11 November 2020

Fanny Lewald: Wandlungen 2. Band 1. Kapitel

 So wie der Roman angelegt ist, hätte Lewald die beiden letzten Kapitel des 1. Bandes ebenso weglassen können wie ich hier. 

Offenkundig ist: Das Schicksal ist über die Grundsätze des Barons hinweggegangen. Sie haben sich schon jetzt nicht lebenstauglich erwiesen.

 "Noch war kein Jahr verflossen, seit die beiden ältesten Kinder des Barons aus dem Vaterhause geschieden waren, als auch in diesem der Tod sein Opfer gefordert hatte. Die Baronin war nach kurzem Krankenlager gestorben, und das sonst so heitere, gastliche Familienleben dadurch für immer zerstört worden. Bei der Unterordnung, in welcher der Baron selbst die von ihm innig geliebte Gattin zu halten gewohnt gewesen war, hatte er nie bemerkt, welch segensreichen Einfluß sie auf ihn ausgeübt, wie nöthig ihm ihre Milde gewesen, um die Starrheit seiner Grundsätze mit den Ansprüchen und Forderungen des Lebens zu vermitteln. Jetzt, da sie ihm entzogen war, empfand er es um so tiefer, je mehr die Wendung, welche die öffentlichen Zustände in Europa genommen hatten, seinen Ueberzeugungen widersprach.

Den französischen Julitagen waren die Revolution in Belgien und die Erhebung in Polen gefolgt, ganz Süddeutschland befand sich in lebhafter Gährung, das Hambacher Fest hatte es dargethan, wie verbreitet der Wunsch nach einer ständischen Vertretung, wie weit er eingedrungen sei in die arbeitenden Volksklassen. Die Namen Börne's, Siebenpfeifer's, Wirth's waren in jedem Munde und der Unparteiische konnte es sich nicht verbergen, daß es in Hambach nur an entschlossenen Führern gefehlt habe, um die dort versammelten Massen zu einem Unternehmen für die Befreiung Deutschlands von der absoluten Herrschaft zu bewegen. Auch in der Literatur gab sich eine neue frische Richtung kund. Börne, Heine, Wienbarg stachelten jeder auf seine Weise das erwachte Bewußtsein des Volkes zur Empfindung seiner Knechtschaft auf, andere Talente trugen den Gedanken der Freiheit in die gesellschaftlichen und in das Verhältniß der Geschlechter zu einander über, und forderten, wenn auch oft in mißverstandener Weise, die Wiedereinsetzung des Menschen in einen freieren Genuß der Erdenfreuden.

Man wollte nicht mehr entbehren und entsagen, man wollte besitzen und des Besitzes froh werden, man war es müde, in müssigem Weltschmerz darüber zu klagen, daß die Wirklichkeit dem Ideale Hohn sprach, man wollte sie idealischer gestalten, aber man hatte kein allgemeines, kein sittliches Ideal, und Jeder versuchte sich seine Grillen oder Leidenschaften zum Ideale zu erheben. Die Literatur der Selbstbespiegelung und mit ihr der Selbstverschönerung begann. Neben der tiefsten und reinsten Poesie machte der Cynismus sich in ekelerregender Weise breit und verlangte Anbetung vom Volke, weil er individuell und das Recht der Individualität nicht länger zu bestreiten sei. Tagebücher, Reiseskizzen und eine große Anzahl phantastischer Productionen überraschten und verwirrten das Publikum, fesselten die Einen verlockend und zur Nachahmung reizend, stießen die Anderen eben so lebhaft ab, und wie immer in solchen Epochen, bemächtigte sich die Menge der technischen Phrase, um sie, verstanden oder nicht, fanatisch als Parteiwort zu gebrauchen. Während es sich darum handelte, den Geist zu befreien, schwor man auf die Emancipation des Fleisches oder kämpfte wider sie, vergessend, daß der Absolutismus dem Sinnengenusse immer volle Freiheit gewährt hatte, daß die orthodoxeste Hierarchie, der Katholicismus, sich leicht mit ihm verständigte, und daß es nur die Emancipation der Geister war, gegen die man mit Censur und Waffen aller Art zu Felde zog.

Auch that die Lehre von der Emancipation des Fleisches und die Leichtfertigkeit, mit denen man sinnliche Ausschweifungen als Gegenstände der Verherrlichung behandelte, im Grunde wenig Schaden. Sie gaben den träge gewordenen Gemüthern einen Anstoß und wirkten fast das Gegentheil von dem, was man gefürchtet hatte. Der Deutsche besitzt im Allgemeinen nicht den Esprit, der im Franzosen die Frivolität erzeugt. Die Sinnlichkeit schlägt bei ihm in Rohheit oder in Sentimentalität um, und endet meist in Verthierung oder in Askese. Mochten Menschen wie Larssen sich auch behaglich dehnen in der Nebelsonne dieser falschen Aufklärung, mochte der Trotz des Lieutenants Alles mit Leidenschaft ergreifen, was sich gegen die bestehende Ordnung richtete, so schuf es in solchen Naturen doch nichts Neues. Wo aber Jugend und Unschuld mit diesen Lehren in Berührung kamen, da entstand höchstens ein Rausch, von dem der Ernst des Lebens sie bald wieder ernüchterte und zur Besinnung brachte.

Neben diesen zum Lebensgenusse ladenden Elementen, mahnte aber jene Zeit auch vielfach an den Ernst des Daseins und an die Vergänglichkeit des Irdischen. Das Schicksal der zum zweiten Male gestürzten französischen Dynastie, die Leiden und die Verbannung, welche die Mehrzahl des polnischen Adels getroffen hatten, von dem Viele durch Preußen geflohen waren, während Andere dort in tiefer Zurückgezogenheit lebten, trauernd um den Tod der Ihrigen und Stärkung suchend in der Religion, das Alles, und endlich das Hereinbrechen der Cholera mit ihrem furchtbaren memento mori, war ganz dazu gemacht, ernste Gemüther grade im Gegensatze zu der neuen Schule der Genußfordernden in eine dem Genuß entsagende Richtung zu treiben."

(Fanny Lewald: Wandlungen 2. Band 1. Kapitel)


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