener; ich darf mich sogar ein wenig selbst dazu rechnen, sonst würde ich mir nicht erlauben, Ihnen das zu sagen. Unbedingte und leidenschaftliche Menschen sind, wenn sie einmal die Notwendigkeit eines Zugeständnisses eingesehen haben, gewöhnlich seine begabtesten Verfechter. Ich will darum meinen Vorsatz unter allen Umständen zu Ende führen und schlage Ihnen vor: Treten Sie in die Unternehmungen meiner Firma ein.« [...]
Als Arnheim diese Rede schloß, fühlte er doch, daß er erregt war. Eigentlich wunderte er sich in diesem Augenblick darüber, daß er Ulrich nun wirklich ein solches Angebot gemacht habe, durch dessen Zurückweisung er nur bloßgestellt werden konnte, ohne daß mit der Annahme ein erfreulicher Zweck verbunden war. Denn die Vorstellung,
dieser vor ihm befindliche Mensch könne zu etwas imstande sein, was er selbst nicht zuwegebringe, war im Verlauf des Gesprächs geschwunden, und das Bedürfnis, diesen Mann zu verführen und in seine Macht zu bringen, war unsinnig geworden, seitdem es sich Luft gemacht hatte. Daß er sich vor etwas gefürchtet hatte, was er dieses Mannes »Witz« nannte, erschien ihm unnatürlich. Er, Arnheim, war ein großer Herr, und für einen solchen hat das Leben einfach zu sein! Er verträgt sich mit allem anderen Großen, soweit ihm das erlaubt ist, lehnt sich nicht abenteuerlicherweise gegen alles auf und zieht nicht alles in Zweifel, das wäre gegen seine Natur; auf der anderen Seite aber gibt es natürlich die schönen und zweifelhaften Dinge, und man zieht so viel von ihnen heran, als es möglich ist. Noch nie glaubte Arnheim so stark wie in diesem Augenblick die Sicherheit der westlichen Kultur empfunden zu haben, die ein wundervolles Geflecht von Kräften und Hemmungen ist! Wenn Ulrich das nicht einsah, so war er nichts als ein Abenteurer, und daß er sich durch ihn beinahe zu dem Gedanken hatte verleiten lassen –: hier versagten aber Arnheim die Worte trotz ihrer stummen Verborgenheit; er brachte es nicht fertig, sich die Vorstellung deutlich ausgliedern zu lassen, daß er daran gedacht habe, Ulrich an Sohnes Statt an sich zu ziehen. [...]
Während Gefühl und Überlegung diesen Weg zurücklegten, stand jedoch die Lage nicht still, sondern es folgten Frage und Antwort geläufig aufeinander.
»Und welchen Eigenschaften« fragte Ulrich trocken »verdanke ich diesen Vorschlag, der kaufmännisch wohl kaum zu rechtfertigen ist?«
»Sie irren in dieser Frage immer wieder« entgegnete Arnheim. »Dort, wo ich stehe, sucht man die kaufmännische Rechtfertigung nicht in Heller und Pfennig; was ich an Ihnen verlieren könnte, spielt keine Rolle gegenüber dem, was ich zu gewinnen hoffe!«
»Sie machen mich aufs äußerste neugierig« meinte Ulrich; »daß ich ein Gewinn sein solle, wird mir sehr selten gesagt. Ein kleiner hätte ich vielleicht für meine Wissenschaft werden können, aber selbst da habe ich, wie Sie wissen, enttäuscht.«
»Darüber, daß Sie ungewöhnlich viel Verstand besitzen,« antwortete Arnheim (immer noch in dem Ton stiller Unerschütterlichkeit, an dem er äußerlich festhielt) »sind Sie mit sich selbst im reinen; das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Aber es wäre sogar möglich, daß wir schärfere und verläßlichere Intelligenzen in unseren Betrieben hätten. Es ist dagegen Ihr Charakter, es sind Ihre menschlichen Eigenschaften, was ich aus bestimmten Gründen dauernd an meiner Seite haben möchte.«
»Meine Eigenschaften?« Ulrich mußte lächeln. »Wissen Sie, daß mich meine Freunde einen Mann nennen, der keine Eigenschaften hat?«
Arnheim ließ sich eine kleine Gebärde der Ungeduld entschlüpfen, die ungefähr besagte: »Erzählen Sie mir nichts von sich, was ich längst besser weiß!« In diesem Zucken, das über sein Gesicht bis in die Schulter lief, setzte sich seine Unzufriedenheit durch, während die Worte noch nach Plan und Vorsatz weiterliefen. Ulrich fing diesen Ausdruck auf, und so leicht war er durch Arnheim zu reizen, daß er dem Gespräch nun doch die bisher vermiedene Wendung zu voller Offenheit gab. Sie waren indes wieder aufgestanden, er trat einige Schritte von seinem Gegenüber weg, um die Wirkung besser beobachten zu können, und sagte: »Sie haben mir so viele bedeutsame Fragen gestellt, daß auch ich etwas wissen möchte, ehe ich mich entscheide.« Und auf eine einladende Bewegung Arnheims fuhr er klar und sachlich fort: »Man hat mir erzählt, daß Ihre Teilnahme an allem, was mit der hier im Gang befindlichen ‹Aktion› zusammenhängt – und sowohl Frau Tuzzi wie meine Wenigkeit wären da nur ein Zusatz! – der Erwerbung von großen Teilen der galizischen Ölfelder dienen soll?«
Arnheim war, soviel man in dem schon schlecht gewordenen Licht sehen konnte, bleich geworden und ging langsam auf Ulrich zu. Dieser hatte den Eindruck, sich gegen eine Unhöflichkeit vorsehen zu müssen, und bedauerte, durch seine unvorsichtige Geradheit dem anderen
die Möglichkeit gegeben zu haben, eine Fortsetzung des Gesprächs in dem Augenblick abzulehnen, wo sie ihm unangenehm werden mußte: Er sagte darum so liebenswürdig wie möglich: »Ich wünsche Sie natürlich nicht zu beleidigen, aber unsere Aussprache würde nie ihre volle Bedeutung gewinnen, wenn wir sie nicht rücksichtslos führten!«
Diese paar Worte und die Zeit für das kurze Stück Wegs genügten, um Arnheim seine Fassung wiederfinden zu lassen; er trat mit einer lächelnden Bewegung an Ulrich heran, legte ihm die Hand, ja eigentlich den Arm auf die Schulter und sagte vorwurfsvoll: »Wie können Sie einem solchen Börsengerücht aufsitzen!«
»Ich habe es nicht als Gerücht, sondern von jemand erfahren, der gut unterrichtet ist.«
»Ja, ich habe auch schon davon gehört, daß man das erzählt: wie konnten Sie es nur glauben! Natürlich bin ich nicht bloß zu meinem Vergnügen hier; ich kann es mir leider niemals erlauben, daß die Geschäfte ganz ruhen. Und ich will auch nicht leugnen, mit einigen Personen über diese Öllager gesprochen zu haben, wiewohl ich Sie bitten muß, über dieses Zugeständnis Schweigen zu bewahren. Aber alles das ist doch nicht das Wesentliche!«
»Meine Kusine« fuhr Ulrich fort »ahnt von Ihrem Petroleum nicht das geringste. Sie hat von ihrem Gatten den Auftrag empfangen, Sie ein wenig über den Zweck Ihres Aufenthaltes auszuhorchen, weil man Sie hier für eine Vertrauensperson des Zaren hält; aber ich bin überzeugt, daß sie diese diplomatische Mission nicht gut ausführt, denn sie ist sicher, einzig und allein selbst der Zweck Ihrer Anwesenheit zu sein!«
»Seien Sie doch nicht so undelikat!« Arnheims Arm gab Ulrichs Schulter eine freundschaftliche leichte Bewegung. »Nebenbedeutungen laufen vielleicht immer und überall mit; aber Sie haben soeben, trotz der vermeintlichen Satire, mit der ungezogenen Aufrichtigkeit eines Schuljungen darüber gesprochen!«
Dieser Arm auf seiner Schulter machte Ulrich unsicher. Es war eine lächerliche und unangenehme Empfindung, sich umarmt zu fühlen, ja man konnte sie geradezu jämmerlich nennen; aber Ulrich hatte lange Zeit keinen Freund besessen, und vielleicht war es darum auch ein wenig verwirrend. Er würde diesen Arm gern abgestreift haben, und unwillkürlich bemühte er sich darum; aber Arnheim nahm die kleinen Zeichen von Unwillkommenheit wahr und mußte sich anstrengen, um das nicht merken zu lassen, und aus Höflichkeit, weil er Arnheims schwierige Lage mitfühlte, hielt Ulrich still und ertrug die Berührung, die nun immer sonderbarer auf ihn zu wirken begann, wie ein schweres Gewicht, das in einen locker aufgeschütteten Damm
einsinkt und ihn entzweireißt. Diesen Wall von Einsamkeit hatte Ulrich, ohne daß er es wollte, um sich aufgerichtet, und nun drang durch eine Bresche das Leben ein, der Puls eines anderen Menschen, und es war ein dummes Gefühl, lächerlich, aber doch ein wenig aufregend.
Er dachte an Gerda. Erinnerte sich, wie schon sein Jugendfreund Walter das Verlangen in ihm erregt hatte, einmal wieder und so zügellos ganz mit einem Menschen übereinstimmen zu können, als ob es in der weiten Welt keine anderen Unterschiede gäbe als die der Zu- und Abneigung. Jetzt, wo es zu spät war, stieg das Verlangen danach wieder in ihm auf, in silbernen Wellen, schien es, wie die Weite eines Stroms hinab die Wellen von Wasser, Luft und Licht zu einem einzigen Silber werden, und so betörend, daß er sich hüten mußte, dem nachzugeben und in seiner zweideutigen Lage ein Mißverständnis hervorzurufen. [...]
Ulrich erinnerte sich der Heilrufe auf Arnheim, die er gehört zu haben glaubte, und mochte jener
mit diesen Vorgängen zusammenhängen oder nicht, in der cäsarischen Ruhe, die er, nachdenklich auf die Straße blickend, zur Schau trug, wirkte er wie die beherrschende Figur in diesem Augenblicksgemälde und schien seine eigene Gegenwart darin auch bei jedem Blick zu fühlen. Man begriff neben ihm, was Selbstbewußtsein heißt: Das Bewußtsein vermag nicht, das Wimmelnde, Leuchtende der Welt in Ordnung zu bringen, denn je schärfer es ist, desto grenzenloser wird, wenigstens vorläufig, die Welt; das Selbstbewußtsein aber tritt hinein wie ein Regisseur und macht eine künstliche Einheit des Glücks daraus. Ulrich beneidete diesen Mann um sein Glück. Es schien ihm in diesem Augenblick nichts leichter zu sein, als an ihm ein Verbrechen zu begehn, denn mit seinem Bedürfnis nach Bildhaftigkeit lockte dieser Mann auch diese alten Texte auf die Szene! »Nimm einen Dolch und erfülle sein Schicksal!«: Ulrich hatte diese Worte ganz mit schlechtem schauspielerischen Tonfall im Ohr, aber unwillkürlich richtete er es so ein, daß er mit dem halben Körper hinter Arnheim zu stehen kam. Er sah die dunkle, breite Fläche des Halses und der Schultern vor sich. Namentlich der Hals reizte ihn. Seine Hand suchte in den Taschen der rechten Körperseite nach dem Federmesser. Er hob sich auf die Fußspitzen und senkte seinen Blick an Arnheim vorbei noch einmal in die Straße. Im Halbdunkel draußen wurden die Menschen wie Sand von einer Welle angeschleppt, die ihre Körper bewegte. Irgend etwas mußte ja wohl aus dieser Kundgebung folgen, und so schickte die Zukunft eine Welle voraus, und es fand eine Art überpersönlicher schöpferischer Durchdringung der Menschen statt, aber es war wie immer eine höchst ungenaue und fahrlässige: so ähnlich empfand Ulrich, was er sah, und wurde eine kurze Weile davon festgehalten, aber er war es bis zu Ekelgefühlen müde, daran Kritik zu üben. Er ließ sich vorsichtig wieder auf die Sohlen sinken, schämte sich der Gedankenspielerei, die ihn diesen Weg vorher in entgegengesetzter Richtung hatte zurücklegen lassen, ohne das aber sonderlich wichtig zu nehmen, und fühlte eine große Verlockung, Arnheim auf die Schulter zu tippen und ihm zu sagen: »Ich danke Ihnen, ich habe es satt, ich will etwas Neues versuchen, und ich nehme Ihren Vorschlag an!« [...]
Er [Arnheim] lachte ein wenig. »Sie haben eine Generalinventur des Geistes gefordert: Glauben Sie daran? Glauben Sie denn, daß das Leben vom Geist regulierbar ist?! Sie haben natürlich nein gesagt: Aber ich glaube Ihnen nicht, denn Sie sind ein Mensch, der den Teufel umarmen würde, weil er der Mann ohnegleichen ist!«
»Woraus ist das?« fragte Ulrich.
»Aus der unterdrückten Vorrede zu den Räubern.«
»Natürlich aus der unterdrückten,« dachte Ulrich »wie denn aus einer gewöhnlichen!«
»Geister, die das abscheuliche Laster reizet, um der Größe willen, die ihm anhängt« zitierte Arnheim aus seinem umfassenden Gedächtnis weiter. Er fühlte, daß er wieder Herr der Lage sei und Ulrich, aus welchen Gründen immer, nachgegeben habe; es war nicht mehr feindliche Härte neben ihm, man brauchte auch nicht mehr von dem Antrag zu sprechen, das war in einer glücklichen Weise vorbeigegangen; aber so wie ein Ringkämpfer das Ermatten des Gegners errät und da sein ganzes Gewicht einsetzt, fühlte er das Bedürfnis, die volle Schwere jenes Antrags nachwirken zu lassen, und fuhr fort: »Ich glaube, daß Sie mich jetzt besser verstehen werden als anfangs. Ich gestehe Ihnen also offen, daß ich mich zuweilen allein fühle. Wenn die Leute ‹neu› sind, denken sie zu wirtschaftlich; wenn die Wirtschaftsfamilien aber die zweite oder dritte Generation bilden, verlieren sie die Phantasie. Sie bringen dann nur noch einwandfreie Verwalter hervor, Schlösser, Jagden, Offiziere und adelige Schwiegersöhne. Ich kenne diese Leute in der ganzen Welt; es sind kluge und feine Menschen darunter, aber sie sind nicht fähig, auch nur einen Gedanken hervorzubringen, der mit diesem letzten Unruhig-, Unabhängig- und vielleicht Unglücklichsein zusammenhängt, das ich durch das Schillerzitat gekennzeichnet habe.«
»Ich kann leider das Gespräch nicht fortsetzen« erwiderte Ulrich. »Frau Tuzzi dürfte den Wiedereintritt der Ruhe in einem befreundeten Haus
abwarten, aber ich muß fort, Sie trauen mir also zu, daß ich, ohne von Wirtschaft etwas zu verstehen, diese Unruhe besitze, die ihr so förderlich ist, indem sie ihr das allzu Wirtschaftliche nimmt?« Er hatte Licht gemacht, um sich zu verabschieden, und wartete auf Antwort. Arnheim legte ihm in majestätischer Freundlichkeit den Arm auf die Schulter, eine Gebärde, die sich nun schon bewährt zu haben schien, und erwiderte: »Verzeihen Sie mir, wenn ich vielleicht etwas viel gesagt habe, es war eine Stimmung der Einsamkeit! Die Wirtschaft kommt zur Macht, und was fangen wir mit der Macht an, fragt man sich manchmal! Nehmen Sie es mir nicht übel!«
»Aber im Gegenteil!« versicherte Ulrich. »Ich habe mir vorgenommen, Ihren Vorschlag ernst zu überlegen!« – Er sagte das schnell, und man konnte diese Hast als Erregung deuten. Darum blieb Arnheim, der noch auf Diotima wartete, etwas verdutzt zurück und fürchtete, daß es gar nicht so einfach sein werde, Ulrich auf eine ehrenvolle Weise von diesem Vorschlag wieder abzubringen.
Aus meiner Sicht fängt erst mit diesem und dem folgenden Kapitel Ulrich an, als Prson verständlicher zu werden, weil der Bezug auf Musils eigenes Weltverständnis fassbarer wird.