30 April 2019

Roger Willemsen: Die Enden der Welt. - Der Amu-Darja

Der Amu-Darja - An der Grenze zu Transoxanien 
 Aus der Geschichte sprengen die kurzmähnigen Pferde heran, die Steppen dehnen sich, die Sümpfe drohen. Reisende aller Jahrhunderte haben sich auf diesen Grenzfluss, der den Norden Afghanistans gegenüber dem ehe maligen russischen Reich, dem heutigen Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan abgrenzt, zubewegt, mühsam, unter Qualen und oft ohne ihn zu erreichen, weil Überfälle, Entbehrungen, Malaria, Wurmbefall, Seuchen dazwischenkamen. Maulbeerbäume und Tamarisken waren die Vorboten des fernen Flusses. Man bewegte sich in Karawanen durch die Sanddünen, und entgegen ka men aus Transoxanien, dem Land jenseits des Stroms, weitere Karawanen. Von ihren Kamelen hingen die Kanister mit dem Benzin, das man neben vielen anderen Waren aus dem ehemaligen Russland auf der anderen Flussseite bezog.

Der Amu-Darja, im Altertum auch Oxus genannt, versammelt eine mythische Landschaft um seine Ufer, von der der Dichter Rudaki, der »Karawanenführer der Dichtkunst« genannt, im 9. Jahrhundert nach Christus fabelt, seine rauen Ufer seien Seide unter den Füßen, seine Wellen sprängen bis zum Zaumzeug der Pferde vor Freude über den Heimkehrer. [...]

Marco Polo hat hoch oben im Pamir die Quelle des Stroms besucht, und am 19. Februar 1838 steht hier der britische Leutnant John Wood, auf dem »Dach der Welt«, wie er es nennt, über dem See des Bam i Dünjah oder des Sir i kol, wie die Kirgisen den Quellsee des Amu-Darja tauften, während sich vor dem staunenden Fremden die »gefrorene Wasserfläche erstreckte, aus deren westlichen Ende der junge Oxus entsprang«. Der schöne See, so schrieb er, besitze die »Form eines Halbmondes«.
 Doch von hier aus ist es noch weit bis zu den Tälern Nordafghanistans, und der Reisende fragt sich: Wie willst du diese Grenzen überqueren, die Berge, die Flüsse, die Gefechtslinien, zuletzt durch die Steppe kommen, wo die Bewegung immer ziellos scheint. Das ist ihr Schönes. Und wenn es einer wie Robert Byron bis an den Oxus schafft, dann hat er geschwärmt und zurückgeblickt auf die armen Schlucker, die verendeten, bevor sie ihn er reichten. [...]

Endlich eine Ausbuchtung, eine kleine Anhebung der Horizontlinie. Das sind die Schafherden, bewacht von einem jungen Hirten, der auf einem Sandhügel schläft, einem zweiten, der zu Pferde gemächlich im Kreise trabt, und drei bösen Hunden, die sich auch gegen Wölfe und Schakale durchsetzen müssen und immer kampfbereit sind. Immerhin fraßen die Wölfe im Krieg selbst von den zurückgebliebenen Leichen.
Der Hirte weiß das, er rutscht von seinem Sandhaufen und nähert sich ein paar Schritte. Unter seinem langen Filzmantel trägt er einen Pullover, eine wattierte grüne Jacke, eine Nadelstreifenweste. Mit dem langen Stab in seiner Hand stützt er sich, schützt und dirigiert er die Schafe, an die siebenhundert sind es, behütet von zwischen zehn und vierzehn Schäfern in dieser Gegend, gefährdet von Taranteln, Schlangen, Schakalen.
Wo er schläft?
 »Irgendwo in der Steppe.«
 Woher er sein Wasser bezieht?
»Es sind sechs Stunden mit den Tieren bis zur nächsten Quelle.«
 »Und ist die Herde sicher?«
 »Manchmal kommen Diebe und klauen ein paar Tiere. Aber was soll ich machen? Wir beklauen uns dann wechselseitig.« [...]

»Was isst du?« 
»Mein Brot mit etwas Fett, das ich hier in einem Döschen mit mir führe.« Er zeigt es. »Und warum hängst du hier rum?«, protestiert Turab humoristisch, »statt dir in der Stadt eine vernünftige Arbeit zu besorgen?«
 »Ich kann nicht.« Er hört, wo wir zu Hause sind.
 »Ihr lebt in einem guten Land, in dem es immer Regen gibt.«
 »Was verdienst du?«
 »Ich bekomme ein Zehntel aller neugeborenen Schafe eines Jahres. Wenn ich Glück habe, sind das fünfzig.«
 »Wie alt bist du?«
 »Weiß ich nicht. Vielleicht 21?«
»Aber du hast noch keinen Bart!«
 »Kannst du mir nicht sagen, wie alt ich bin?«
 Die Gespräche der Afghanen untereinander sind oft so. Gleich sind sie bei den Lebensumständen, eigentlich bei den vertraulichen Dingen. Nie wird eine Frage abgelehnt oder selbst in Frage gestellt. Man teilt die Geschichte wie die Atemluft. [...]

Während wir trinken, schwärmen die Kinder aus, um den Ältestenrat zusammenzurufen, und da stehen sie dann, fünfundzwanzig Männer, die meisten mit Turban und in langen Gewändern, mit würdevollen, tief ernsten, auch schwermütigen Gesichtern, und mitten darin Nadia, die Exil-Afghanin, die nur mit dem Kopfschleier bedeckt, aber offenen Gesichts durch die Menge der Alten geht, dem Gemeindehaus zu, wo sie sich die Bitten des Rates anhören wird. Der Saal ist gerade fertig geworden, der Stolz der Gemeinde. Man hat ihn in einer Anwandlung von Übermut oder Idealismus mit hellblauen Wolkenmotiven ausgemalt. Das wirkt in dieser Umgebung so befremdlich neumodisch wie ein Wellnessbad unter Nomaden.
 Wir sitzen auf Kissen im Kreis. Von außen drängen immer mehr Männer in den Raum. Dazwischen wieseln die Jungen mit Tellern voller Pistazien, Mandeln, Trockenobst und Hülsenfrüchten. Es sind auch ein paar eingewickelte Bonbons auf den Tellern. Das alles kommt, ohne dass wir eine Anweisung gehört hätten. Nur berichtet Nadia später, dass man hinter den Kulissen ausgeschwärmt sei, um Zutaten für ein richtiges Essen herbeizuschaffen, doch habe man sie nicht zusammen bekommen.
 Kaum ergreift sie das Wort, wird es ganz still. Die Alten mit ihren in den Lebenswinter eingetretenen Gesichtern, ihrer Zukunftsangst, ihrem Festhalten an allem, was ihnen ihre Tradition lässt, sie blicken in Nadias offenes Gesicht und sehen, wie empfindlich die Zeit sich ändert. Sie alle haben Nadias Vater noch gekannt. Deshalb fällt es ihnen wohl leichter, der Tochter zuzuhören. Sie brauchen auch kein Vertrauen zu fassen, sie haben es. Aber ihre Bitten sind groß und, gemessen an Nadias Möglichkeiten, maßlos.
Das Licht im Raum tritt plötzlich übergangslos in eine Dämmerstimmung ein. Die Alten beißen ein paar Mandeln auf, wenden aber den Blick nicht von Nadias Gesicht, forschen, was wohl von ihr zu erwarten sei für den Bau eines tieferen Brunnens, einer Schule, für die Besoldung eines Arztes, der sich der hiesigen Krankenstation annähme, denn da ist niemand.
 Die meisten Krankheiten kommen aus dem Wasser, manchmal verenden Tiere im Brunnen und verunreinigen ihn, mancher ungebildete Bauer wirft einen Kadaver zur Entsorgung einfach in den Schacht, auch Malaria grassiert, und Nadia hört das alles an, geduldig wie zum ersten Mal, dabei haben alle diese Geschichten die gleiche Struktur. Blicke ohne Lidschlag befestigen sich an ihren Zügen. Viele der Gesichter sind sehr fein geschnitten, manche tendieren ins Mongolische, Asiatische. Niemand bettelt, niemand klagt, niemand ringt die Hände, rauft die Haare, verliert die Haltung.
 Was ihre Versorgung angeht, so können sie sich in guten Jahren sechs Monate lang mit dem Verkauf von Teppichen und Vieh über Wasser halten, die zweite Hälfte des Jahres müssen sie aus dem Eigenanbau bestreiten. Mit dem Sonnenaufgang sind die Bauern auf den Feldern oder bei den Tieren. Sie frühstücken Brot mit Tee und, wenn sie haben, mit Milch.
 Ich schreibe, was der Bauer berichtet. Mit dezenter Beteiligung blickt der Raum auf das, was mich offenbar interessiert, kaum senke ich den Stift aufs Papier, liegt ihr Blick darauf. Was hier erzählt wird, das ist doch alles ihr normales Leben. Was soll es da zu schreiben geben? Dass die Minengefahr auf den Feldern groß ist? Gewiss, aber gegen die Wölfe anzukommen ist auch nicht einfach.
 Die glücklichsten Bauern sind die, die einen Ochsenpflug besitzen und eine Kuh ihr eigen nennen, auf die sie sich verlassen können. Solche Bauern können sich manchmal sogar Dünger leisten.
 »Aber schmeckt es nicht besser ohne Dünger«, frage ich, und alles lacht, glücklich, dass sich Fremde so einig sein können.
 Das Gespräch wendet sich dem Ackerbau zu, den Ernten, dem spät ausgesäten Reis. Hinter einer Schule haben wir ein paar Mohnblumen entdeckt. Von wo mögen diese Samen hierher geflogen sein? Von der Straße aus hat jedenfalls noch niemand ein Mohnfeld entdecken können.
 »Wir bauen keinen Mohn an«, konstatiert der Ortsvorsteher trocken.
 »Und uns hat man gesagt, du hast vierzig Kilo gewonnen aus deinen Feldern«, ruft Turab, alles lacht erneut, und dafür haut der Angesprochene dem Sprecher mehrmals kameradschaftlich auf die Schulter. 
Doch sollten wir glauben, in diesen Dörfern verberge sich irgendwo ein geheimer Wohlstand, dann wären wir im Irrtum. Die Feldarbeit ist mühselig, ganz neue Dürrezeiten zerstören die Ernten, die Kinder gehen häufig schon um sechs Uhr früh in die Schule, damit sie am späten Vormittag den Eltern wieder helfen können, [...] (S.360-370)

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