26 November 2016

Hinweis für Geschichtsschreiber

Wie ganz Abdera vor Bewunderung und Entzücken über die Andromeda des Euripides zu Narren wurde. Philosophisch-kritischer Versuch über diese seltsame Art von Phrenesie, welche bei den Alten insgemein die Abderitische Krankheit genannt wird, – den Geschichtschreibern ergebenst zugeeignet. 
Als der Vorhang gefallen war, sahen die Abderiten noch immer mit offnem Aug und Munde nach dem Schauplatze hin; und so groß war ihre Verzückung, daß sie nicht nur ihrer gewöhnlichen Frage: Wie hat Ihnen das Stück gefallen? vergaßen, sondern sogar des Klatschens vergessen haben würden, wenn Salabanda und Onolaus (die bei der allgemeinen Stille am ersten wieder zu sich selbst kamen) nicht eilends diesem Mangel abgeholfen, und dadurch ihren Mitbürgern die Beschämung erspart hätten, gerade zum ersten Male, wo sie wirklich Ursache dazu hatten, nicht geklatscht zu haben. [...]
Wenn der Rat nicht (wie so viele andre, die uns von den Weisen gegeben werden) den einzigen Fehler hätte – daß er nicht praktikabel ist, so würden wir eilen was wir könnten, allen Menschen den Rat zu geben: «niemals von irgend einer Begebenheit, die ihnen erzählt wird, ein Wort zu glauben». Denn unzählige Erfahrungen, die wir hierüber seit mehr als dreißig Jahren gemacht, haben uns überzeugt, daß an solchen Erzählungen ordentlicher Weise kein Wort wahr ist; und wir wissen uns in ganzem Ernste nicht eines einzigen Falles zu besinnen, wo eine Sache, wiewohl sie sich erst vor wenigen Stunden zugetragen hatte, nicht von jedem, der sie erzählte, anders, und also (weil doch ein Ding nur auf Eine Art wahr ist) von jedem falsch erzählt worden wäre. Da es diese Bewandtnis mit Dingen hat, die zu unsrer Zeit, an dem Ort unsers Aufenthalts, und beinahe vor unsern sichtlichen Augen geschehen sind: so kann man leicht ermessen, wie es um die historische Treue und Zuverlässigkeit solcher Begebenheiten stehen müsse, die sich vor langer Zeit zugetragen, und für die wir keine andre Gewähr haben, als was uns davon in geschriebenen oder gedruckten Büchern vorgespiegelt wird.  [...]
(Wieland: Die Abderiten, 3.Buch, 12. Kapitel)

Euripides führt in Abdera seine Andromeda auf

Der Senat zu Abdera gibt dem Euripides, ohne daß er darum angesucht, Erlaubnis, eines seiner Stücke in dem Abderitischen Theater aufzuführen. Kunstgriff, wodurch sich die Abderitische Kanzlei in solchen Fällen zu helfen pflegte. Schlaues Betragen des Nomophylax. Merkwürdige Art der Abderiten, einem, der ihnen im Wege stand, allen Vorschub zu tun. 
Nachdem Euripides die Wahrzeichen von Abdera sämtlich in Augenschein genommen hatte, führte man ihn nach dem Garten der Salabanda, wo er den Ratsherrn ihren Gemahl (einen Mann, der bloß wegen seiner Gemahlin bemerkt wurde) und eine große Gesellschaft von Abderitischem Beau-Monde fand, alle sehr begierig zu sehen, wie man es machte, um Euripides zu sein. Euripides sah nur Ein Mittel sich mit Ehren aus der Sache zu ziehen; und das war – in so guter Abderitischer Gesellschaft nicht Euripides – sondern so sehr Abderit zu sein als ihm nur immer möglich war. Die wackern Leute wunderten sich, ihn so gleichartig mit ihnen selbst zu finden. «Es ist ein scharmanter Mann», sagten sie; «man dächte, er wäre sein Leben lang in Abdera gewesen.» [...]
Das ist eine wunderliche Art zu agieren, flüsterten sie einander zu; man merkt gar nicht daß man in der Komödie ist; es klingt ja ordentlich als ob die Leute ihre eignen Rollen spielten. Indessen bezeugten sie doch ihr Erstaunen über die Dekorationen, die zu Athen von einem berühmten Meister in der Theaterperspektiv gemalt waren; und da die meisten in ihrem Leben nichts gutes in dieser Art gesehen hatten, so glaubten sie bezaubert zu sein, wie sie das Ufer des Meers, den Felsen wo Andromeda angefesselt war, und den Hain der Nereiden an einer kleinen Bucht auf der einen Seite, und den Palast des Königs Cepheus in der Ferne auf der andern, so natürlich vor sich sahen, daß sie geschworen hätten, es sei alles wirklich und wahrhaftig so wie es sich darstellte. Da nun überdies die Musik vollkommen nach dem Sinne des Dichters, und also das alles war, was die Musik des Nomophylax Gryllus – nicht war; da sie immer gerad aufs Herz wirkte, und ungeachtet der größten Einfalt und Singbarkeit doch immer neu und überraschend war: so brachte alles dies, mit der Lebhaftigkeit und Wahrheit der Deklamation und Pantomime und mit der Schönheit der Stimmen und des Vortrags vereinigt, einen Grad von Täuschung bei den guten Abderiten hervor, wie sie noch in keinem Schauspiel erfahren hatten. Sie vergaßen gänzlich, daß sie in ihrem Nationaltheater saßen, glaubten unvermerkt mitten in der wirklichen Szene der Handlung zu sein, nahmen Anteil an dem Glück und Unglück der handelnden Personen, als ob es ihre nächsten Blutsfreunde gewesen wären, betrübten und ängstigten sich, hofften und fürchteten, liebten und haßten, weinten und lachten, wie es dem Zauberer, unter dessen Gewalt sie waren, gefiel; – kurz, Andromeda wirkte so außerordentlich auf sie, daß Euripides selbst gestand, noch niemals des Schauspiels einer so vollkommnen Empfindsamkeit genossen zu haben. [...]
In der Tat haben Dichter, Tonkünstler, Maler, einem aufgeklärten und verfeinerten Publikum gegen über, schlimmes Spiel; und gerade die eingebildeten Kenner, die unter einem solchen Publikum immer den größten Haufen ausmachen, sind am schwersten zu befriedigen. Anstatt der Einwirkung still zu halten, tut man alles was man kann um sie zu verhindern. Anstatt zu genießen was da ist, räsoniert man darüber was da sein könnte. Anstatt sich zur Illusion zu bequemen[Fußnote: Es versteht sich von selbst, daß der Dichter das Seinige getan haben muß, um die Illusion zu bewirken und zu unterhalten; denn sonst hat er freilich kein Recht, von uns zu verlangen, daß wir, ihm zu Gefallen, tun sollen als ob wir sähen, was er uns nicht zeigt, fühlten, was er uns nicht fühlen macht, usw. ], wo die Vernichtung des Zaubers zu nichts dienen kann als uns eines Vergnügens zu berauben, setzt man ich weiß nicht welche kindische Ehre darein, den Philosophen zur Unzeit zu machen; zwingt sich zu lachen, wo Leute, die sich ihrem natürlichen Gefühl überlassen, Tränen im Auge haben, und, wo diese lachen, die Nase zu rümpfen, um sich das Ansehen zu geben als ob man zu stark oder zu fein oder zu gelehrt sei, um sich von so was aus seinem Gleichgewicht setzen zu lassen. Aber auch die wirklichen Kenner verkümmern sich selbst den Genuß, den sie von tausend Dingen, die in ihrer Art gut sind, haben könnten, durch Vergleichungen derselben mit Dingen anderer Art; Vergleichungen, die meistens ungerecht und immer wider unsern eignen Vorteil sind. Denn das, was unsre Eitelkeit dabei gewinnt, ein Vergnügen zu verachten, ist doch immer nur ein Schatten, nach welchem wir schnappen indem uns das Wirkliche entgeht.
(Wieland: Die Abderiten 3. Buch, 10. u. 11. Kapitel)

Die Theaterdichter von Abdera

Es blieb also kein ander Mittel, als die Abderitischen Dichter auf Unkosten des Geschmacks gemeiner Stadt aufzumuntern; d.i. alle Waren, die sie gratis liefern würden, für gut zu nehmen – nach dem alten Sprichworte: Geschenktem Gaul sieh nicht ins Maul; oder, wie es die Abderiten gaben: Wo man umsonst ißt, wird immer gut gekocht. [...]
«Man sieht doch recht augenscheinlich, (sagten sie) was es auf sich hat, wenn die Künste an einem Orte aufgemuntert werden. Noch vor zwanzig Jahren hatten wir kaum zwei oder drei Poeten, von denen, außer etwa an Geburtstagen oder Hochzeiten, kein Mensch Notiz nahm. Jetzt, seit den zehn bis zwölf Jahren daß wir ein eignes Theater haben, können wir schon über sechshundert Stücke, groß und klein in einander gerechnet, aufweisen, die alle auf Abderitischem Grund und Boden gewachsen sind.» [...]
Damals, als ihnen der kleine Verdruß mit dem Arzt Hippokrates zustieß, waren unter einer ziemlichen Anzahl von Theaterdichtern, welche Handwerk davon machten, (die Freiwilligen nicht gerechnet) vornehmlich zwei im Besitz der höchsten Gunst des Abderitischen Publikums. Der eine machte Tragödien und eine Art Stücke, die man jetzt komische Opern nennt; der andere, namens Thlaps, fabrizierte eine Art von Mitteldingen, wobei einem weder wohl noch weh geschah, wovon er der erste Erfinder war, und die deswegen nach seinem Namen Thlapsödien genannt wurden. Der erste war eben der Hyperbolus, dessen schon zu Anfang dieser eben so wahrhaften als wahrscheinlichen Geschichte als des berühmtesten unter den Abderitischen Dichtern gedacht worden ist. Er hatte sich zwar auch in den übrigen Gattungen hervorgetan; die außerordentliche Parteilichkeit seiner Landsleute für ihn hatte ihm in allen den Preis zuerkannt: und eben dieser Vorzug erwarb ihm den hochtrabenden Zunamen Hyperbolus; denn von Haus aus hieß er Hegesias. Der Grund, warum dieser Mensch ein so besondres Glück bei den Abderiten machte, war der natürlichste von der Welt – nämlich eben der, weswegen er und seine Werke an jedem andern Orte der Welt als in Abdera ausgepfiffen worden wären. Er war unter allen ihren Dichtern derjenige, in welchem der eigentliche Geist von Abdera, mit allen seinen Idiotismen und Abweichungen von den schönern Formen, Proportionen und Lineamenten der Menschheit, am leibhaftesten wohnte; derjenige, mit dem alle übrigen am meisten sympathisierten; der immer alles gerade so machte wie sie es auch gemacht haben würden, ihnen immer das Wort aus dem Munde nahm, immer das eigentliche Pünktchen traf wo sie gekitzelt sein wollten; mit Einem Worte, der Dichter nach ihrem Sinn und Herzen: und das nicht etwa kraft eines außerordentlichen Scharfsinns, oder als ob er sich ein besondres Studium daraus gemacht hätte, sondern lediglich, weil er unter allen seinen Brüdern im Marsyas am meisten – Abderit war. Bei ihm durfte man sich darauf verlassen, daß der Gesichtspunkt, woraus er eine Sache ansah, immer der schiefste war woraus sie gesehen werden konnte; daß er zwischen zwei Dingen allemal die Ähnlichkeit gerade da fand, wo ihr wesentlichster Unterschied lag; daß er je und allezeit feierlich aussehen würde wo ein vernünftiger Mensch lacht, und lachen würde wo es nur einem Abderiten einfallen kann zu lachen, usw. Ein Mann, der des Abderitischen Genius so voll war, konnte natürlicher Weise in Abdera alles sein was er wollte. [...]
Ungeachtet ihn die Abderiten wegen des Bombasts seiner Schreibart ihren Äschylus zu nennen pflegten, so wußte er sich selbst doch nicht wenig mit seiner Originalität. «Man weise mir», sprach er, «einen Charakter, einen Gedanken, ein Gefühl, einen Ausdruck, in allen meinen Werken, den ich aus einem andern genommen hätte!» – «Oder aus der Natur», setzte Demokrit hinzu. – «O! (rief Hyperbolus) was das betrifft, das kann ich Ihnen zugeben, ohne daß ich viel dabei verliere. Natur! Natur! Die Herren klappern immer mit ihrer Natur, und wissen am Ende nicht was sie wollen. Die gemeine Natur – und die meinen Sie doch – gehört in die Komödie, ins Possenspiel, in die Thlapsödie, wenn Sie wollen! Aber die Tragödie muß über die Natur gehen, oder ich gebe nicht eine hohle Nuß darum.» Von den seinigen galt dies im vollesten Maß. So wie seine Personen hatte nie ein Mensch ausgesehen, nie ein Mensch gefühlt, gedacht, gesprochen noch gehandelt. Aber das wollten die Abderiten eben – und daher kam es auch, daß sie unter allen auswärtigen Dichtern am wenigsten aus dem Sophokles machten. [...]
Wie aber die menschliche Unbeständigkeit sich an allem, was in seiner Neuheit noch so angenehm ist, gar bald ersättiget, so fingen auch die Abderiten bereits an es überdrüssig zu werden, daß sie immer und alle Tage gar schön finden sollten, was ihnen in der Tat schon lange gar wenig Vergnügen machte: als der junge Thlaps auf den Einfall kam, Stücke aufs Theater zu bringen, die weder Komödie noch Tragödie noch Posse, sondern eine Art von lebendigen Abderitischen Familiengemälden wären; wo weder Helden noch Narren, sondern gute ehrliche hausgebackne Abderiten auftreten, ihren täglichen Stadt- Markt- Haus- und Familiengeschäften nachgehen, und vor einem löblichen Spektatorium gerade so handeln und sprechen sollten, als ob sie auf der Bühne zu Hause wären, und es sonst keine Leute in der Welt gäbe als sie. Man sieht, daß dies ungefähr die nämliche Gattung war, wodurch sich Menander in der Folge so viel Ruhm erwarb. Der Unterschied bestand bloß darin: daß er Athener, und jener Abderiten auf die Bühne brachte, und daß er Menander, und jener Thlaps war. Allein da dieser Unterschied den Abderiten nichts verschlug, oder vielmehr gerade zu Thlapsens Vorteil gereichte: so wurde sein erstes Stück in dieser Gattung mit einem Entzücken aufgenommen, wovon man noch kein Beispiel gesehen hatte. Die ehrlichen Abderiten sahen sich selbst zum ersten Mal auf der Schaubühne in puris Naturalibus, ohne Stelzen, ohne Löwenhäute, ohne Keule, Zepter und Diadem, in ihren gewöhnlichen Hauskleidern, ihre gewöhnliche Sprache redend, nach ihrer angebornen eigentümlichen Abderitischen Art und Weise leiben und leben, essen und trinken, freien und sich freien lassen, usw. und das war eben was ihnen so viel Vergnügen machte. Es ging ihnen wie einem jungen Mädchen, das sich zum ersten Mal in einem Spiegel sieht; sie konntens gar nicht genug bekommen."
(Wieland: Die Abderiten)

Die Sykophanten in Abdera

Rechtsstreitigkeiten übergaben die Abderiten in der Regel den Sykophanten. Das hatte den Vorteil, dass sie nicht selbst die Dinge so verdrehen mussten, dass es nach außen so erschien, als wären sie im Recht. Außerdem hatten die Sykophanten ein so gutes Verhältnis zu den Magistratspersonen, dass sie bei ihnen durchsetzen konnten, was sie wollten. Freilich: 
"Die einzigen, die sich übel bei dieser Eintracht befanden, waren – die Clienten. Bei allen andern Unternehmungen, so gefährlich und gewagt sie auch immer sein mögen, bleibt doch wenigstens eine Möglichkeit, mit ganzer Haut davon zu kommen. Aber ein abderitischer Client war immer gewiß, um sein Geld zu kommen, er mochte seinen Handel gewinnen oder verlieren. Nun rechteten die Leute zwar darum weder mehr noch weniger; allein ihre Justiz kam dabei in einen Ruf, gegen welchen nur Abderiten gleichgültig sein konnten. Denn es wurde zu einem Sprüchwort in Griechenland, demjenigen, dem man das Ärgste an den Hals wünschen wollte, einen Proceß in Abdera zu wünschen. [Hervorhebung v. Fontanefan]

Um den geneigten Leser mit keiner langweiligen Umständlichkeit aufzuhalten, begnügen wir uns zu sagen, daß Thrasyllus die Sache seinem Sykophanten auftrug. Es war einer von den geschicktesten in ganz Abdera; ein Mann, der die gemeinen Kunstgriffe seiner Mitbrüder verachtete, und sich viel darauf zugut tat, daß er, seitdem er sein edles Handwerk trieb, ein paar hundert schlimme Händel gewonnen hatte, ohne jemals eine einzige direkte Lüge zu sagen. Er steifte sich auf lauter unleugbare Fakta; aber seine Stärke lag in der Zusammensetzung und im Helldunkeln. Demokrit hätte in keine bessern Hände fallen können. Wir bedauern nur, daß wir, weil die Akten des ganzen Prozesses längst von Mäusen gefressen worden, außerstande sind, jungen neu angehenden Sykophanten zum besten, die Rede vollständig mitzuteilen, worin dieser Meister in der Kunst dem großen Rate zu Abdera bewies, daß Demokrit seines Vermögens entsetzt werden müsse. Alles, was von dieser Rede übrig geblieben, ist ein kleines Bruchstück, welches uns merkwürdig genug scheint, um, zur Probe wie diese Herren eine Sache zu wenden pflegten, ein paar Blätter in dieser Geschichte einzunehmen.
«Die größten, die gefährlichsten, die unerträglichsten aller Narren (sagte er) sind die räsonierenden Narren. Ohne weniger Narren zu sein als andre, verbergen sie dem undenkenden Haufen die Zerrüttung ihres Kopfes durch die Fertigkeit ihrer Zunge, und werden für weise gehalten, weil sie zusammenhangender rasen als ihre Mitbrüder im Tollhause. Ein ungelehrter Narr ist verloren, sobald es so weit mit ihm gekommen ist daß er Unsinn spricht. Bei dem gelehrten Narren hingegen sehen wir gerade das Widerspiel. Sein Glück ist gemacht und sein Ruhm befestiget, so bald er Unsinn zu reden oder zu schreiben anfängt. Denn die meisten, wiewohl sie sich ganz eigentlich bewußt sind daß sie nichts davon verstehen, sind entweder zu mißtrauisch gegen ihren eigenen Verstand, um gewahr zu werden daß die Schuld nicht an ihnen liegt; oder zu dumm, um es zu merken; oder zu eitel, um zu gestehen daß sie nichts verstanden haben. Je mehr also der gelehrte Narr Unsinn spricht, desto lauter schreien die dummen Narren über Wunder; desto emsiger verdrehen sie sich die Köpfe, um Sinn in dem hoch tönenden Unsinn zu finden. Jener, gleich einem durch den öffentlichen Beifall angefrischten Luftspringer, tut immer desto verwegnere Sätze, je mehr ihm zugeklatscht wird: diese klatschen immer stärker, um den Gaukler noch größere Wunder tun zu sehen. Und so geschieht es oft, daß der Schwindelgeist eines Einzigen ein ganzes Volk ergreift, und daß, so lange die Mode des Unsinns dauert, dem nämlichen Manne Altäre aufgerichtet werden, den man zu einer andern Zeit, ohne viele Umstände mit ihm zu machen, in einem Hospital versorgt haben würde. Glücklicher Weise für unsere gute Stadt Abdera ist es so weit mit uns noch nicht gekommen. Wir erkennen und bekennen alle aus Einem Munde, daß Demokrit ein Sonderling, ein Phantast, ein Grillenfänger ist. Aber wir begnügen uns über ihn zu lachen; und dies ist es eben worin wir fehlen. Jetzt lachen wir über ihn; aber wie lange wird es währen, so werden wir anfangen etwas außerordentliches in seiner Narrheit zu finden? Vom Erstaunen zum Bewundern ist nur ein Schritt; und haben wir diesen erst getan, – Götter! wer wird uns sagen können wo wir aufhören werden? – Demokrit ist ein Phantast, sprechen wir jetzt und lachen. Aber was für ein Phantast ist Demokrit? Ein eingebildeter starker Geist, ein Spötter unsrer uralten Gebräuche und Einrichtungen; ein Müßiggänger, dessen Beschäftigungen dem Staate nicht mehr Nutzen bringen als wenn er gar nichts täte; ein Mann, der Katzen zergliedert, der die Sprache der Vögel versteht, und den Stein der Weisen sucht; ein Nekromant, ein Schmetterlingsjäger, ein Sterngucker! – Und wir können noch zweifeln, ob er eine dunkle Kammer verdient? Was würde aus Abdera werden, wenn seine Narrheit endlich ansteckend würde?  [...]
(Wieland: Abderiten)

Wieland: Kosmopoliten

Es gibt eine Art von Sterblichen, deren schon von den Alten hier und da unter dem Namen der Kosmopoliten Erwähnung getan wird, und die – ohne Verabredung, ohne Ordenszeichen, ohne Loge zu halten, und ohne durch Eidschwüre gefesselt zu sein – eine Art von Brüderschaft ausmachen, welche fester zusammen hängt als irgend ein anderer Orden in der Welt. Zwei Kosmopoliten kommen, der eine von Osten, der andere von Westen, sehen einander zum ersten Male, und sind Freunde; – nicht vermöge einer geheimen Sympathie, die vielleicht nur in Romanen zu finden ist; – nicht, weil beschworne Pflichten sie dazu verbinden; sondern, weil sie Kosmopoliten sind. In jedem andern Orden gibt es auch falsche oder wenigstens unwürdige Brüder: in diesem hingegen ist dies eine völlige Unmöglichkeit; und das ist, deucht uns, kein geringer Vorzug der Kosmopoliten vor allen andern Gesellschaften, Gemeinheiten, Innungen, Orden und Brüderschaften in der Welt. Denn wo ist eine von allen diesen, welche sich rühmen könnte, daß sich niemals ein Ehrsüchtiger, ein Neidischer, ein Geiziger, ein Wucherer, ein Verleumder, ein Prahler, ein Heuchler, ein Zweizüngiger, ein heimlicher Ankläger, ein Undankbarer, ein Kuppler, ein Schmeichler, ein Schmarotzer, ein Sklave, ein Mensch ohne Kopf oder ohne Herz, ein Pedant, ein Mückensäuger, ein Verfolger, ein falscher Prophet, ein Gaukler, ein Plusmacher und ein Hofnarr in ihrem Mittel befunden habe? Die Kosmopoliten sind die einzigen, die sich dessen rühmen können. Ihre Gesellschaft hat nicht vonnöten, durch geheimnisvolle Zeremonien und abschreckende Gebräuche, wie ehmals die Ägyptischen Priester, die Unreinen von sich auszuschließen. Diese schließen sich selbst aus, und man kann eben so wenig ein Kosmopolit scheinen wenn man es nicht ist, als man sich ohne Talent für einen guten Sänger oder Geiger ausgeben kann. Der Betrug würde an den Tag kommen, so bald man sich hören lassen müßte. Die Art, wie die Kosmopoliten denken, ihre Grundsätze, ihre Gesinnungen, ihre Sprache, ihr Phlegma, ihre Wärme, sogar ihre Launen, Schwachheiten und Fehler, lassen sich unmöglich nachmachen, weil sie für alle, die nicht zu ihrem Orden gehören, ein wahres Geheimnis sind. Nicht ein Geheimnis, das von der Verschwiegenheit der Mitglieder, oder von ihrer Vorsichtigkeit nicht behorcht zu werden, abhängt; sondern ein Geheimnis, auf welches die Natur selbst ihren Schleier gedeckt hat. Denn die Kosmopoliten könnten es ohne Bedenken bei Trompetenschall durch die ganze Welt verkündigen lassen, und dürften sicher darauf rechnen, daß außer ihnen selbst kein Mensch etwas davon begreifen würde. [...]
«Du scherzest», erwiderte unser Mann: «die Abderiten sollten zum Gefühl, wo es ihnen fehlte, gekommen sein? Ich kenne sie zu gut. Darin liegt eben ihre Krankheit, daß sie dies nicht fühlen.» «Indessen», sagte der andre, «ist nichts gewisser, als daß ich jetzt nicht in Abdera wäre, wenn die Abderiten nicht von dem nämlichen Übel, wovon du sprichst, geplagt würden. Die armen Leute!» «Ah! nun versteh ich dich! Deine Berufung konnte eine Wirkung ihrer Krankheit sein, ohne daß sie es selbst wußten. Laß doch sehen! – Ha! da haben wirs. Ich wette, sie haben dich kommen lassen, um dem ehrlichen Demokrit so viel Aderlässe und Niesewurz zu verordnen, als er vonnöten haben möchte, um ihres gleichen zu werden! Nicht wahr?» «Du kennst deine Leute vortrefflich, wie ich sehe, Demokrit: aber um so kaltblütig von ihrer Narrheit zu reden, muß man so daran gewöhnt sein wie du.» «Als ob es nicht allenthalben Abderiten gäbe.» «Aber Abderiten in diesem Grade! Vergib mir, wenn ich deinem Vaterlande nicht so viel Nachsicht schenken kann als du. [...]
Wir sehen uns aber genötigt, uns von dem günstigen und billig denkenden Leser vorher eine kleine Gnade auszubitten, an deren großmütiger Gewährung ihm selbst am Ende noch mehr gelegen ist als uns. Und dies ist – aller widrigen Eingebungen seines Kakodämons ungeachtet, sich ja nicht einzubilden, als ob hier unter verdeckten Namen, die Rede von den Theaterdichtern, den Schauspielern, und dem Parterre seiner lieben Vaterstadt die Rede sei. Wir leugnen zwar nicht, daß die ganze Abderitengeschichte in gewissem Betracht einen doppelten Sinn habe: aber ohne den Schlüssel zu Aufschließung des geheimen Sinnes, den unsere Leser von uns selbst erhalten sollen, würden sie Gefahr laufen, alle Augenblicke falsche Deutungen zu machen. Bis dahin also ersuchen wir sie Per genium, dextramque, Deosque Penates, sich aller unnachbarlichen und unfreundlichen Anwendungen zu enthalten, und alles was folgt, so wie dies ganze Buch, in keiner andern Gemütsverfassung zu lesen, als womit sie irgend eine andre oder neue unparteiische Geschichtserzählung lesen würden. [...]

09 November 2016

Wilhelm Kotzke: Die Burg im Osten

Von Wilhelm Kottenrodt mit dem Künstlernamen Wilhelm Kotzke habe ich als Kind sein Buch "Und deutsch sei die Erde! Aus der Zeit deutscher Größe", 1912, gelesen. Es handelte von der deutschen Ostsiedlung. In Erinnerung habe ich insbesondere, dass Albrecht der Bär darin eine wichtige Rolle gespielt hat. Jetzt ist mir  von ihm "Die Burg im Osten. Das Schicksal einer Ritterschaft, 1925, in die Hände gefallen. Darin der handschriftliche Eintrag "Gelesen: Thorn im Kriegswinter 39/40".

Um mir in Erinnerung zu rufen, welcher Art meine Jugendlektüre war,  werde gelegentlich etwas darin lesen, bevor ich es abgebe.

Der Roman beginnt in den 1380er Jahren damit, dass Anna, die Frau des litauischen Herzogs Witowd, diesen aus der Gefangenschaft befreit, indem sie ihm ermöglicht, mit ihren Kleidern das Gefängnis zu verlassen, und sich dafür in die Gewalt des Gegners Jagil begibt. Denn Witowd sei der einzige, der sein Volk noch retten könne. 

Dazu sagt der befreite Witowd auf der Flucht:
" 'Die Herzogin ist in Jagils Händen. Wenn er sie mordet, muß er mit allen seinen Freunden sterben, ich will keinen Säugling verschonen und meine Lust haben, wenn man die Weiber erschlägt, auf daß sie ihm keinen Rächer gebären.' " (S.15)

Im zweiten Kapitel wendet sich die Handlung Nikolaus Fellenstein, einem Baumeister der Marienburg, zu. (S.17)

"Der Fiedler stimmte seine Geige. Dann riß er die Saiten, und nun quollen ihm die Töne unter dem Bogen vor. Da quollen alle Herzen mit ihnen, und das Blut ging heiß durch die Adern, daß eine Magd die andere an den Händen faßte. Anna, Marie! Nun mag das Spinnrad stehen!
'Spielmann tu dein Werk!' sprach Volbrecht. 'Ich jage alle jungen Beine im Dorfe auf, wie einst der Juden Posaunen die Leute von Jericho!' [...] Wenn der Fiedler jetzt die Seelen aus allen Banden riß, sie folgten ihm, und wenn es in den Glas- und Demantberg ging." (S.47/48) 

Klaus Fellenstein im Gespräch mit seiner Frau, nachdem der Bau der Marienburg unterbrochen worden ist:

"Es war eine weicher, milder Klang in ihrer Stimme, der mit wohligem Hauch sein Herz umschmeichelte. [...] 
'Das weißt du nicht, Margarete, wie es in meiner Seele wogt. [...] Formen und Gestalten bilden sich heraus, ich sehe Räume, die sich wölben wie der Himmelsdom, ja köstlicher noch, wie Gottes Gemach, darin er seinen Herrscherthron errichtet. Gottes Auge aber leuchtet mir. Solche Pfade geht man immer einsam. Keine Liebe, und sei es eines Weibes Liebe, kann uns dorthin begleiten. [...] Und immer wieder wogt es in mir auf, daß ich Gottes Wohnung stürmen muß, ich bringe von jedem Sturm einen Glanz in meiner Hand zurück, und es ist noch nicht Gottes volles Licht. All dies Hoffen und Ringen und diese Qual, es ist die Seligkeit meines Lebens; ich weiß nicht, ob du das ganz ermessen kannst. Sieh, meine Seligkeit, ohne die ich in Höllen schmachten muß, ist der Quell, der den Dürstenden labt, das Brot, das mich stärkt. Und dieses Brot aus Gottes Hand ward mir genommen, ich weiß nicht, ob für Jahre, ob für immer.' [...]
Sie sann eine Zeit und ermaß alles in ihrem Herzen. Dann erwiderte sie ihm: 'Ich bin ein armes Weib und kann nicht wissen, was ihr Männer wißt. Ihr stürmt in die Welt hinaus [...]' [Margarete] schief endlich ein [...] mit sorgenden und doch glückvollen Gedanken, weil sie in dieser Nacht erkannte, wie überreich ihres Gatten Seele war und daß sie seines Kampfes Gefährtin sein durfte." (S.196-198)

Es ist nicht die Sprache allein mit abgegriffenen Bildern und unstimmigen Metaphern, die dem Text sein hohles Pathos gibt. Es ist auch das Herbeiziehen der religiösen Sphäre (Gott, Himmel, Hölle), die gebraucht wird, um zu beschreiben, dass der Hochmeister ihm seine Aufgabe am Bau der Marienburg entzogen hat. Es ist auch die 1925 in Zeiten des Bubikopfs überholte Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, die ein heroisches Zeitgefühl wieder heraufbeschwören möchte. 
Dafür dienen dann Anklänge an die Sprache Luthers im Weihnachtsevangelium ("Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen." Lk 2, 19) und an Goethes Faust ("Ich bin nur durch die Welt gerannt") und Schillers Glocke ("Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben").

Wozu all dies Pathos dient, wird in einer Formulierung über die Aufgabe der Ordensritter deutlich: "[...] bei manchem auch die klare Erkenntnis, daß sein Leben und Kämpfen hier im Ostland der Erhaltung des deutschen Wesens galt" (S.201)

Zu dieser letzten Formulierung passt eine Aussage über Nikolaus Fellenstein:
"Er verstand nun jenes Wort Winrichs von Kniprode, daß des Ordens Schwert hier Gottes Raum schaffe und daß sein Werk des ein Abglanz sein müsse. Klaus Fellenstein war seiner Sendung voll, als er heimkehrte." (S.225)

Über die Marienburg denkt Herzogin Anna (s.o.):
"Der hohe stolze Bau der Marienburg hatte ihr zuerst die Gewißheit gegeben, daß die Deutschen ihrem Volke überlegen waren; immer sah sie diesen Bau und sah den sinnenden Mann daran schaffen, der stets neue Wunder in ihm erstehen ließ. Sie fühlte oft ein heißes Verlangen, zu den Deutschen zurückzukehren und an ihre Herzen zu pochen."(S.209)


08 November 2016

Wieland: Die Abderiten (Fortsetzung)

Demokrit:
«Was ich sagen wollte, um Ihnen die Sache, wovon wir sprachen, deutlich zu machen, war dies: Ein Land, wo ewiger Friede herrscht, und wo alle Menschen in gleichem Grade frei und glücklich sind; wo das Gute nicht mit dem Bösen vermischt ist, Schmerz nicht an Wollust und Tugend nicht an Untugend grenzt, wo lauter Schönheit, lauter Ordnung, lauter Harmonie ist; – mit Einem Wort, ein Land, wie Ihre Moralisten den ganzen Erdboden haben wollen, ist entweder ein Land, wo die Leute keinen Magen und keinen Unterleib haben, oder es muß schlechterdings das Land sein, das uns Teleklides schildert, aus dessen Amphiktyonen ich (wie die schöne Salabanda sehr wohl bemerkt hat) meine Beschreibung genommen habe. Vollkommene Gleichheit, vollkommene Zufriedenheit mit dem Gegenwärtigen, immer währende Eintracht – kurz, die Saturnischen Zeiten, wo man keine Könige, keine Priester, keine Soldaten, keine Ratsherren, keine Moralisten, keine Schneider, keine Köche, keine Ärzte und keine Scharfrichter braucht, sind nur in dem Lande möglich, wo einem die Rebhühner gebraten in den Mund fliegen, oder (welches ungefähr eben so viel sagen will) wo man keine Bedürfnisse hat. Dies ist, wie mich deucht, so klar, daß es demjenigen, dem es dunkel ist, durch alles Licht im Feuerhimmel nicht klärer gemacht werden könnte. Gleichwohl ärgern sich Ihre Moralisten darüber, daß die Welt so ist wie sie ist: und wenn der ehrliche Philosoph, der die Ursachen weiß warum sie nicht anders sein kann, den Ärger dieser Herren lächerlich findet; so begegnen sie ihm als ob er ein Feind der Götter und der Menschen wäre; welches zwar an sich selbst noch lächerlicher ist, aber zuweilen da, wo die milzsüchtigen Herren den Meister spielen, einen ziemlich tragischen Ausgang nimmt.» «Aber was wollen Sie denn, daß die Moralisten tun sollen?» «Die Natur erst ein wenig kennen lernen, ehe sie sich einfallen lassen es besser zu wissen als sie; verträglich und duldsam gegen die Torheiten und Unarten der Menschen sein, welche die ihrigen dulden müssen; durch Beispiele bessern, statt durch frostiges Gewäsche zu ermüden oder durch Schmähreden zu erbittern; keine Wirkungen fordern wovon die Ursachen noch nicht da sind, und nicht verlangen daß wir die Spitze eines Berges erreicht haben sollen, ehe wir hinauf gestiegen sind.» «So unsinnig wird doch niemand sein?» – sagte der Abderiten einer. «So unsinnig sind neun Zehnteile der Gesetzgeber, Projektmacher, Schulmeister und Weltverbesserer auf dem ganzen Erdenrund alle Tage!» – sagte Demokrit. [...]
Zum Beispiel, eine ihrer Lieblingsmaterien war die Frage: «Wie, warum, und woraus die Welt entstanden sei.» «Sie ging aus einem Ei hervor», sagte Einer: «der Äther war das Weiße, das Chaos der Dotter, und die Nacht brütete es aus.» [Fußnote: Um denjenigen Lesern, welche weder den Diogenes Laertius, noch des Deslandes oder Bruckers kritische Geschichte der Philosophie, noch die Kompendien des Herrn Formey oder D. Büschings, gelesen haben, irrige Vermutungen zu ersparen, erinnert der Verfasser, daß alle hier vorkommende Hypothesen sich eines sehr ehrwürdigen Altertums, und zum Teil einer Menge Verfechter und Anhänger rühmen können. Die Meinung unsers Demokrit ist die einzige, welche, vermutlich bloß weil sie die vernünftigste ist, keine Sekte gemacht hat. ] «Sie ist aus Feuer und Wasser entstanden», sagte ein Andrer. «Sie ist gar nicht entstanden», sprach der Dritte. «Alles war immer so wie es ist, und wird immer so bleiben wie es war.» Diese Meinung fand in Abdera wegen ihrer Bequemlichkeit vielen Beifall. «Sie erklärt alles», sagten sie, «ohne daß man nötig hat, sich erst lange den Kopf zu zerbrechen.» «Es ist immer so gewesen», war die gewöhnliche Antwort eines Abderiten, wenn man ihn nach der Ursache oder dem Ursprung einer Sache fragte; und wer sich daran nicht ersättigen wollte, wurde für einen stumpfen Kopf angesehen. «Was ihr Welt nennt», sagte der Vierte, «ist eigentlich eine ewige Reihe von Welten, die, wie die Häute einer Zwiebel, über einander liegen, und sich nach und nach ablösen.» «Sehr deutlich gegeben», riefen die Abderiten, «sehr deutlich!» Sie glaubten den Philosophen verstanden zu haben, weil sie sehr gut wußten, was eine Zwiebel war. «Schimäre!» sprach der Fünfte. «Es gibt freilich unzählige Welten; aber sie entstehen aus der ungefähren Bewegung unteilbarer Sonnenstäubchen, und es ist viel Glück, wenn, nach zehntausendmal tausend übel geratenen, endlich eine heraus kommt, die noch so leidlich vernünftig aussieht wie die unsrige.» «Atomen geb ich zu», sprach der Sechste; «aber keine Bewegung von Ungefähr und ohne Richtung. Die Atomen sind nichts, oder sie haben bestimmte Kräfte und Eigenschaften, und, je nachdem sie einander ähnlich oder unähnlich sind, ziehen sie einander an, oder stoßen sich zurück. Daher machte der weise Empedokles (der Mann, der, um die wahre Beschaffenheit des Ätna zu erkundigen, sich weislich in den Schlund desselben hinein gestürzt haben soll) Haß und Liebe zu den ersten Ursachen aller Zusammensetzungen; und Empedokles hat recht.» «Um Vergebung, meine Herren, ihr habt alle unrecht», sprach der Philosoph Sisamis. «In Ewigkeit wird weder aus euerm mystischen Ei, noch aus euerm Bündnis zwischen Feuer und Wasser, noch aus euern Atomen, noch aus euern Homöomerien, eine Welt heraus kommen, wenn ihr keinen Geist zu Hülfe nehmt. Die Welt ist (wie jedes andre Tier) eine Zusammensetzung von Materie und Geist. Der Geist ist es, der dem Stoffe Form gibt; beide sind von Ewigkeit her vereinigt: und, so wie einzelne Körper aufgelöst werden, so bald der Geist, der ihre Teile zusammen hielt, sich zurück zieht; so würde, wenn der allgemeine Weltgeist aufhören könnte das Ganze zu umfassen und zu beleben, Himmel und Erde im nämlichen Augenblick in einen einzigen, ungeheuern, gestaltlosen, finstern und toten Klumpen zusammen fallen.» «Davor wolle Jupiter und Latona sein!» riefen die Abderiten, nicht ohne sich zu entsetzen, wie sie den Mann eine so fürchterliche Drohung ausstoßen hörten. «Es hat keine Gefahr», sagte der Priester Strobylus: «so lange wir die Frösche der Latona in unsern Mauern haben, soll es der Weltgeist des Sisamis wohl bleiben lassen, solchen Unfug in der Welt anzurichten.» «Meine Freunde», sprach der Achte, «der Weltgeist des weisen Sisamis ist mit den Atomen, Homöomerien, Zwiebeln und Eiern meiner Kollegen von gleichem Schlage. Einen Demiurg müssen wir annehmen, wenn wir eine Welt haben wollen: denn ein Gebäude setzt einen Baumeister oder wenigstens einen Zimmermeister voraus;... [...]
«Demokrit beraubte sich des Gesichtes», sagt man, «damit er desto tiefer denken könnte. Was ist hierin so unglaubliches? Haben wir nicht Beispiele freiwilliger Verstümmelungen von ähnlicher Art? Kombabus – Origenes –» Gut! – Kombabus und Origenes warfen einen Teil ihrer selbst von sich, und zwar einen Teil, den wohl die meisten (im Fall der Not) mit allen ihren Augen, und wenn sie deren so viel als Argus hätten, erkaufen würden. Allein sie hatten auch einen großen Beweggrund dazu. Was gibt der Mensch nicht um sein Leben! Und was tut oder leidet man nicht, um der Günstling eines Fürsten zu bleiben, oder gar eine Pagode zu werden! – Demokrit hingegen konnte keinen Beweggrund von dieser Stärke haben. Es möchte noch hingehen, wenn er ein Metaphysiker oder ein Poet gewesen wäre. Dies sind Leute, die zu ihrem Geschäfte des Gesichts entbehren können. Sie arbeiten am meisten mit der Einbildungskraft, und diese gewinnt sogar durch die Blindheit. Aber wenn hat man jemals gehört, daß ein Beobachter der Natur, ein Zergliederer, ein Sternseher, sich die Augen ausgestochen hätte, um desto besser zu beobachten, zu zergliedern und nach den Sternen zu sehen? Die Ungereimtheit ist so handgreiflich, daß Tertullian die angebliche Tat unsers Philosophen aus einer andern Ursache ableitet, die ihm aber zum wenigsten eben so ungereimt hätte vorkommen müssen, wenn er nicht gerade vonnöten gehabt hätte, die Philosophen, die er zu Boden legen wollte, in Strohmänner zu verwandeln. «Er beraubte sich der Augen», sagt Tertullian [Fußnote: Apolog. C. 46. ], «weil er kein Weib ansehen konnte, ohne ihrer zu begehren.» – Ein feiner Grund für einen Griechischen Philosophen aus dem Jahrhunderte des Perikles! Demokrit, der sich gewiß nicht einfallen ließ weiser sein zu wollen als Solon, Anaxagoras, Sokrates, hatte auch vonnöten zu einem solchen Mittel seine Zuflucht zu nehmen! Wahr ists, der Rat des letztern [Fußnote: Memorab. Socrat. Lib. I. Cap. 3. Num. 14. ] (der Demokriten gewiß nichts unbekanntes war, weil er Verstand genug hatte, sich ihn selbst zu geben) verfängt sehr wenig gegen die Gewalt der Liebe; und einem Philosophen, der sein ganzes Leben dem Erforschen der Wahrheit widmen wollte, war allerdings sehr viel daran gelegen, sich vor einer so tyrannischen Leidenschaft zu hüten. Allein von dieser hatte auch Demokrit, wenigstens in Abdera, nichts zu besorgen. Die Abderitinnen waren zwar schön; aber die gütige Natur hatte ihnen die Dummheit zum Gegengift ihrer körperlichen Reizungen gegeben. Eine Abderitin war nur schön bis sie – den Mund auftat, oder bis man sie in ihrem Hauskleide sah. Leidenschaften von drei Tagen waren das Äußerste, was sie einem ehrlichen Manne, der kein Abderit war, einflößen konnte; und eine Liebe von drei Tagen ist einem Demokrit am Philosophieren so wenig hinderlich, daß wir vielmehr allen Naturforschern, Zergliederern, Meßkünstlern und Sternsehern demütig raten wollten, sich dieses Mittels, als eines vortrefflichen Rezepts gegen Milzbeschwerungen, öfters zu bedienen, wenn nicht zu vermuten wäre, daß diese Herren zu weise sind eines Rates vonnöten zu haben. Ob Demokrit selbst die Kraft dieses Mittels zufälliger Weise bei einer oder der andern von den Abderitischen Schönen, die wir bereits kennen gelernt, versucht haben möchte, können wir aus Mangel authentischer Nachrichten weder bejahen noch verneinen. Aber daß er, um gar nicht oder nicht zu stark von so unschädlichen Geschöpfen eingenommen zu werden, und weil er auf allen Fall sicher war daß sie ihm die Augen nicht auskratzen würden, – schwach genug gewesen sei, sich solche selbst auszukratzen: dies mag Tertullian glauben so lang' es ihm beliebt; wir zweifeln sehr, daß es jemand mitglauben wird.

Wieland: Die Abderiten (vollständiger Text)

Wieland: Die Abderiten

In den Abderiten hat Wieland in satirischer Form Kritik an der Kleingeisterei seiner Umwelt (wohl auch insbesondere einigen Persönlichkeiten seiner Heimatstadt Biberach) üben wollen.
Mir scheint aber, dass er in dem Demokrit dieser Darstellung eines antiken Schilda nicht nur allgemein den geistig unabhängigen Menschen im Gegensatz zu den Spießbürgern seiner Zeit zeigen will, sondern dass er sehr wohl auch dem historischen Demokrit gerecht werden will. Darauf deuten die zahlreichen Anmerkungen Wielands hin, in denen er den wahren Demokrit vor der ihn verzerrenden Überlieferung zu schützen sucht.
Freilich will er nicht bei den aus der Überlieferung sicher erschließbaren Fakten stehen bleiben, sondern er nimmt sich die dichterische Freiheit heraus, ein in sich stimmiges Bild des Philosophen, wie er ihn verstand, zu zeichnen, ohne sich nur an das Belegbare zu binden.

Wielands Nachwort als Vorwort
Die Geschichte der Abderiten kann also mit gutem Grunde als eine der wahresten und zuverlässigsten, und eben darum als ein getreuer Spiegel betrachtet werden, worin die Neuern ihr Antlitz beschauen, und, wenn sie nur ehrlich gegen sich selber sein wollen, genau entdecken können, in wiefern sie ihren Vorfahren ähnlich sind. Es wäre sehr überflüssig, von dem Nutzen, den das Werk in dieser Rücksicht so lange als es noch Abderiten geben wird – und dies wird vermutlich sehr lange sein – stiften kann und muß, viele Worte zu machen. Wir bemerken also nur, daß es beiläufig auch noch den Nutzen haben könnte, die Nachkömmlinge der alten Teutschen unter uns behutsamer zu machen, sich vor allem zu hüten was den Verdacht erwecken könnte, als ob sie entweder aus abderitischen Blute stammten, oder aus übertriebner Bewundrung der abderitischen Art und Kunst und daher entspringender Nachahmungssucht, sich selbst Ähnlichkeiten mit diesem Volke geben wollten, wobei sie aus vielerlei Ursachen wenig zu gewinnen hätten.

Und dies, werte Leser, wäre also der versprochne Schlüssel zu diesem merkwürdigen Originalwerke, mit beigefügter Versicherung, daß nicht das kleinste geheime Schubfach darin ist, welches Sie sich mit diesem Schlüssel nicht sollten aufschließen können; und wofern Ihnen jemand ins Ohr raunen wollte, als ob noch mehr darin verborgen sei, so können Sie sicherlich glauben, daß er entweder nicht weiß was er sagt, oder nichts Gutes im Schilde führt. (Wieland: Der Schlüssel zur Abderitengeschichte)

Textausschnitte (vollständiger Text)
Das Altertum der Stadt Abdera in Thracien verliert sich in der fabelhaften Heldenzeit. Auch kann es uns sehr gleichgültig sein, ob sie ihren Namen von Abdera, einer Schwester des berüchtigten Diomedes, Königs der Bistonischen Thracier, – welcher ein so großer Liebhaber von Pferden war, und deren so viele hielt, daß er und sein Land endlich von seinen Pferden aufgefressen wurde [Fußnote: Paläphatus in seinem Buche von Unglaublichen Dingen erklärt auf diese Weise die Fabel, daß dieser Fürst seine Pferde mit Menschenfleisch gefüttert habe, und ihnen endlich selbst von Herkules zur Speise vorgeworfen worden sei. ], – oder von Abderus, einem Stallmeister dieses Königs, oder von einem andern Abderus, der ein Liebling des Herkules gewesen sein soll, empfangen habe. [...]
Es mangelte den Abderiten nie an Einfällen: aber selten paßten ihre Einfälle auf die Gelegenheit wo sie angebracht wurden, oder kamen erst wenn die Gelegenheit vorbei war. Sie sprachen viel, aber immer ohne sich einen Augenblick zu bedenken, was sie sagen wollten, oder wie sie es sagen wollten. Die natürliche Folge hiervon war, daß sie selten den Mund auftaten, ohne etwas albernes zu sagen. Zum Unglück erstreckte sich diese schlimme Gewohnheit auch auf ihre Handlungen; denn gemeiniglich schlossen sie den Käfig erst, wenn der Vogel entflogen war. Dies zog ihnen den Vorwurf der Unbesonnenheit zu; aber die Erfahrung bewies, daß es ihnen nicht besser ging wenn sie sich besannen. [...]
Denn wer zu seiner Zeit weise werden wollte, mußte mit eignen Augen sehen. Es gab noch keine Buchdruckereien, keine Journale, Bibliotheken, Magazine, Enzyklopädien, Realwörterbücher, Almanache, und wie alle die Werkzeuge heißen, mit deren Hülfe man itzt, ohne zu wissen wie, ein Philosoph, ein Naturkundiger, ein Kunstrichter, ein Autor, ein Alleswisser wird. [...]
Gulleru begriff nicht allzu wohl, was Demokrit mit dieser empfindsamen Anrede haben wollte; aber sie sah, daß es eine Ergießung seines Herzens war, und so verstand sie gerade so viel davon, als sie vonnöten hatte. «War diese Gulleru seine Frau?» Nein. «Seine Beischläferin?» Nein. «Seine Sklavin?» Nach ihrem Anzug zu schließen, nein. «Wie war sie denn angezogen?» So gut, daß sie ein Ehrenfräulein der Königin von Saba hätte vorstellen können. Schnüre von großen feinen Perlen zwischen den Locken und um Hals und Arme; ein Gewand voll schön gebrochner Falten, von dünnem feuerfarbnem Atlas mit Streifen von welcher Farbe Sie wollen, unter ihrem Busen von einem reich gestickten Gürtel zusammen gehalten, den eine Agraffe von Smaragden schloß; und – was weiß ich alles – «Der Anzug war reich genug.» Wenigstens können Sie mir glauben, daß, so wie sie war, kein Prinz von Senegal, Angola, Gambia, Kongo und Loango sie ungestraft angesehen hätte. «Aber –» Ich sehe wohl, daß Sie noch nicht am Ende Ihrer Fragen sind. – «Wer war denn diese Gulleru? War es eben die, von welcher vorhin gesprochen wurde? Wie kam Demokrit zu ihr? Auf welchem Fuß lebte sie in seinem Hause?» – Ich gesteh es, dies sind sehr billige Fragen; aber sie zu beantworten, seh ich vor der Hand keine Möglichkeit. Denken Sie nicht, daß ich hier den Verschwiegnen machen wolle, oder daß ein besonderes Geheimnis unter der Sache stecke. Die Ursache, warum ich sie nicht beantworten kann, ist die allereinfachste von der Welt. Tausend Schriftsteller befinden sich tausendmal in dem nämlichen Falle; nur ist unter tausend kaum Einer aufrichtig genug, in solchen Fällen die wahre Ursache zu bekennen. Soll ich Ihnen die meinige sagen? Sie werden gestehen, daß sie über alle Einwendung ist. Denn, kurz und gut, – ich weiß selbst kein Wort von allem dem, was Sie von mir wissen wollen; und da ich nicht die Geschichte der schönen Gulleru schreibe, so begreifen Sie, daß ich in Absicht auf diese Dame zu nichts verbunden bin. Sollte sich (was ich nicht vorher sehen kann) etwa in der Folge Gelegenheit finden, von Demokrit oder von ihr selbst etwas näheres zu erkundigen: so verlassen Sie sich darauf, daß Sie alles von Wort zu Wort erfahren [...]
7. Kapitel Patriotismus der Abderiten. Ihre Vorneigung für Athen, als ihre Mutterstadt. Ein paar Proben von ihrem Atticismus, und von der unangenehmen Aufrichtigkeit des weisen Demokrit. 
Demokrit hatte noch keinen Monat unter den Abderiten gelebt, als er ihnen, und zuweilen auch sie ihm schon so unerträglich waren, als Menschen einander sein müssen, die mit ihren Begriffen und Neigungen alle Augenblicke wider einander stoßen. Die Abderiten hegten von sich selbst und von ihrer Stadt und Republik eine ganz außerordentliche Meinung. Ihre Unwissenheit alles dessen, was außerhalb ihres Gebiets in der Welt merkwürdiges sein oder geschehen mochte, war zugleich eine Ursache und eine Frucht dieses lächerlichen Dünkels. Daher kam es denn durch eine sehr natürliche Folge, daß sie sich gar keine Vorstellung machen konnten, wie etwas recht oder anständig oder gut sein könnte, wenn es anders als zu Abdera war, oder wenn man zu Abdera gar nichts davon wußte. [...]
wiewohl sie es nicht so weit trieben, sich, wie die Japaner, einzubilden, außer Abdera wohnten lauter Teufel, Gespenster und Ungeheuer,  [...]
Wer das Glück haben wollte ihnen zu gefallen, mußte schlechterdings so reden und tun, als ob die Stadt und Republik Abdera, mit allen ihren zugehörigen Stücken, Eigenschaften und Zufälligkeiten, ganz und gar untadelig und das Ideal aller Republiken gewesen wäre. [...]
Von dieser Verachtung gegen alles, was nicht Abderitisch hieß, war die Stadt Athen allein ausgenommen; aber auch diese vermutlich nur deswegen, weil die Abderiten, als ehmalige Tejer, ihr die Ehre erwiesen, sie für ihre Mutterstadt anzusehen. Sie waren stolz darauf, für das Thracische Athen gehalten zu werden; und wiewohl ihnen dieser Name nie anders als spottweise gegeben wurde, so hörten sie doch keine Schmeichelei lieber als diese. Sie bemühten sich, die Athener in allen Stücken zu kopieren, und kopierten sie genau – wie der Affe den Menschen. [...]
«Die Schwarzen an der Goldküste», sagte Demokrit, «tanzen mit Entzücken zum Getöse eines armseligen Schaf-Fells und etlicher Bleche, die sie gegen einander schlagen. Gebt ihnen noch ein paar Kuhschellen und eine Sackpfeife dazu, so glauben sie in Elysium zu sein. Wieviel Witz brauchte eure Amme, um euch, da ihr noch Kinder waret, durch ihre Erzählungen zu rühren? Das albernste Märchen, in einem kläglichen Tone hergeleiert, war dazu gut genug. Folgt aber daraus, daß die Musik der Schwarzen vortrefflich, oder ein Ammenmärchen gleich ein herrliches Werk ist?» [...]
Ihr habt euch einen falschen Begriff von Freiheit in den Kopf gesetzt. Eure Kinder von drei oder vier Jahren haben freilich den nämlichen Begriff davon; aber dies macht ihn nicht richtiger. ‹Wir sind ein freies Volk›, sagt ihr; und nun glaubt ihr, die Vernunft habe euch nichts einzureden. ‹Warum sollten wir nicht denken dürfen, wie es uns beliebt? lieben und hassen wie es uns beliebt? bewundern oder verachten was uns beliebt? Wer hat ein Recht uns zur Rede zu stellen, oder unsern Geschmack und unsre Neigungen vor seinen Richterstuhl zu fordern?› – Nun denn, meine lieben Abderiten, so denkt und faselt, liebt und haßt, bewundert und verachtet, wie, wenn und was euch beliebt! Begeht Torheiten so oft und so viel euch beliebt! Macht euch lächerlich wie es euch beliebt! Wem liegt am Ende was daran? So lang' es nur Kleinigkeiten, Puppen und Steckenpferde betrifft, wär es unbillig, euch im Besitze des Rechtes, eure Puppe und euer Steckenpferd nach Belieben zu putzen und zu reiten, stören zu wollen. Gesetzt auch, eure Puppe wäre häßlich, und das, was ihr euer Steckenpferd nennt, sähe von vorn und von hinten einem Öchslein oder Eselein ähnlich: was tut das? Wenn eure Torheiten euch glücklich und niemand unglücklich machen, was geht es andre Leute an daß es Torheiten sind? [...]
Aber, meine lieben Landsleute, nicht alle eure Torheiten sind so unschuldig wie diese; und wenn ich sehe, daß ihr euch durch eure Grillen und Aufwallungen Schaden tut, so müßt ich euer Freund nicht sein, wenn ich still dazu schweigen könnte. Zum Beispiel, euer Frosch- und Mäusekrieg mit den Lemniern, der unnötigste und unbesonnenste der jemals angefangen wurde, um einer Tänzerin willen! [...]
Die Spartanischen Töchter, weil sie kurze Röcke, und die am Indus, weil sie gar keine Röcke tragen, sind darum weder unehrbarer noch größerer Gefahr ausgesetzt, als diejenigen, die ihre Tugend in sieben Schleier einwickeln. Nicht die Gegenstände, sondern unsre Meinungen von denselben, sind die Ursachen unordentlicher Leidenschaften. [...]

05 November 2016

Haruki Murakami im Interview

"Es gibt nicht nur eine Realität" ZEIT 9.1.14

"Wenn ich deprimiert bin, beginne ich eine Kurzgeschichte. Da findet sich dann schon eine Lösung für mein inneres Problem. Der Anfang solcher Geschichten ist ziemlich trübselig, aber irgendwie gelingt es dem Helden dann immer, seinem Leben eine Wendung zu geben. Beim Schreiben fallen mir sehr leicht Lösungen noch für die drastischsten Probleme ein. Dinge, auf die ich im richtigen Leben für mich selbst nie gekommen wäre. Es ist wie mit einer gespaltenen Persönlichkeit."
"Ich mag Disziplin. Aber nur dann, wenn sie zu völliger Unabhängigkeit führt. Deshalb gehören meine Protagonisten nie einer Gemeinschaft oder einer Firma an. Sie sind auf der Suche. Dabei liegen mir meine japanischen Leser besonders am Herzen. Es kann aber kein Zufall sein, dass meine Bücher erst nach 1990 auch international so erfolgreich waren. Durch den Zusammenbruch der großen Systeme ist eine enorme Verunsicherung aufgetreten. Die Frage nach einem selbstbestimmten Leben wurde immer dringlicher. Und ich glaube, ich entwickele das Rollenmodell für einen wirklich unabhängigen Menschen."