Songlines oder Traumpfade nennen die Einwanderer Australiens die in Lieder gefassten Nachschöpfungen der Natur (Landschaftsbeschreibungen) der Aborigines. (Diese nennen ihre Beschreibungen "Fußspuren der Ahnen" oder "Weg des Gesetzes".)
Neben der Kodierung der äußeren Natur im Lied steht für die Aborigines die Verkörperung der
Seelen der Ahnen in
Tschuringas oder
Tjurungas, die in Höhlen aufbewahrt werden.
Bei seinen Reflexionen über das
Nomadentum verweist
Bruce Chatwin, der Verfasser des Buches "
The Songlines" (deutsch:
Traumpfade), darauf, dass Kain, der Ackerbauer, zum Mörder an Abel, dem Hirten, wurde und Gott von ihm als Sühne verlangt, dass er seinerseits zum Umherziehenden wird, im Lande
Nod, dem Bereich des Umherwanderns, der Wildnis oder Wüste.
Meiner Meinung nach ist deutlich genug, dass Chatwin im Roman nicht eine wissenschaftlich treffende Beschreibung der Vorstellungen der Aborigines versucht, sondern etwas anderes: Die Übersetzung des Fremdartigen, das er erlebt hat, in eine dichterische Welt, die es einem Europäer von heute ermöglicht, eine eigene Vorstellung von dem zu gewinnen, was die Welt der Aborigines von der unsrigen unterscheidet.
Deshalb schaltet er zwischen seine Darstellung der Welt der Aborigines den "Fachmann" Akardy ein, der die Erkenntnisse, die er von den Aborigenes hat, nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit bekommen hat, seine Erkenntnisse aber weitergibt, so wie er - um die Welt der Aborigines zu schützen - seine Erkenntnisse darüber, was man beim Eisenbahnbau nicht zerstören sollte, der Eisenbahngesellschaft weitergibt.
Zumindest theoretisch konnte ganz Australien wie eine Partitur gelesen werden. Es gab kaum einen Felsen oder einen Bach im Land, der nicht gesungen werden konnte oder gesungen worden war. Man musste sich die Songlines wie Spaghetti aus Iliaden und Odysseen vorstellen, die sich hier hin und dorthin schlängelten, wobei jede 'Episode' den geologischen Formen abzulesen war.
"Unter Episode, verstehen Sie 'heilige Stätte'?" fragte ich. "So ist es."
"Stätten wie die, die sie zur Zeit für die Eisenbahngesellschaft vermessen?"
"Sie müssen es so sehen", sagte er. Überall im Busch können sie auf irgendeine Stelle in der Landschaft zeigen und den Aborigine an ihrer Seite fragen: 'Was für eine Geschichte ist das?' oder: 'Wer ist das?' Es ist möglich, dass er 'Känguru oder 'Wellensittich' oder 'Eidechse' antwortet, je nachdem, welcher Ahne diesen Weg gegangen ist."
"Und die Entfernung zwischen zwei solcher Stätten kann als Abschnitt des Lieds gemessen werden?"
"Deshalb", sagte Arkadi, "habe ich so viele Schwierigkeiten mit den Leuten von der Eisenbahn." (S.24)
Man musste es natürlich nicht, sondern die 'Ilias als Spaghettifaden' ist ein Bild, das dem Leser ermöglichen soll, sich eine eigene Vorstellung darüber zu machen, wie eine Landschaft in ein Lied umzusetzen sei und wie man ein Lied als Orientierungshilfe in der (möglichst über Jahrtausende unveränderten) Landschaft verwenden könne.
"Es war nicht leicht, einen Vermesser davon zu überzeugen, dass ein Haufen Flusssteine, die Eier einer Regenbogenschlange oder ein rötlicher Sandsteinbrocken die Leber eines mit dem Speer erlegten Kängurus war. Schwerer noch war es, ihm einsichtig zu machen, dass eine öde Schotterlandschaft die musikalische Entsprechung zur Beethovens Opus 111 war.
Indem sie die Welt ins Dasein, sangen, sagte er, seien die Ahnen Dichter in der ursprünglich Bedeutung des Wortes poesis gewesen, das 'Schöpfung' besage. Kein Aborigine könne sich vorstellen, dass die erschaffene Welt in irgendeiner Weise unvollkommen sei. Sein religiöses Leben habe nur ein Ziel: das Land so zu erhalten, wie es war und wie es sein sollte. Ein Mann, der 'Walkabout' ging, machte eine rituelle Reise. Er folgte den Fußspuren seines Ahnen. Er sang die Strophen seines Ahnen, ohne ein Wort oder eine Note zu ändern – und er schuf so die Schöpfung neu." [...]
Aborigines konnten nicht glauben, dass das Land existierte, bevor die Ahnen es sangen. [...]
Aborigines glaubten, dass die 'lebenden Dinge' im verborgenen unter der Erdkruste gemacht worden waren, wie auch alle Maschinen des weißen Mannes- seine Flugzeuge, seine Gewehre, seine Toyota-Landcruiser - und aller Erfindungen, die man noch erfinden würde, sie schlummerten unter der Oberfläche und warteten, bis sie gerufen wurden.
"Vielleicht können sie die Eisenbahn in die erschaffene Welt Gottes zurücksingen?" schlug ich vor.
"Da können Sie sicher sein", sagte Arkady. (S. 25/26).
vgl. dazu das Nationalepos der Finnen Kalevala, wonach die alten Finnen/Heroen Wirklichkeit durch Singen bewirkten.("Übersinge, wer mich ansingt,/Überspreche, wer mich anspricht,/Singe, daß der beste Sänger/Bald als schlechtester erscheinet,/Sing' ihm Steinschuh' an die Füße,/Hölzern Beinkleid an die Hüften,/Sing' ihm Steinlast auf das Brustbein,/Einen Steinblock auf die Schultern,/Steinern' Handschuh' an die Hände,/Eine Steinmütz' auf den Schädel.")
Auf
den Seiten 80-89 lässt Chatwin den Ex-Benediktiner Flynn eine
relativ verständliche Darstellung zu der Bedeutung der Song-Lines
abgeben.
Zitate:
"Die
Weißen, begann er, gingen von der allgemein verbreiteten,
irrtümlichen Annahme aus, dass die Aborigines, weil sie Wanderer
waren, keine Landbesitzordnung hätten. Das sei Unsinn. Aborigines,
das stimmte, / konnten sich ein Territorium nicht als ein von Grenzen
umschlossenes Stück Land vorstellen, sondern sahen es eher als ein
verschachteltes Netz von 'Linien' oder 'Durch-Gängen'.
Alle
unsere Worte für Land sind identisch mit den Wörtern für Linie,
sagte er.
Dafür
gab es eine einfache Erklärung. Der größte Teil des australischen
Busch Landes bestand aus dürrem Gestrüpp oder Wüste, wo die
Regenfälle immer unregelmäßig kamen und wo auf ein fettes Jahr sie
magere Jahre folgen konnten. in einer solchen Landschaft
herumzuziehen, bedeutete Überleben, am selben Ort zu bleiben war
Selbstmord.
Die
Definition von 'eigenem Land' eines Menschen war der 'Ort, an dem ich
nicht fragen muss'. (S.81/82)
Chatwin deutet an, dass die Aborigines die Regeln der Kultur der Weißen nicht akzeptieren und dafür erwarten, dass die Weißen, sie sich an sie annähern, sich den Aborigines-Regeln anzupassen hätten und dass bei Nichtbefolgung der Tod drohe. Eine seiner Personen spricht von Apartheid, und er deutet an, dass sie von den Aborigines ausgehe.
"Einer hatte noch die Kraft, den Arm zu heben, ein anderer etwas zu sagen. Als sie hörten, wer Limpy [ein Aborigine] war, lächelten alle drei spontan, dasselbe, zahnlose Lächeln.
Arcady schlug die Arme übereinander und beobachtete sie.
"Sind sie nicht wunderbar?" flüsterte Marian, legte ihre Hand in meine und drückte sie.
Ja. Ihnen fehlte nichts. Sie wussten, wohin sie gingen. Im Schatten eines
Geistereukalyptusbaumes lächelten sie dem Tod entgegen." (S,393/394)
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