18 Oktober 2015

Hunger und der Tod des Schützlings Infortunatus

Allein, schrecklicher noch als die Partherpfeile, schwerer als die Mittagshitze bedrohte das schwer leidende Heer der Hunger. Die für zwanzig Tage berechneten Vorräte gingen rasch zu Ende, und noch immer war die ersehnte Grenze von Corduene nicht erreicht! Längst hatte Julian die Wagen mit Brot und getrocknetem Fleisch bei Tag und besonders bei Nacht durch verläßliche Krieger bewachen lassen müssen. Nicht gegen die Perser, gegen Diebstahl und Raub der eigenen hungernden Scharen, denen schon nach den verlorenen ersten zehn Tagen der Tagesteil auf die Hälfte herabgemindert war. Nur das täglich sich steigernde Zusammenschmelzen der Kopfzahl ermöglichte die karge Ernährung der noch Weiterstapfenden.
Der Imperator begnügte sich mit einem Viertelteil. Und dieses teilte er redlich mit seinem kleinen Schützling, dem Knaben Infortunatus, für den er außerdem den achten Teil einer Tagesnahrung in Anspruch nahm. Der Knabe hing an ihm mit der Dankbarkeit eines geretteten und liebevoll gepflegten jungen Tierleins.
Alle entbehrlichen Pferde waren längst geschlachtet. Das Fleisch wurde nicht frisch verzehrt, sondern an den Lagerfeuern gedörrt und dann in kleinste Stücke zerschnitten, sorgfältig verwahrt, mitgeführt. Eine ähnliche, nur noch viel todesgefährlichere Plage als die Mücken bereitete in diesen Gegenden die unerhörte Zahl giftiger Schlangen, von der Art der Sandviper, die in dem heißen Boden ganz besonders zu gedeihen schienen und deren Biß bei der großen Hitze gar vielen der Unvorsichtigen, wenn sie, ermüdet, sich in dem Nachtlager der Sandalen entledigt hatten, raschen, qualvollen Tod brachte. Eines Abends betrat der Feldherr mit dem Perserknaben das eben für ihn auf freiem Feld errichtete Zelt; ein Teppich bedeckte den glutheißen Boden. Er legte die Beinschienen ab und warf sie neben sich. Da raschelte etwas zischend unter dem Teppich hervor. Eine Viper schoß, sich halb aufrichtend, gegen seine Wade; schnell fuhr der Knabe mit dem nackten Arm dazwischen und ergriff die Schlange. Augenblicklich war sein Arm umringelt und gebissen. Er streifte sie ab und zertrat ihren Kopf, und er nickte lächelnd dem erschrockenen Freunde zu, der jetzt erst die Gefahr erkannte und eilig die Wunde aussog. Aber alsbald begannen, trotz des Oribasius Heilversuchen, die tödlichen Zuckungen. Bevor der Knabe die dankenden Augen schloß – unverwandt hielt er sie auf seinen Herrn gerichtet –, malte er mit zitternden Fingern in den Sand der Steppe die Worte: »Für dich!« Nun nicht mehr Infortunatus ... Fortunatus! Unter Tränen setzte der Imperator selbst den Scheiterhaufen, aus Zeltstangen und Steppengestrüpp geschichtet, in Brand, der den kleinen Leib verzehrte.
»Maximus ... Artemidor ... Infortunatus! Ich habe kein Glück mit meinen Schützlingen«, sprach er traurig im Hinwegschreiten. »Oder vielmehr: Mein Schutz bringt ihnen Unglück.«
Felix Dahn: Julian der Abtrünnige, 40. Kap. (105)

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