28 Februar 2021

Goethe: Reineke Fuchs - Wie Reineke den Kopf aus der Schlinge zieht (5. Gesang)

Nun vernehmet die List und wie der Fuchs sich gewendet,

Seine Frevel wieder zu decken und andern zu schaden.

Bodenlose Lügen ersann er, beschimpfte den Vater

Jenseit der Grube, beschwerte den Dachs mit großer Verleumdung,

Seinen redlichsten Freund, der ihm beständig gedienet.

So erlaubt' er sich alles, damit er seiner Erzählung

Glauben schaffte, damit er an seinen Verklägern sich rächte.


»Mein Herr Vater«, sagt' er darauf, »war so glücklich gewesen,

König Emmrichs, des Mächtigen, Schatz auf verborgenen Wegen

Einst zu entdecken; doch bracht ihm der Fund gar wenigen Nutzen.

Denn er überhub sich des großen Vermögens und schätzte

Seinesgleichen von nun an nicht mehr, und seine Gesellen

Achtet' er viel zu gering: er suchte sich höhere Freunde.

Hinze, den Kater, sendet' er ab in die wilden Ardennen,

Braun, den Bären, zu suchen, dem sollt er Treue versprechen,

Sollt ihn laden, nach Flandern zu kommen und König zu werden.


Als nun Braun das Schreiben gelesen, erfreut' es ihn herzlich;

Unverdrossen und kühn begab er sich eilig nach Flandern:

Denn er hatte schon lange so was in Gedanken getragen.

Meinen Vater fand er daselbst, der sah ihn mit Freuden,

Sendete gleich nach Isegrim aus und nach Grimbart, dem Weisen;

Und die vier verhandelten dann die Sache zusammen;

Doch der fünfte dabei war Hinze, der Kater. Ein Dörfchen

Liegt allda, wird Ifte genannt, und grade da war es,

Zwischen Ifte und Gent, wo sie zusammen gehandelt.

Eine lange, düstere Nacht verbarg die Versammlung:

Nicht mit Gott! es hatte der Teufel, es hatte mein Vater

Sie in seiner Gewalt mit seinem leidigen Golde.

Sie beschlossen des Königes Tod, beschwuren zusammen

Festen, ewigen Bund, und also schwuren die fünfe

Sämtlich auf Isegrims Haupt: sie wollten Braunen, den Bären,

Sich zum Könige wählen und auf dem Stuhle zu Aachen

Mit der goldnen Krone das Reich ihm festlich versichern.

Wollte nun auch von des Königes Freunden und seinen Verwandten

[...]

Dann entdeckt Ihr sogleich die allerreichsten Geschmeide,

Golden, künstlich und schön, auch findet Ihr Emmerichs Krone;

Wäre des Bären Wille geschehn, der sollte sie tragen.

Manchen Zierat seht Ihr daran und Edelgesteine,

Goldnes Kunstwerk; man macht es nicht mehr, wer wollt es bezahlen?

Sehet Ihr alle das Gut, o gnädiger König, beisammen,

Ja, ich bin es gewiß, Ihr denket meiner in Ehren.

Reineke, redlicher Fuchs! so denkt Ihr, der du so klüglich

Unter das Moos die Schätze gegraben, o mög es dir immer,

Wo du auch sein magst, glücklich ergehn!« So sagte der Heuchler.


Und der König versetzte darauf: »Ihr müßt mich begleiten;

Denn wie will ich allein die Stelle treffen? Ich habe

Wohl von Aachen gehört, wie auch von Lübeck und Köllen

Und von Paris; doch Hüsterlo hört ich im Leben nicht einmal

Nennen, ebensowenig als Krekelborn; sollt ich nicht fürchten,

Daß du uns wieder belügst und solche Namen erdichtest?«


Reineke hörte nicht gern des Königs bedächtige Rede,

Sprach: »So weis ich Euch doch nicht fern von hinnen, als hättet

Ihr am Jordan zu suchen. Wie schien ich Euch jetzo verdächtig?

Nächst, ich bleibe dabei, ist alles in Flandern zu finden.

Laßt uns einige fragen; es mag es ein andrer versichern.

Krekelborn! Hüsterlo! sagt ich, und also heißen die Namen.«

Lampen rief er darauf, und Lampe zauderte bebend.

Reineke rief: »So kommt nur getrost, der König begehrt Euch,

Will, Ihr sollt bei Eid und bei Pflicht, die Ihr neulich geleistet,

Wahrhaft reden; so zeiget denn an, wofern Ihr es wisset,

Sagt, wo Hüsterlo liegt und Krekelborn? Lasset uns hören.«


Lampe sprach: »Das kann ich wohl sagen. Es liegt in der Wüste

Krekelborn nahe bei Hüsterlo. Hüsterlo nennen die Leute

Jenen Busch, wo Simonet lange, der Krumme, sich aufhielt,

Falsche Münze zu schlagen mit seinen verwegnen Gesellen.

Vieles hab ich daselbst von Frost und Hunger gelitten,

Wenn ich vor Rynen, dem Hund, in großen Nöten geflüchtet.«[492]

Reineke sagte darauf: »Ihr könnt Euch unter die andern

Wieder stellen; Ihr habet den König genugsam berichtet.«

Und der König sagte zu Reineke: »Seid mir zufrieden,

Daß ich hastig gewesen und Eure Worte bezweifelt;

Aber sehet nun zu, mich an die Stelle zu bringen.«


Reineke sprach: »Wie schätzt ich mich glücklich, geziemt' es mir heute,

Mit dem König zu gehn und ihm nach Flandern zu folgen;

Aber es müßt Euch zur Sünde gereichen. Sosehr ich mich schäme,

Muß es heraus, wie gern ich es auch noch länger verschwiege.

Isegrim ließ vor einiger Zeit zum Mönche sich weihen,

Zwar nicht etwa, dem Herren zu dienen, er diente dem Magen;

Zehrte das Kloster fast auf, man reicht' ihm für sechse zu essen,

Alles war ihm zu wenig; er klagte mir Hunger und Kummer;

Endlich erbarmet' es mich, als ich ihn mager und krank sah,

Half ihm treulich davon, er ist mein naher Verwandter.

Und nun hab ich darum den Bann des Papstes verschuldet,

Möchte nun ohne Verzug, mit Eurem Wissen und Willen,

Meine Seele beraten und morgen mit Aufgang der Sonne,

Gnad und Ablaß zu suchen, nach Rom mich als Pilger begeben

Und von dannen über das Meer; so werden die Sünden

Alle von mir genommen, und kehr ich wieder nach Hause,

Darf ich mit Ehren neben Euch gehn. Doch tät ich es heute,

Würde jeglicher sagen: Wie treibt es jetzo der König

Wieder mit Reineken, den er vor kurzem zum Tode verurteilt!

Und der über das alles im Bann des Papstes verstrickt ist!

Gnädiger Herr, Ihr seht es wohl ein, wir lassen es lieber.«

[...]

(Goethe: Reineke Fuchs, 5. Gesang)


25 Februar 2021

Barack Obama: A Promised Land

 Barack Obama: A Promised Land (Wikipedia englisch)

dt. Ein verheißenes Land (Rezensionen bei Perlentaucher)

zur Rezension von Reymer Klüver in SZ:

"Man erfährt, was es heißt, Präsident zu sein - und dies klar zu machen sei tatsächlich einer der Schwerpunkte der Obama-Erzählung. Insgesamt ist er der Meinung, dass der "Spagat" dem Autor ganz gut gelingt - sich selbst und seine Motive und Handlungen gut aussehen zu lassen, gleichzeitig aber auch deutliche Selbstkritik zu äußern darüber, dass der notwendige Wandel in der Gesellschaft der USA während seiner Amtszeit nicht vollzogen wurde. Den Rassismus vor allem der Republikaner, den er als Grund dafür angibt, macht eine spannende Binnenerzählung aus, findet der Kritiker" 

zur Rezension von Mladen Gladic in: Die Welt

"Der Mix aus Traditionsbewusstsein, mit dem Obama seine politischen Idole vorführt, und Einblicken ins Private gefällt dem Rezensenten allerdings. Und schließlich: Wer hätte die Augen von Angela Merkel je so gut beschrieben wie dieser Präsident?"

Da mir dies Buch, von denen, die ich gegenwärtig lese, das wichtigste ist, ist mir wichtiger, dass ich halbwegs dran bleiben kann. Deshalb vorläufig nur unzusammenhängende Notizen:

Präsident Andrew Jackson entkam den Tausenden von Betrunkenen bei seiner Inaugurationsfeier 1829 dem Vernehmen nach nur durch ein Fenster. (S.220)

Seit seiner Amtsübernahme fiel die übliche Anrede mit Vornamen fort (nur die engeren Familienmitglieder und sehr nahe Freunde behielten sie bei), allgemein war die Anrede immer Mr. President und nur im Weißen Haus gestatteten sich engere Mitarbeiter das bequemere POTUS [vgl. FLOTUS für Michelle], das Aufstehen aller, wenn er den Raum betrat, konnte er seinen Mitarbeitern nicht abgewöhnen. (S.249)

Die Geheimdienstleute, die ihn zu beobachten hatten, sprachen in ihre Mikrophone, wenn er auf die Toilette ging, "Renegate to Situation Room" (u.ä.), da wurde er also als Abtrünniger bezeichnet. Anlass genug für Obama, den dritten Teil seines Buches (Kapitel 10-13) mit Renegate (S.203) zu betiteln..  

Schon das Gesetz zur Rettung der Banken, (TARP) das George W. Bush in der Bankenkrise 2008 eingebracht hatte, galt bei vielen Republikanern als eine unerhörte Einmischung des Staates in wirtschaftliche Angelegenheiten, viele der republikanischen Abgeordneten, die dafür gestimmt hatten, hatten dafür Kritik einstecken müssen (S.255). Daher war trotz der offenkundigen Notwendigkeit einer Ankurbelung der Wirtschaft kaum mit republikanischer Unterstützung für den American Recovery and Reinvestment Act [zum Vergleich mit F.D.Roosevelts New Deal vgl. S.239/40) zu rechnen. Es gelang dann aber doch, die notendigen drei Stimmen republikanischer Senatoren zu gewinnen(S.263), die notwendig waren, ein Filibuster (S.243) zu verhindern. 

 Jim Crow (deutsche Wikipedia) (S.243 u. passim)

Stresstest der Banken (S.280)

Boehner   McConnel

USA einerseits als vorbildliche Demokratie, andererseits als rassistisches Land mit imperialistischem Umgang mit Entwicklungsländern. (S.310)

S. 311 ff. Afghanistan, al-Qaida, Irak u.a.

Robert Gates

The Good Fight (S.331-421)

G 20 in London (S.333-345) 

Vaclav Havel (S.350/51)    Kairo S.358ff.

Health care / Obamacare / Affordable Care Act (S.375-426)

Allein für die Darstellung der Durchsetzung dieses Gesetzesvorhabens lohnt es sich, das Buch anzuschaffen. Wie in "Hoffnung wagen" (Audacity of Hope) über die Ängste eines Politikers so spricht Obama hier offen über die Schwierigkeiten, die ein demokratischer US-Präsident mit einer demokratischen Mehrheit in Senat und Repräsentantenhaus hat, ein Gesetz durchzubringen. Offen sagt er, wie viele sachlich nicht gerechtfertigte Zugeständnisse auf anderen Gebieten Politiker im US-System an einzelne Abgeordnete und Senatoren machen (müssen?), um eine Gesetzesvorhaben durchzubringen. Andererseits macht er deutlich, dass trotz der Zwänge des Systems und der Existenzängste der Politiker Einzelne doch sagen können: 

"Es gibt Dinge, die wichtiger sind, als wiedergewählt zu werden." (Tom Periello, ein 35-jähriger Menschenrechtsanwalt, der dank äußerstem Engagement in einem bisher republikanisch dominierten Umfeld in Virginia Abgeordneter geworden war, sagte diesen Satz - und wurde prompt nach 2 Jahren abgewählt. - "In the Democratic Republic of Congo, Perriello worked closely with the national council of Catholic bishops to support mediation between the president and opposition groups over a political crisis triggered when the president attempted to stay in office beyond his constitutional term.[55] This work culminated in the historic New Year's Eve agreement on December 31, 2016, which lays out a path to the first peaceful transition of power since the country's independence in 1960.[56]*" (en-Wikipedia))

*In der Demokratischen Republik Kongo arbeitete Perriello eng mit dem Nationalrat der katholischen Bischöfe zusammen, um die Vermittlung zwischen dem Präsidenten und Oppositionsgruppen über eine politische Krise zu unterstützen, die ausgelöst wurde, als der Präsident versuchte, über seine verfassungsmäßige Amtszeit hinaus im Amt zu bleiben.  Diese Arbeit gipfelte in dem historischen Silvesterabkommen vom 31. Dezember 2016, das einen Weg zum ersten friedlichen Machtwechsel seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1960 darstellt.

In seiner Darstellung hebt er [Obama] auch die besonderen Qualifikationen von Nancy Pelosi hervor (S.420/21), die nach einer 15-minütigen Darstellung der schier unüberwindlichen Schwierigkeiten, Obamacare in einer den linken Demokraten inakzeptablen Form im Repräsentantenhaus durchzusetzen, Obama erklärte, natürlich werde sie das unternehmen. Es wird verständlich, weshalb die am 26.3.21 81-jährige Politikerin 2019 wieder zur Sprecherin des Repräsentantenhauses gewählt worden ist. In dem Alter halten außer Konrad Adenauer an sich nur Diktatoren an einem Spitzenamt fest, aber wenn die US-Demokratie unter Joe Biden gerettet werden kann, wird vermutlich sie einen wesentlichen Anteil daran gehabt haben. 

Und schließlich sagt Obama "I love nuns.", als die 66-jähriger Carol Keehan als Sprecherin der katholischen Gesundheitsorganisation der USA der katholischen US-Bischofskonferenz widersprach und betonte, wie wichtig Obamacare für die Arbeit der Gesundheitsorgani-sation sei. (S.422/23) 

Am Schluss des Kapitels (wie immer sehr szenisch dargestellt und unter gebührender Erwähnung des Familienhunds der Präsidentenfamilie: "Bo") schreibt Obama: "I thought about Ted Kennedy and I thought about my mom." (S.426) [Weshalb, das hat er weiter vorn - auch bereits ziemlich emotional - dargelegt.] Ein Satz, wie man ihn vermutlich nicht nur in Adenauers Memoiren vergeblich suchen wird.

Kurz vorher hatte er schon geschrieben, dass ihm das mit Obamacare erfüllte Versprechen wichtiger gewesen sei als der Gewinn in der Präsidentschaftswahl. (S.426)

The World as it is S.427-516

Afghanistan S.431-439

Nobelpreis S.439/40; 445/46

Iran S.450-456

S.456-467  Medwedew (vorsichtig auf Putins Linie, aber aufgeschlossen), Putin

Gorbatschow S.466

China u. Japan S.472-485

Klimawandel, Umwelt S.486ff.

Auf  den Seiten 499-516 stellt Obama dar, weshalb er keine Chancen für die Zustimmung des Senats zu einem weiterreichenden Klimaabkommen/Vertrag in Kopenhagen gehabt habe und dass er die Kompromissformulierung nur einem überfallartigen Vorgehen verdankt habe. 

[ "The agreement brokered by Barack Obama has faced international criticism from all sides, but most participants are already back home trying to portray it as a national political victory" The Guardian, 20.12.2009]

In the Barrel  (in der Zange; barrel wörtlich: Fass) S.517 ff.

Griechenlandkrise S.525-531

Michelle S.543/45

Sasha

Zu den Entspannungen gehörte für Obama das abendliche Vorlesen für Sasha. Bis sie erklärte, jetzt könne sie selbst lesen und brauche ihn nicht mehr. 

Da musste er sich etwas anderes suchen und spielte Basketball mit Reggie Love. Wenn es Obamas Zeitplan zuließ, organisierte der auch Spiele mit Basketballspielern seiner Bekanntschaft. Und wenn Obamas Team mal gegen Reggies Team gewonnen hatte, dann bekam Reggie das noch lange danach zu hören.
"But the enjoyment, I got from playing basketball was nothing compared to the thrill - and stress - of rooting for Sashas fourth grade rec league team." (S.540)

Michelle S.543-45

Bei der Darstellung der Reform des Finanzsystems ("Wall Street") (S.545-556) tut Obama alles, um dieses abstrakte Thema und den Gesetzgebungsprozess zu personalisieren und scheut am Ende des Kapitels nicht vor einem cliff hanger zurück, um eventuell ermüdete Leser bei der Stange zu halten.

Deep water horizon S.557-75

Midterm Probleme S.575/76

Afghanistan S.576-580o

Guantánamo S.580-597

Indien S.598-603

New START S.603-08

DADT Versuch es im Sinne von LBGTQ-Rechten auszuweiten S.609-614

Immigration, DREAM Act S.614-19

On the High Wire S.621

Nahostkonflikt, bes. Israel-Palästinenser S.623ff.

Samantha Power S.638

Arabischer Frühling S.641

Ägypten (Revolution in Ägypten 2011)

Mubarak (Husni Mubarak, S.642); Frank Wisner, S.645

Syrien S.653

Libyen; Gaddafi S.653; Bill Daley, S.655/56

"Where would the obligation to intervene end?" (S.655)

Brasilien S.661

Malia und Sasha S.664/65

Chile, Flugzeugabsturz, vermisster Soldat in Libyen S.665-67

Antritt zur Wiederwahl S.669

Donald Trump S.672

"I kept my face fixed in an accomodating smile, as I quietly balanced on a mental high wire, my thoughts thousand miles away." (S.692)

Osama bin Laden; al-Qaida S.676-701

Robert Gates

McRavenBagram Air BaseJalalabad/Dschalalabad (Afghanistan),

Operation Neptune Spear; Navy SEAL Team 6 2.5.2011 (S.693/4)

Pakistan, Abottabad (S.693-701)






23 Februar 2021

Die Reichsgründung im Werk Wilhelm Raabes

 Christian Thomas: Mitten im wirbelndsten Leben

"[...] Ein Eisenbahnunglück! „Wer es schon mitgemacht hat, weiß es, wie die Welt in solcher Lage sich gibt“, meinte der Autor so lakonisch wie ironisch, wusste doch Wilhelm Raabe (wahrscheinlich), dass sein Eisenbahnunglück das (sozusagen) erste in der deutschen Literatur war, zu finden in seiner Erzählung „Meister Autor“, die 1874 entstand, drei Jahre nach der Reichsgründung. Thema, Raabes Thema: der Wandel aller Lebensverhältnisse. Die Eisenbahn wurde zum Sinnbild bedrohlicher Beschleunigung, der Crash zur Allegorie des Zusammenstoßes von Stadt und Land.

Modernisierung und Reichsgründung – Gründerzeitfieber. Fiebrig die Menschen in der Erzählung „Horacker“, die 1876 entstand, umtriebig in „Fabian und Sebastian“ (1881), in „Prinzessin Fisch“ (1883) oder „Villa Schönow“ (1884). Und wie aufgewühlt erst in „Pfisters Mühle“, dem ersten deutschen Umweltroman, 1885 veröffentlicht. Die Umstände der Reichsgründung ließen Raabe nicht los, 1892 erschien „Gutmanns Reisen“, die besonders exquisit erzählte Geschichte der Vorgeschichte der neuen Zeit. Bei allem spekulierte auch der freie Schriftsteller Raabe auf schroff veränderte Voraussetzungen. „Wir sind hier“, schrieb er einem Briefpartner, „der festen Meinung, dass nach abgeschlossenem Frieden eine sehr günstige Zeit für die ‚Romanschreiber‘ kommt.“ [...] 
Mag bürgerliches Behagen auch beschworen werden in Raabes Romanwelt - doch noch einmal: wer spricht? Eine Figur, ein Erzähler, der Autor? Immer wieder zeigt sich Raabes vielperspektivische Romanwelt von einer äußerst ungemütlichen und beunruhigenden Seite. Dem plappernden Optimismus und dem törichten Triumph einer Figur gegenüber verhält sich in „Kloster Lugau“ eine zweite Stimme, einmal mehr eine Frau, „grimmig“. Die Reaktion gilt dem Kriegsausgang, vor allem dem Wort „traumsicherer Siegesgewissheit“. Unüberhörbar die Reserviertheit gegenüber den Umständen der Reichsgründung unter Raabes klugen Figuren, unübersehbar der Groll des Autors selbst. [...]"

22 Februar 2021

Die Tyrannei der (russischen) Dorfgemeinschaft

"So hatte das Statut von 1861 [Aufhebung der Leibeigenschaft] am Ende die Tyrannei des mir noch gestärkt."

 (Roger Portal: Die Slawen, Kindlers Kulturgeschichte Europas, Bd.19, S.406)

Anmerkungen:

"Eine Befreiung der Bauern aus der Polizeigewalt der Gutsbesitzers erfolgte unmittelbar mit dem Inkrafttreten der Reform 1861; weil das Land aber im Kollektivbesitz der örtlichen Bauern blieb und die schon bislang übliche periodische Umverteilung des Bodens festgeschrieben wurde, blieben die Möglichkeiten der Bauern, selbstbestimmt zu wirtschaften, höchst begrenzt.[30]" (Wikipedia: Alexander II. von Russland)

"Erst unter dem Reformzaren Alexander II. wurde die Leibeigenschaft der abwertend als „Muschiki“ bezeichneten Bauern am 19. Februarjul.3. März 1861greg. abgeschafft, etwa 50 Jahre später als in Westeuropa und in den zwar unter russischer Herrschaft, aber unter der Verwaltung des deutschbaltischen Adels stehenden Ostseegouvernements. Oft folgte hierauf keine Freiheit für die Bauern, sondern eine verschärfte wirtschaftliche Abhängigkeit (Schuldenfalle), jedoch ohne dass sie den alten Rechtsschutz genossen.[109] Diese Situation wurde nie zufriedenstellend gelöst und wurde zu einer der Ursachen für den Erfolg der Oktoberrevolution." (Wikipedia: Leibeigenschaft in Russland)

sieh auch:

Portal: Die russische Kirche als "Schmelztiegel der Revolution"

21 Februar 2021

Goethe: Reineke Fuchs 1. Gesang

 Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen; es grünten und blühten

Feld und Wald; auf Hügeln und Höhn, in Büschen und Hecken

Übten ein fröhliches Lied die neuermunterten Vögel;

Jede Wiese sproßte von Blumen in duftenden Gründen,

Festlich heiter glänzte der Himmel und farbig die Erde.


Nobel, der König, versammelt den Hof; und seine Vasallen

Eilen gerufen herbei mit großem Gepränge; da kommen

Viele stolze Gesellen von allen Seiten und Enden,

Lütke, der Kranich, und Markart, der Häher, und alle die Besten.

Denn der König gedenkt mit allen seinen Baronen

Hof zu halten in Feier und Pracht; er läßt sie berufen

Alle miteinander, so gut die Großen als Kleinen.

Niemand sollte fehlen! und dennoch fehlte der eine,

Reineke Fuchs, der Schelm! der viel begangenen Frevels

Halben des Hofs sich enthielt. So scheuet das böse Gewissen

Licht und Tag, es scheute der Fuchs die versammelten Herren.

Alle hatten zu klagen, er hatte sie alle beleidigt,

Und nur Grimbart, den Dachs, den Sohn des Bruders, verschont' er.


Isegrim aber, der Wolf, begann die Klage; von allen

Seinen Vettern und Gönnern, von allen Freunden begleitet,

Trat er vor den König und sprach die gerichtlichen Worte:

»Gnädigster König und Herr! vernehmet meine Beschwerden.

Edel seid Ihr und groß und ehrenvoll, jedem erzeigt Ihr

Recht und Gnade: so laßt Euch denn auch des Schadens erbarmen,

Den ich von Reineke Fuchs mit großer Schande gelitten.

Aber vor allen Dingen erbarmt Euch, daß er mein Weib so[443]

Freventlich öfters verhöhnt und meine Kinder verletzt hat.

Ach! er hat sie mit Unrat besudelt, mit ätzendem Unflat,

Daß mir zu Hause noch drei in bittrer Blindheit sich quälen.

Zwar ist alle der Frevel schon lange zur Sprache gekommen,

Ja, ein Tag war gesetzt, zu schlichten solche Beschwerden;

Er erbot sich zum Eide, doch bald besann er sich anders

Und entwischte behend nach seiner Feste. Das wissen

Alle Männer zu wohl, die hier und neben mir stehen.

Herr! ich könnte die Drangsal, die mir der Bube bereitet,

Nicht mit eilenden Worten in vielen Wochen erzählen.

Würde die Leinwand von Gent, so viel auch ihrer gemacht wird,

Alle zu Pergament, sie faßte die Streiche nicht alle,

Und ich schweige davon. Doch meines Weibes Entehrung

Frißt mir das Herz; ich räche sie auch, es werde, was wolle.«


Als nun Isegrim so mit traurigem Mute gesprochen,

Trat ein Hündchen hervor, hieß Wackerlos, redte französisch

Vor dem König: wie arm es gewesen und nichts ihm geblieben

Als ein Stückchen Wurst in einem Wintergebüsche;

Reineke hab auch das ihm genommen! Jetzt sprang auch der Kater

Hinze zornig hervor und sprach: »Erhabner Gebieter,

Niemand beschwere sich mehr, daß ihm der Bösewicht schade,

Denn der König allein! Ich sag Euch, in dieser Gesellschaft

Ist hier niemand, jung oder alt, er fürchtet den Frevler

Mehr als Euch! Doch Wackerlos' Klage will wenig bedeuten,

Schon sind Jahre vorbei, seit diese Händel geschehen;

Mir gehörte die Wurst! ich sollte mich damals beschweren.

Jagen war ich gegangen: auf meinem Wege durchsucht ich

Eine Mühle zu Nacht; es schlief die Müllerin; sachte

Nahm ich ein Würstchen, ich will es gestehn; doch hatte zu dieser

Wackerlos irgend ein Recht, so dankt' er's meiner Bemühung.«


Und der Panther begann: »Was helfen Klagen und Worte!

Wenig richten sie aus, genug, das Übel ist ruchtbar.

Er ist ein Dieb, ein Mörder! Ich darf es kühnlich behaupten,

Ja, es wissen's die Herren, er übet jeglichen Frevel.[444]

Möchten doch alle die Edlen, ja selbst der erhabene König

Gut und Ehre verlieren; er lachte, gewänn er nur etwa

Einen Bissen dabei von einem fetten Kapaune.

Laßt Euch erzählen, wie er so übel an Lampen, dem Hasen,

Gestern tat; hier steht er! der Mann, der keinen verletzte.

Reineke stellte sich fromm und wollt ihn allerlei Weisen

Kürzlich lehren und was zum Kaplan noch weiter gehöret,

Und sie setzten sich gegeneinander, begannen das Credo.

Aber Reineke konnte die alten Tücken nicht lassen;

Innerhalb unsers Königes Fried' und freiem Geleite

Hielt er Lampen gefaßt mit seinen Klauen und zerrte


Wilhelm von Kaulbach


Wikipedia Commons


Tückisch den redlichen Mann. Ich kam die Straße gegangen,

Hörte beider Gesang, der, kaum begonnen, schon wieder

Endete. Horchend wundert ich mich, doch als ich hinzukam,

Kannt ich Reineken stracks, er hatte Lampen beim Kragen;

Ja, er hätt ihm gewiß das Leben genommen, wofern ich

Nicht zum Glücke des Wegs gekommen wäre. Da steht er!

Seht die Wunden an ihm, dem frommen Manne, den keiner

Zu beleidigen denkt. Und will es unser Gebieter,

Wollt ihr Herren es leiden, daß so des Königes Friede,

Sein Geleit und Brief von einem Diebe verhöhnt wird,

Oh, so wird der König und seine Kinder noch späten

Vorwurf hören von Leuten, die Recht und Gerechtigkeit lieben.«


Isegrim sagte darauf: »So wird es bleiben, und leider

Wird uns Reineke nie was Gutes erzeigen. Oh! läg er

Lange tot; das wäre das beste für friedliche Leute;

Aber wird ihm diesmal verziehn, so wird er in kurzem

Etliche kühnlich berücken, die nun es am wenigsten glauben.«


Reinekens Neffe, der Dachs, nahm jetzt die Rede, und mutig

Sprach er zu Reinekens Bestem, so falsch auch dieser bekannt war.

»Alt und wahr, Herr Isegrim!« sagt' er, »beweist sich das Sprichwort:

Feindes Mund frommt selten. So hat auch wahrlich mein Oheim

Eurer Worte sich nicht zu getrösten. Doch ist es ein leichtes.

Wär er hier am Hofe so gut als Ihr und erfreut' er[445]

Sich des Königes Gnade, so möcht es Euch sicher gereuen,

Daß Ihr so hämisch gesprochen und alte Geschichten erneuert.

Aber was Ihr Übels an Reineken selber verübet,

Übergeht Ihr; und doch, es wissen es manche der Herren,

Wie ihr zusammen ein Bündnis geschlossen und beide versprochen,

Als zwei gleiche Gesellen zu leben. Das muß ich erzählen;

Denn im Winter einmal erduldet' er große Gefahren

Euretwegen. Ein Fuhrmann, er hatte Fische geladen,

Fuhr die Straße; Ihr spürtet ihn aus und hättet um alles

Gern von der Ware gegessen; doch fehlt' es Euch leider am Gelde.

Da beredetet Ihr den Oheim, er legte sich listig

Grade für tot in den Weg. Es war, beim Himmel, ein kühnes

Abenteuer! Doch merket, was ihm für Fische geworden.

Und der Fuhrmann kam und sah im Gleise den Oheim,

Hastig zog er sein Schwert, ihm eins zu versetzen; der Kluge

Rührt' und regte sich nicht, als wär er gestorben; der Fuhrmann

Wirft ihn auf seinen Karrn und freut sich des Balges im voraus.

Ja, das wagte mein Oheim für Isegrim; aber der Fuhrmann

Fuhr dahin, und Reineke warf von den Fischen herunter.

Isegrim kam von ferne geschlichen, verzehrte die Fische.

Reineken mochte nicht länger zu fahren belieben; er hub sich,

Sprang vom Karren und wünschte nun auch von der Beute zu speisen.

Aber Isegrim hatte sie alle verschlungen; er hatte

Über Not sich beladen, er wollte bersten. Die Gräten

Ließ er allein zurück und bot dem Freunde den Rest an.

Noch ein anderes Stückchen! auch dies erzähl ich Euch wahrhaft.

Reineken war es bewußt, bei einem Bauer am Nagel

Hing ein gemästetes Schwein, erst heute geschlachtet; das sagt'er

Treu dem Wolfe: sie gingen dahin, Gewinn und Gefahren

Redlich zu teilen. Doch Müh und Gefahr trug jener alleine.

Denn er kroch zum Fenster hinein und warf mit Bemühen

Die gemeinsame Beute dem Wolf herunter; zum Unglück

Waren Hunde nicht fern, die ihn im Hause verspürten

Und ihm wacker das Fell zerzausten. Verwundet entkam er;

Eilig sucht' er Isegrim auf und klagt' ihm sein Leiden

Und verlangte sein Teil. Da sagte jener: ›Ich habe

Dir ein köstliches Stück verwahrt; nun mache dich drüber

Und benage mir's wohl; wie wird das Fette dir schmecken!‹

Und er brachte das Stück; das Krummholz war es, der Schlächter

Hatte daran das Schwein gehängt; der köstliche Braten

War vom gierigen Wolfe, dem Ungerechten, verschlungen.

Reineke konnte vor Zorn nicht reden, doch was er sich dachte,

Denket Euch selbst. Herr König, gewiß, daß hundert und drüber

Solcher Stückchen der Wolf an meinem Oheim verschuldet!

Aber ich schweige davon. Wird Reineke selber gefordert,

Wird er sich besser verteid'gen. Indessen, gnädigster König,

Edler Gebieter, ich darf es bemerken: Ihr habet, es haben

Diese Herren gehört, wie töricht Isegrims Rede

Seinem eignen Weibe und ihrer Ehre zu nah tritt,

Die er mit Leib und Leben beschützen sollte. Denn freilich

Sieben Jahre sind's her und drüber, da schenkte mein Oheim

Seine Lieb und Treue zum guten Teile der schönen

Frauen Gieremund; solches geschah beim nächtlichen Tanze;

Isegrim war verreist, ich sag es, wie mir's bekannt ist.

Freundlich und höflich ist sie ihm oft zu Willen geworden,

Und was ist es denn mehr? Sie bracht es niemals zur Klage,

Ja, sie lebt und befindet sich wohl, was macht er für Wesen?

Wär er klug, so schwieg' er davon; es bringt ihm nur Schande.«

Weiter sagte der Dachs: »Nun kommt das Märchen vom Hasen!

Eitel leeres Gewäsche! Den Schüler sollte der Meister

Etwa nicht züchtigen, wenn er nicht merkt und übel bestehet?

Sollte man nicht die Knaben bestrafen, und ginge der Leichtsinn,

Ginge die Unart so hin, wie sollte die Jugend erwachsen?

Nun klagt Wackerlos, wie er ein Würstchen im Winter verloren

Hinter der Hecke; das sollt er nun lieber im stillen verschmerzen;

Denn wir hören es ja, sie war gestohlen; zerronnen

Wie gewonnen; und wer kann meinem Oheim verargen,

Daß er gestohlenes Gut dem Diebe genommen? Es sollen

Edle Männer von hoher Geburt sich gehässig den Dieben

Und gefährlich erzeigen. Ja, hätt er ihn damals gehangen,

War es verzeihlich. Doch ließ er ihn los, den König zu ehren;

Denn am Leben zu strafen gehört dem König alleine.[447]

Aber wenigen Danks kann sich mein Oheim getrösten,

So gerecht er auch sei und Übeltaten verwehret.

Denn seitdem des Königs Friede verkündiget worden,

Hält sich niemand wie er. Er hat sein Leben verändert,

Speiset nur einmal des Tags, lebt wie ein Klausner, kasteit sich,

Trägt ein härenes Kleid auf bloßem Leibe und hat schon

Lange von Wildbret und zahmem Fleische sich gänzlich enthalten,

Wie mir noch gestern einer erzählte, der bei ihm gewesen.

Malepartus, sein Schloß, hat er verlassen und baut sich

Eine Klause zur Wohnung. Wie er so mager geworden,

Bleich von Hunger und Durst und andern strengeren Bußen,

Die er reuig erträgt, das werdet Ihr selber erfahren.

Denn was kann es ihm schaden, daß hier ihn jeder verklaget?


(Goethe: Reineke Fuchs 1. Gesang)

17 Februar 2021

Goethe: Hermann und Dorothea - Die Flüchtlinge und Hermann

 

Kalliope

Schicksal und Anteil

»Hab ich den Markt und die Straßen doch nie so einsam gesehen!

Ist doch die Stadt wie gekehrt! wie ausgestorben! Nicht funfzig,

Deucht mir, blieben zurück von allen unsern Bewohnern.

Was die Neugier nicht tut! So rennt und läuft nun ein jeder,

Um den traurigen Zug der armen Vertriebnen zu sehen.

Bis zum Dammweg, welchen sie ziehn, ist's immer ein Stündchen,

Und da läuft man hinab, im heißen Staube des Mittags.

Möcht ich mich doch nicht rühren vom Platz, um zu sehen das Elend

Guter fliehender Menschen, die nun, mit geretteter Habe,

Leider das überrheinische Land, das schöne, verlassend,

Zu uns herüberkommen und durch den glücklichen Winkel

Dieses fruchtbaren Tals und seiner Krümmungen wandern.

Trefflich hast du gehandelt, o Frau, daß du milde den Sohn fort

Schicktest, mit altem Linnen und etwas Essen und Trinken,

Um es den Armen zu spenden; denn Geben ist Sache des Reichen.

Was der Junge doch fährt! und wie er bändigt die Hengste!

Sehr gut nimmt das Kütschchen sich aus, das neue; bequemlich

Säßen viere darin und auf dem Bocke der Kutscher.

Diesmal fuhr er allein; wie rollt' es leicht um die Ecke!«

So sprach, unter dem Tore des Hauses sitzend am Markte,

Wohlbehaglich, zur Frau der Wirt zum Goldenen Löwen.


Und es versetzte darauf die kluge, verständige Hausfrau:

»Vater, nicht gerne verschenk ich die abgetragene Leinwand;

Denn sie ist zu manchem Gebrauch, und für Geld nicht zu haben,

Wenn man ihrer bedarf. Doch heute gab ich so gerne

Manches bessere Stück an Überzügen und Hemden;

Denn ich hörte von Kindern und Alten, die nackend dahergehn.[583]

Wirst du mir aber verzeihn? denn auch dein Schrank ist geplündert

Und besonders den Schlafrock mit indianischen Blumen,

Von dem feinsten Kattun, mit feinem Flanelle gefüttert,

Gab ich hin; er ist dünn und alt und ganz aus der Mode.« 

(Goethe: Hermann und Dorothea, 1. Gesang)


Terpsichore

Hermann

[590] Als nun der wohlgebildete Sohn ins Zimmer hereintrat,

Schaute der Prediger ihm mit scharfen Blicken entgegen

Und betrachtete seine Gestalt und sein ganzes Benehmen

Mit dem Auge des Forschers, der leicht die Mienen enträtselt;

Lächelte dann und sprach zu ihm mit traulichen Worten:

»Kommt Ihr doch als ein veränderter Mensch! Ich habe noch niemals

Euch so munter gesehn und Eure Blicke so lebhaft.

Fröhlich kommt Ihr und heiter; man sieht, Ihr habet die Gaben

Unter die Armen verteilt und ihren Segen empfangen.«


Ruhig erwiderte drauf der Sohn mit ernstlichen Worten:

»Ob ich löblich gehandelt? ich weiß es nicht; aber mein Herz hat

Mich geheißen zu tun, so wie ich genau nun erzähle.

Mutter, Ihr kramtet so lange, die alten Stücke zu suchen

Und zu wählen; nur spät war erst das Bündel zusammen,

Auch der Wein und das Bier ward langsam, sorglich gepacket.

Als ich nun endlich vors Tor und auf die Straße hinauskam,

Strömte zurück die Menge der Bürger mit Weibern und Kindern

Mir entgegen; denn fern war schon der Zug der Vertriebnen.

Schneller hielt ich mich dran und fuhr behende dem Dorf zu,

Wo sie, wie ich gehört, heut übernachten und rasten.

Als ich nun meines Weges die neue Straße hinanfuhr,

Fiel mir ein Wagen ins Auge, von tüchtigen Bäumen gefüget,

Von zwei Ochsen gezogen, den größten und stärksten des Auslands,

Nebenher aber ging, mit starken Schritten, ein Mädchen;

Lenkte mit langem Stabe die beiden gewaltigen Tiere,

Trieb sie an und hielt sie zurück, sie leitete klüglich.

Als mich das Mädchen erblickte, so trat sie den Pferden gelassen[590]

Näher und sagte zu mir: ›Nicht immer war es mit uns so

Jammervoll, als Ihr uns heut auf diesen Wegen erblicket.

Noch nicht bin ich gewohnt, vom Fremden die Gabe zu heischen,

Die er oft ungern gibt, um loszuwerden den Armen;

Aber mich dränget die Not zu reden. Hier auf dem Strohe

Liegt die erst entbundene Frau des reichen Besitzers,

Die ich mit Stieren und Wagen noch kaum, die Schwangre, gerettet.

Spät nur kommen wir nach, und kaum das Leben erhielt sie.

Nun liegt, neugeboren, das Kind ihr nackend im Arme,

Und mit wenigem nur vermögen die Unsern zu helfen,

Wenn wir im nächsten Dorf, wo wir heute zu rasten gedenken,

Auch sie finden, wiewohl ich fürchte, sie sind schon vorüber.

Wär Euch irgend von Leinwand nur was Entbehrliches, wenn Ihr

Hier aus der Nachbarschaft seid, so spendet's gütig den Armen.‹


Also sprach sie, und matt erhob sich vom Strohe die bleiche

Wöchnerin, schaute nach mir; ich aber sagte dagegen:

›Guten Menschen, fürwahr, spricht oft ein himmlischer Geist zu,

Daß sie fühlen die Not, die dem armen Bruder bevorsteht;

Denn so gab mir die Mutter, im Vorgefühle von Eurem

Jammer, ein Bündel, sogleich es der nackten Notdurft zu reichen.‹

Und ich löste die Knoten der Schnur und gab ihr den Schlafrock

Unsers Vaters dahin und gab ihr Hemden und Leintuch.

Und sie dankte mit Freuden und rief: ›Der Glückliche glaubt nicht,

Daß noch Wunder geschehn; denn nur im Elend erkennt man

Gottes Hand und Finger, der gute Menschen zum Guten

Leitet. Was er durch Euch an uns tut, tu er Euch selber.‹

Und ich sah die Wöchnerin froh die verschiedene Leinwand,

Aber besonders den weichen Flanell des Schlafrocks befühlen.

›Eilen wir‹, sagte zu ihr die Jungfrau, ›dem Dorf zu, in welchem

Unsre Gemeine schon rastet und diese Nacht durch sich aufhält;

Dort besorg ich sogleich das Kinderzeug, alles und jedes.‹

Und sie grüßte mich noch und sprach den herzlichsten Dank aus,

Trieb die Ochsen; da ging der Wagen. Ich aber verweilte,

Hielt die Pferde noch an; denn Zwiespalt war mir im Herzen,

Ob ich mit eilenden Rossen das Dorf erreichte, die Speisen[591]

Unter das übrige Volk zu spenden, oder sogleich hier

Alles dem Mädchen gäbe, damit sie es weislich verteilte.

Und ich entschied mich gleich in meinem Herzen und fuhr ihr

Sachte nach und erreichte sie bald und sagte behende:

›Gutes Mädchen, mir hat die Mutter nicht Leinwand alleine

Auf den Wagen gegeben, damit ich den Nackten bekleide,

Sondern sie fügte dazu noch Speis und manches Getränke,

Und es ist mir genug davon im Kasten des Wagens.

Nun bin ich aber geneigt, auch diese Gaben in deine

Hand zu legen, und so erfüll ich am besten den Auftrag;

Du verteilst sie mit Sinn, ich müßte dem Zufall gehorchen.‹

Drauf versetzte das Mädchen: ›Mit aller Treue verwend ich

Eure Gaben; der Dürftige soll sich derselben erfreuen.‹

Also sprach sie. Ich öffnete schnell die Kasten des Wagens,

Brachte die Schinken hervor, die schweren, brachte die Brote,

Flaschen Weines und Biers und reicht' ihr alles und jedes.

Gerne hätt ich noch mehr ihr gegeben; doch leer war der Kasten.

Alles packte sie drauf zu der Wöchnerin Füßen und zog so

Weiter; ich eilte zurück mit meinen Pferden der Stadt zu.«


Als nun Hermann geendet, da nahm der gesprächige Nachbar

Gleich das Wort und rief: »O glücklich, wer in den Tagen

Dieser Flucht und Verwirrung in seinem Haus nur allein lebt,

Wem nicht Frau und Kinder zur Seite bange sich schmiegen!

Glücklich fühl ich mich jetzt; ich möcht um vieles nicht heute

Vater heißen und nicht für Frau und Kinder besorgt sein.

Öfters dacht ich mir auch schon die Flucht und habe die besten

Sachen zusammengepackt, das alte Geld und die Ketten

Meiner seligen Mutter, das alles noch heilig verwahrt liegt.

Freilich bliebe noch vieles zurück, das so leicht nicht geschafft wird.

Selbst die Kräuter und Wurzeln, mit vielem Fleiße gesammelt,

Mißt ich ungern, wenn auch der Wert der Ware nicht groß ist.

Bleibt der Provisor zurück, so geh ich getröstet von Hause.

Hab ich die Barschaft gerettet und meinen Körper, so hab ich

Alles gerettet; der einzelne Mann entfliehet am leichtsten.«[592]

»Nachbar«, versetzte darauf der junge Hermann mit Nachdruck,

»Keinesweges denk ich wie Ihr und tadle die Rede.

Ist wohl der ein würdiger Mann, der im Glück und im Unglück

Sich nur allein bedenkt und Leiden und Freuden zu teilen

Nicht verstehet und nicht dazu von Herzen bewegt wird?

Lieber möcht ich, als je, mich heute zur Heirat entschließen;

Denn manch gutes Mädchen bedarf des schützenden Mannes

Und der Mann des erheiternden Weibs, wenn ihm Unglück bevorsteht.«

(Goethe: Hermann und Dorothea, 2. Gesang)