08 November 2020

Fanny Lewald: Wandlungen 1. Band, 1. - 6. Kapitel

 "Wie die Söhne aller Stände sich unter dem Schutze der alma mater zu einer Corporation zusammenfanden, so begegneten sich Kaufmannschaft, Adel, Militair, Beamte und Handwerker in den Gartenconzerten sowohl als auf den Bällen der Studenten, und die Universität trug auf diese Weise zur Ausgleichung der Standesunterschiede bei, während sich hinwieder das Leben in den verschiedenen Familienkreisen für die Gesittung der Studirenden förderlich bewies. Der Geist der Stadt war aufgeklärt und duldsam. Man hob es gern hervor, daß die kritische Philosophie von hier ihren neuen Aufschwung genommen habe, und von jener kirchlichen, mystischen Richtung, welche später in ganz Deutschland so bedenklich um sich griff, war zu Ende der zwanziger Jahre in dem Orte wenig zu bemerken, der als Handels- und Hafenstadt das Gepräge eines gesunden, tüchtigen Wesens an sich trug. [...]

»Der Heidenbruck ist famos,« meinte in einem Kreise von Litthauern ein schlanker, blonder Student, dessen scharfe Aussprache den Kurländer verrieth. »Er ist ein flotter Tänzer, fest auf der Mensur, ein hübscher Kerl und er hat Geld. Der Brand hingegen – –« »Was hast Du gegen Brand, Ruthenberg?« unterbrach ihn ein Borusse, der die letzten Worte vorübergehend gehört hatte, und stille stand, die Sache aufzunehmen. Ruthenberg hätte einlenken mögen, denn er hatte im Grunde Nichts gegen den Genannten einzuwenden, als daß er einer Partei angehörte, mit der die Litthauer eben erst behufs der Bälle Frieden geschlossen hatten. Indeß der Gedanke, man könne ihm dies Einlenken für Feigheit auslegen, machte ihn trotzig. Mit allem Hochmuthe eines kurländischen Grafensohnes warf er also die Oberlippe unter dem blonden Schnurrbart in die Höhe, und sagte trocken: »Was ich gegen ihn habe? Er gefällt mir nicht!« Kaum aber hatte er die Worte ausgesprochen, als er sie bereute, denn der Borusse sowohl als seine eigene Partei empfanden es übel und wendeten sich mit Heftigkeit gegen ihn. Die Ausdrücke ihres Mißfallens wurden nicht sorgfältig gewählt, der Zorn der Jugend ist rückhaltlos, jeden Augenblick konnte es zu einem Duelle kommen, das der Senior grade jetzt zu vermeiden wünschte; er selbst also nahm lebhaft Partei für den mit großer Stimmenmehrheit erwählten Brand, und fragte gegen den Borussen gewendet: »Glaubst Du, daß Brand die Wahl annehmen wird?« »Warum zweifelst Du daran?« fragte Jener immer noch gereizt. »Weil er Ostern das Examen machen will!« »Heidenbruck will das auch!« entgegnete der Borusse. »Ja!« sagte der Senior, »aber fällt der durch, so fällt er in seines Alten Geld- und Kornsäcke; Brand – –« »Steht im Examen fest wie auf der Mensur, das solltest Du wissen!« fiel ihm Jener in's Wort, und wieder hing eine Forderung in der Luft, als ein Student, bedeutend älter als die Uebrigen, der bisher theilnahmlos auf- und abgegangen war, an den Kreis herantrat. Er zog eine große silberne Uhr aus der Tasche, hielt sie den Andern vor und sagte mit einer starken, aber heisern Stimme: »Wie wäre es, wenn Ihr Brand sein Examen selbst überließet und wir Mittag essen gingen, lieben Söhne! Es ist spät! Schon acht und eine halbe Minute über Eins!« Larssen's Vorliebe für behaglichen Tischgenuß, wie seine zum Gespött gewordene Pünktlichkeit bei demselben, die mit der Unregelmäßigkeit seines übrigen Lebens in grellem Widerspruche stand, rief auch jetzt wieder ein so lautes Gelächter unter den Studenten hervor, daß man des Streites in der Heiterkeit vergaß. [...] 

Larssen war drei Jahre auf der Universität, als sein Vater durch unglückliche Speculation sein Vermögen verlor. Beide Eltern überlebten dies Unglück nur eine kurze Zeit, und der Sohn sah sich plötzlich auf sich selbst gewiesen. Für eine energische Natur wäre der Druck der Verhältnisse eine Triebkraft gewesen, um so schneller und höher zu steigen; nicht so für ihn. Er wollte dem Menschenkreise entgehen, der ihn beklagen konnte, er wollte sich den drohenden, augenblicklichen Entbehrungen entziehen, und eine Hauslehrerstelle in einer adligen Familie, die ein Freund derselben ihm anbot, schien ihm dazu der geeigneteste Ausweg. Betroffen von dem Vertrauen seines Freundes, das nicht zu verdienen er sich bewußt war, hatte Larssen es als eine Ehrensache angesehen, seine Verpflichtungen im Hause des Baron von Heidenbruck mit höchster Pünktlichkeit zu erfüllen. Der älteste Sohn des Barons, Erich, den man eben jetzt zum Entrepreneur der Bälle ernannt hatte, war damals bereits in einem Erziehungsinstitute, und nur Georg noch im Hause gewesen, der bald darauf einem Cadettenhause übergeben worden war. Larssen hatte also nur den wissenschaftlichen Unterricht der Töchter zu besorgen gehabt, der ihn wenige Stunden des Tages beschäftigte. Die ganze übrige Zeit hatte er sich selbst und seinen Neigungen gelebt, die in dem hochgebildeten, gastfreien Hause mit denen der Besitzer glücklich genug zusammenfielen. Seine literarische Bildung, feine guten Umgangsformen, sein Geist und seine Anspruchslosigkeit, seine Theilnahme für jeden Vorgang des menschlichen Lebens, hatten ihn dem Baron und seiner Gattin zu einem angenehmen Hausgenossen gemacht, dem man jede Bequemlichkeit bereitwillig gewährte und manche Unregelmäßigkeit der Sitten verzieh. Fünf Jahre waren für Larssen in diesen Verhältnissen unter dauerndem Wohlbehagen dahingeschwunden, als die Ernennung zum Landforstmeister den Baron nach Königsberg berief, wo man des Hauslehrers für die Töchter nicht mehr benöthigt war. Wohlmeinend drang man in ihn, sich einem Examen zu unterwerfen, der Baron erbot sich, ihm beim Beginne jeder zu erwählenden Laufbahn mit seinem Einflusse förderlich zu sein; Larssen konnte zu keinem Entschlusse kommen. Seine Lässigkeit war in den fünf Jahren des Wohllebens, bei den Studien, die er als Dilettant betrieb, gewachsen, und obschon er dabei dem erstrebten Ziele einer universellen Bildung näher gekommen war, als er selbst es wußte, hatte er alle Kraft verloren, seine Kenntnisse fleißig zum eigenen Besten zu verwerthen." (Fanny Lewald: Wandlungen 1. Band, 1. Kapitel)

Larssen über die Töchter Heidenbruck:

»Es sind sonderbar geartete Naturen, diese Mädchen. Beide idealistisch, Beide dem Gewöhnlichen feind, Helene aus Liebebedürfniß, Cornelie aus Verstand und Herzensgüte. Helenens Phantasie trägt sie weit hinaus über die Beengung des conventionellen Lebens, in dem sie erwachsen ist. Sie glaubt an ein Ideal von Liebesglück und möchte dies erreichen, während Cornelie von Kindheit an sich skeptisch verhalten hat gegen Alles, was sie umgab, und von geläuterten Weltzuständen phantasirte, in denen es keine Noth und kein Elend geben sollte. Helene wollte immer einen Feenprinzen heirathen und überirdisch glücklich werden, Cornelie eine Fee sein und alle Armen glücklich machen. Ich habe viel Noth mit ihnen gehabt, bis ich sie zur Wirklichkeit gewöhnte.« »Und ist Dir das gelungen?« fragte Friedrich mit reger Theilnahme. »Allerdings! Es steckt zwar in Beiden noch die eigene Richtung, die ja dem Menschen angeboren ist wie sein Blut und seine Haut, aber sie haben gelernt sich in die Welt zu fügen und vom Leben keine Ideale zu verlangen. Es sind eben vernünftige Frauenzimmer geworden, und die kluge Mutter wird für sie auch die richtigen Lebenswege bahnen. Ich sehe das im Werden!« (1. Band, 5. Kapitel)

Da kam die treue, so oft verspottete Gefährtin unseres Lebens, die Gewohnheit, ihm zu Hülfe. Der Schlag der Thurmuhr schreckte ihn erlösend aus seiner Verzagtheit empor. [...]

Die Jugend hat das Vorrecht, an die Erfüllung ihrer idealen Wünsche zu glauben, darin liegt ihre Kraft und ihr Glück, und wer ein Ideal im Herzen trägt, nach dessen Erlangung er trachtet, hat an demselben einen mächtigen Bundesgenossen gewonnen. [...]

Helene antwortete nicht gleich. Erst nach einer langen Pause sagte sie: »Er selbst, Friedrich, muß der Dichter werden, der das Volk schildert in seiner Schönheit! Wer hat je mit dieser Einfachheit von seinem Leben, mit solcher Liebe von seinen Entbehrungen, mit solcher Schönheit von Schmerz und Leid zu uns gesprochen, als er? Es ist mir überhaupt, als hätte ich heute zum ersten Mal erfahren, wie Menschen zu einander reden sollten, und was es heißt mit einem Menschen sprechen!« [...] 

Ruhiger, als die nur mit dem Herzen lebende Helene, sah Cornelie, mit Angst der Schwester plötzlich auflodernde Liebe für Friedrich, und suchte sie durch den Hinweis auf das arme Mädchen zu zerstreuen. Als aber Helene ihr Lager gesucht hatte, da kniete Cornelie neben demselben nieder, faßte die Hände der Schwester und sagte, das Gesicht an ihre Wange geschmiegt: »Sprich vor Niemand, vor Niemand, Helene! wie Du vorhin zu mir gesprochen hast, und bete um Selbstüberwindung, denn es wäre ein Unglück, hättest Du sie nicht!« (1. Band, 6.Kapitel)

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