09 Februar 2025

Copperfield Kapitel 3 bis 36

Wichtige Personen

Clara Peggotty, Davids mütterliche Beschützerin, vormals Haushälterin von Mr. und seiner noch mädchenhaft unerfahrenen Frau Mrs. Copperfield, die törichterweise den tyrannischen  Mr. Murdstone heiratet, der als Stiefvater David verprügelt und zu entwürdigender Hilfsarbeitertätigkeit einem Weinhändler ausliefert.

Davids Schulfreunde Tommy Traddles und James Steerfort sowie der grausame Leiter ihrer Schule  Mr. Creakle.

Davids autoritäre, aber sehr liebevoll sich für ihn einsetzende wohlhabende Großtante Betsey Trotwood 

Clara Peggottys Mann Daniel, ihre angenommene Waise Emily, Tochter eines verstorbenen Fischerkollgens, Ham der angenommene Neffe

Rechtsanwalt Wickfield und seine Tochter Agnes, der kriecherische Angestellte von Wickfield Uria Heep

Dr. Strong, der Schulleiter der vorbildlichen Schule, in der David trotz seiner zuvor rasch abgebrochenen Schullaufbahn jetzt bis zum Schulabgang sogar Primus wird.  und seine ähnlich wie Davids Mutter mädchenhaft junge Frau Annie 

Das Ehepaar Emma und ihr Mann Wilkins Micawber Mann, beide unbekümmert verschwenderisch, er daher immer kurz vor dem Schulgefängnis, an deren Schicksal David Anteil nimmt.

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Wikipedia: "Die Hochzeit wird schnell vereinbart, aber David soll nicht dabei sein und erst später darüber informiert werden. Deshalb darf er mit Peggotty für 14 Tage in Yarmouth Ferien machen (Kp. 3). Sie wohnen dicht am Meer in einem zu einem Haus umgebauten alten Schiff von Peggottys Bruder Daniel (Dan). David verbringt glückliche Ferientage am Strand zusammen mit Dans Nichte Emily, in die er sich verliebt, und seinem Neffen Ham, zwei Waisenkindern, deren Väter beim Fischen ertrunken sind. Mit Mrs. Gummidge, der Witwe eines verunglückten Freundes, die den Haushalt führt, ist es eine bunt zusammengewürfelte Fischerfamilie, um die sich der freundliche Dan liebevoll kümmert. Die tragischen Verstrickungen dieser Gruppe werden als Handlungsstrang bis zum Schluss die Romanhandlung mitprägen.

Erst nach der Rückkehr nach Blunderstone erfährt David den Grund der Reise. Für den jetzt Siebenjährigen ändert sich jetzt das Leben radikal und es beginnt eine dreijährige Leidenszeit. Murdstone ist in das Haus der jungen unerfahrenen Frau eingezogen und übernimmt die strenge Herrschaft (Kp. 4). Er will die mädchenhafte Clara erziehen. Sie soll den zärtlichen Umgang mit ihrem Kind durch Distanz und konsequente Härte ersetzen. Als Murdstone seine Schwester Jane ins Haus holt, muss Clara die Schlüsselgewalt an sie abgeben. Ihr wird eingeredet, dass diese Änderungen nur ihrer Unterstützung und dem Wohl Davids dienen, und sie verdrängt, dass ihr Mann den Stiefsohn nur als das ungeliebte Erbe der Ehe betrachtet. David erhält einen festen Stundenplan und hat jeden Tag den Stoff den Geschwistern Murdstone vorzutragen. Lernte er vorher bei seiner Mutter leicht und freudig, so ist er nun durch die permanente Kontrolle gehemmt, verkrampft sich und kann das Vorbereitete nicht behalten. Als sein Stiefvater ihn wegen seiner vermeintlichen Faulheit mit einem Rohrstock züchtigt, beißt David ihm in die Hand, wird darauf von dem wütenden Mann verprügelt, erhält fünf Tage Stubenarrest und wird anschließend auf die Internatsschule „Salemhouse“ bei Blackheath südlich von London geschickt (Kp. 5)

Als David in den Ferien nach Hause zurückkehrt, erfährt er, dass seine Mutter einen kleinen Jungen zur Welt gebracht hat (Kp. 8). Das Zusammenleben mit seinem Stiefvater und dessen Schwester ist für ihn nach wie vor schwer zu ertragen. Er fühlt sich unerwünscht und kann ihnen nichts recht machen. Zieht er sich auf sein Zimmer zurück, wird er als widerspenstig kritisiert, muss er sich im Wohnzimmer aufhalten, ist er gehemmt und ängstlich und gilt als verstockt.

Kurz nach Ferienende erhält David im „Salemhouse“ die Nachricht vom Tod der Mutter und wird zur Beerdigung zurückgerufen. In Yarmouth erfährt er nebenbei, während er in der routiniert arbeitenden Schneiderei des „Leichenbesorgers“ Omer eingekleidet wird, dass auch das Baby verstorben ist. Die Fahrt im Leichenwagen nach Hause erlebt er als grotesken Kontrast zwischen seiner Trauer und der mit Joram, dem Gehilfen Omers, scherzenden Bestattertochter Minnie (Kp. 9). Nach seiner Ankunft wird er von seinem Stiefvater in seiner tiefen Trauer kaum beachtet und auch seine Schwester überlässt ihn sich selbst, während früher beide ihn nach ihren Vorstellungen ständig disziplinierten. Nur Peggotty kümmert sich liebevoll um ihn. Sie ist nach dem Tod ihrer Herrin entlassen worden und Miss Murdstone ist froh, dass sie David für einige Zeit mit zu ihrem Bruder nach Yarmouth nimmt (Kp. 10). Dort heiratet Peggotty den Fuhrmann Barkis, der sie schon lange umworben und David als Mittler eingesetzt hat. Nachdem David am Meer von der Fischerfamilie liebevoll getröstet wird, setzt sich nach seiner Rückkehr die Vernachlässigung durch die Murdstones fort. Schließlich erklärt man ihm, er müsse in London arbeiten und seinen Lebensunterhalt z. T. selbst verdienen.

David wird nach dem Biss in die Hand des Stiefvaters zur Strafe ins Internat geschickt, obwohl alle Schüler noch Ferien haben und noch kein Unterricht stattfindet, und er muss allein reisen (Kp. 5). Mr. Barkis bringt ihn nach Yarmouth, dann fährt er mit der Landkutsche nach London. Seine Unerfahrenheit wird, wie er erst viel später bemerkt, oft ausgenutzt, z. B. von einem listigen Kellner, der ihn vor dem angeblich für den Jungen gefährlichen Bier warnt und selbst das Glas austrinkt und anschließend noch mit lustigen Sprüchen seinen Teller leer isst. So kommt er nach der langen Reise hungrig an der Station in Whitechapel an, wo ihn Mr. Mell abholt und nach Blackheath ins „Salemhouse“ bringt. Mr. Mell ist ein rücksichtsvoller, schlecht bezahlter Lehrer, der die harte Kasernendisziplin des Direktors nicht umsetzen kann und deshalb von vielen Schülern nicht ernst genommen wird. Sie sind es gewohnt, von dem durch seinen einbeinigen bulligen Aufseher Tungay begleiteten Direktor Mr. Creakle (Kp. 6) mit der ohne bestimmten Anlass gezüchtigt zu werden und tragen diese Aggressivität auch untereinander aus. Die meisten Prügel bekommt der kleine Tommy Traddles, von dem David freundlich begrüßt wird. Im Gegensatz zur Mehrheit hat er sich eine unvoreingenommene Meinung bewahrt. Mr. Murdstone hat sich mit seinem alten Freund Creakle abgesprochen, dass David hart zu behandeln ist. Er muss ein „Vorsicht! Er beißt“-Schild auf dem Rücken tragen. Die Mitschüler lachen darüber, aber David hat das Glück, dass er der Schützling des etwas älteren, hochbegabten, aber selbstsüchtigen James Steerforth wird, vor dem Lehrer und Schüler Respekt haben, weil er sofort seine Mutter informiert, wenn ihm etwas nicht passt (Kp. 7). Diese hat für den „feurigen Geist“ ihres Sohnes das eigentlich sozial unpassende „Salemhouse“ ausgesucht, wo er vom strengen Direktor Grenzen gesetzt bekommt, aber sich auch gegen jeden Zwang zu empören lernt (Kp. 20). Entsprechend seinem dominierenden Charakter teilt Steerforth seine Sympathien und Antipathien willkürlich aus. David mag er und er schätzt ihn als guten abendlichen Vorleser vor dem Einschlafen. Den Unterlehrer Mell dagegen stellt er bloß und treibt ihn in eine Konfrontation mit dem Direktor, die mit seiner Entlassung endet. Indirekt ist David an der Eskalation beteiligt, denn er hat seinem Beschützer von Mells Mutter im Armenspital erzählt, und dieser setzt im Streit diese Information ein. Während Tommy Steerforth Vorwürfe macht und den Lehrer verteidigt, hält sich David trotz seines Mitleids mit ihm zurück, denn er bewundert kritiklos Steerforth für sein starkes Auftreten und traut ihm zu, dass er große Dinge tun kann, wenn er möchte. Traddles wird im Laufe des Romans Davids bester Freund.

Jahrzehnte später erfährt David, was aus Mell und Creakle geworden ist: Dr. Mell ist nach Australien ausgewandert, unterrichtet an einem Gymnasium in Port-Middlebay und ist Vater vieler gebildeter Kinder (Kp. 63). Creakle dagegen hat eine überraschende Wende vollzogen. Er leitet als Friedensrichter von Middlesex ein Reformgefängnis, wo die Häftlinge dazu erzogen werden, ihre Schuld zu bereuen und sich zu bessern (Kp. 61).

Mr. Murdstone schickt David nach dem Tod seiner Mutter als Gehilfen zur Weinhandlung Murdstone und Grinby nach London, dessen Miteigentümer er ist, wo er für einen Hungerlohn Flaschen reinigen und mit Wein abfüllen muss (Kp. 11). Der Geschäftsführer Quinion regelt seine Bezahlung und vermittelt ihm ein Kämmerchen zur Untermiete bei der sechsköpfigen Familie Micawber. Wilkins Micawber ist Akquisiteur für die Weinhandlung, allerdings mit wenig Erfolg, so dass er sich immer mehr verschuldet und über seine Verhältnisse lebt. Aber er verbirgt die Probleme hinter seinem weltmännischen wortgewandten Auftreten und seine Frau Emma verpfändet nach und nach ihre Haushaltsgegenstände und Wohnungseinrichtung. Auch sie kann mit dem Geld nicht umgehen und gibt es unbedacht für gute Fleischgerichte und Wein aus. Beide sind leichtlebige gutherzige Menschen und schließen mit David trotz seiner Jugend Freundschaft. Mrs. Micawber lädt bei ihm ihre Sorgen ab, er ist ein mitleidiger geduldiger Zuhörer und für Zuwendung dankbar und hilft ihr beim Verkauf ihrer kleinen Bibliothek. Schließlich ist auch diese Quelle versiegt und Micawber muss für mehrere Monate ins Kings-Bench-Schuldgefängnis (Kp. 12). Nach der Einigung mit den Gläubigern wird der Haushalt aufgelöst und die Familie zieht nach Plymouth, wo sie auf Unterstützung von Mrs. Micawbers Verwandten hoffen. David hat nun in London keine Freunde mehr und beschließt, wegzulaufen. Micawber rät ihm, nach Dover zu fahren, um seine einzige Verwandte zu finden, seine Großtante Betsey Trotwood, und gibt ihm seine neuen Lebensweisheiten mit auf den Weg, alle Probleme nie zu verschieben, sondern sie tatkräftig sofort anzupacken und nie mehr Geld auszugeben, als man einnimmt. Aber er hat, wie im Romanverlauf mehrmals deutlich wird, keine Kraft, seine Botschaft selbst umzusetzen. In Canterbury wird David Micawber als erneut in seinen Hoffnungen gescheiterten, aber ungebrochenen Lebenskünstler und seine Frau in ihrem festen Glauben an die große Begabung ihres Mannes wiedertreffen. Sie haben nach der Zahlungsunfähigkeit schon wieder ein neues Projekt in Planung (Kp. 17).

Der zehnjährige David verlässt ohne Abmeldung die Weinhandlung und möchte mit der von Peggotty geliehenen halben Guinee nach Dover reisen. Doch der Bursche, der seinen Koffer zur Landkutschen-Station transportieren soll, nimmt ihm sein Geld ab und fährt mit seinem Gepäck auf dem Eselskarren einfach davon. So muss David den weiten Weg nach Dover über Canterbury zu Fuß zurücklegen (Kp. 13). Um sich Brot zu kaufen, versetzt er Weste und Jacke, übernachtet in Heuschobern und kommt schließlich am sechsten Tag in Dover an. Seine Tante nimmt ihn sofort auf, versorgt ihn gut und ist bereit, ihn zu erziehen. Sie lässt Murdstone zu sich kommen und wirft ihm sein liebloses Verhalten und seine harten Erziehungsmethoden vor. Er habe die unselbständige naive junge Witwe Clara ausgenutzt und David um sein väterliches Erbe betrogen. Sein Angebot, seinen Stiefsohn mitzunehmen, lehnt sie ab. Sie hat ihre frühere Einstellung vollkommen geändert: Vor David Geburt war sie bereit, sich um ihre Nichte Clara zu kümmern, aber aus Enttäuschung darüber, dass diese keine Tochter Betsey zur Welt brachte, sondern einen Sohn, reiste sie enttäuscht ab und ließ nichts mehr von sich hören. Jetzt hat sie Mitleid mit dem Waisenkind, spricht aber immer noch von dessen nicht vorhandener Schwester Betsey und fordert von ihm „so wie seine Schwester Betsey Trotwood zu sein“: „Nie sei niedrig, nie sei unwahr, nie sei hartherzig“. Sie adoptiert ihn unter dem Namen „Trotwood Copperfield“ und spricht ihn nicht als „Davy“, sondern als „Trot“ an (Kp. 14). Eine weitere Unterstützung findet David in Betseys skurrilem Hausfreund Mr. Dick, der eigentlich Richard Babley heißt. Er ist ein kindischer, liebenswürdiger Sonderling, der in zwei Welten lebt. Irgendwie hängt alles mit seinem Wahn zusammen, der geköpfte König Karl I. habe seinen Kopf besetzt und versuche, sich immer wieder in seine rätselhafte Denkschrift einzuschmuggeln, was er zu verhindern sucht, indem er die Seiten vernichtet. So beginnt er immer wieder neu mit dem Schreiben und kommt nie zu einem Ende. Er bastelt einen großen Drachen, beklebt ihn mit seinen Schriften und lässt die Zettel im Wind davonfliegen. Auch fühlt er sich von einem Mann verfolgt, der ab und zu nachts vor dem Haus auftaucht und dem Betsey Geld zusteckt. Später (Kp. 47) findet David das von der Tante gehütete Geheimnis heraus: Der Fremde ist ihr Mann, der sie vor langer Zeit verlassen hat und nach verschwenderischem Leben zum Landstreicher wurde. Trotz seiner Tics ist Dick in einigen Alltagsdingen sehr hellsichtig und Betsey befolgt seine vernünftigen Ratschläge. So empfiehlt er für David eine Schulausbildung, ist aber tieftraurig, als sein kleiner Freund die Woche über nach Canterbury zieht.

Miss Trotwood fährt mit David nach Canterbury und berät sich mit ihrem Rechtsanwalt Wickfield (Kp. 15). Er schlägt die Schule Doktor Strongs vor, dessen Methoden seinen Schülern Ehre und Eigenverantwortung vermitteln, und bietet an, dass David in Hausgemeinschaft mit ihm und seiner eng an ihn gebundenen Tochter Agnes wohnen kann. Agnes und er werden wie Geschwister miteinander vertraut. In der Kanzlei lernt er auch den Schreiber Uriah Heep kennen, der sich unterwürfig in häufigen Wiederholungen als Person von niedrigem Stand bezeichnet, ihm mit glatter „kriechender Höflichkeit“ schmeichelt und der ihn wegen seines unheimlichen Auftretens und seiner schlangenhaft windenden Körperbewegungen interessiert und zugleich in Albträumen ängstigt.

In seiner neuen Schule tritt David wegen seiner Defizite anfangs schüchtern auf (Kp. 16). Er spürt die Diskrepanz zu den wohlerzogenen Jungen, denen seine Erfahrungen fehlen: „Salemhouse“, Arbeit in der Weinhandlung, Pfandhäuser, Besuche Micawbers im Kingsbench-Gefängnis und Landstreicherei. Jedoch kann er in der noblen freundlichen Umgebung seine Begabung bis zu seinem Abschluss zunehmend entfalten, ist auf den Bällen der feinen Gesellschaft gerne gesehen (Kp. 18) und verlässt die Schule siebzehnjährig als „der Erste“ (Kp. 19). 

Zum Originaltext auf Deutsch:

»Es ist eine Wohltat, daß das arme gute Kind, deine Mutter nicht mehr lebt,« sagte meine Tante und sah mich billigend an, »denn sie wäre so stolz auf ihren Sohn geworden, daß ihr armes kleines Köpfchen ganz verdreht worden wäre, wenn noch daran etwas zu verdrehen war.« (Meine Tante entschuldigte stets ihre Schwäche gegen mich damit, daß sie diese auf solche Weise auf meine arme Mutter übertrug.) »Aber Trotwood, wie du mich an sie erinnerst!«

»Angenehm, hoffe ich, Tante?« sagte ich.

»Er ist ihr so ähnlich, Dick,« sagte meine Tante mit Nachdruck, »er ist ihr so ähnlich, wie sie an dem Nachmittag war, bevor sie zu weinen anfing – er ist ihr so ähnlich, als er mich nur aus seinen beiden Augen ansehen kann!«

»Wirklich?« sagte Mr. Dick.

»Und ist auch David ähnlich«, sagte meine Tante mit Entschiedenheit.

»Er ist David sehr ähnlich!« sagte Mr. Dick.

»Aber was ich in dir zu sehen wünsche, Trot,« fuhr meine Tante fort, – »nicht in physischer Hinsicht, sondern in moralischer, denn physisch bist du schon vortrefflich geraten – das ist ein tüchtiger Mensch. Ein braver, tüchtiger Mensch, der seinen eignen Willen hat. Und Entschlossenheit«, sagte meine Tante, und nickte mir energisch zu, und ballte die Faust. »Und Entschiedenheit. Und Charakter, Trot, – ein starker Charakter, der sich, außer mit gutem Grund, von niemand und in keinerlei Weise bestimmen läßt. So wünsche ich dich zu sehen. So hätte dein Vater und deine Mutter sein können, Gott weiß es, und es wäre besser für sie gewesen.«

Ich gab meine Hoffnung zu erkennen, zu werden wie sie es wünschte.

»Damit du im kleinen anfängst, allein zu sehen und selbständig zu handeln,« sagte meine Tante, »lasse ich dich allein reisen. Ich beabsichtigte erst, dich von Mr. Dick begleiten zu lassen; allein bei näherer Überlegung dachte ich, er bleibt hier zu meinem Schutze.«

Mr. Dick machte für den Augenblick ein etwas unzufriedenes Gesicht, bis die hohe Ehre, die wunderbarste Frau der Welt unter seinem Schutz zu haben, den Sonnenschein wieder auf sein Gesicht brachte.

»Außerdem«, sagte meine Tante, »ist die Denkschrift –«

»Ja, ja,« sagte Mr. Dick eilfertig, »ich gedenke sie sofort fertig zu machen, Trotwood – sie muß sofort fertig werden! Und dann wird sie eingereicht, und dann« – sagte Mr. Dick nach einer langen Pause, »dann wird's eine schöne Aufregung geben!«

Nach dem freundlichen Plane meiner Tante wurde ich bald darauf mit einer hübschen Summe Geldes und einem Koffer ausgerüstet, und trat nach zärtlichem Abschied meine Reise an. Meine Tante gab mir mehrere gute Ratschläge und viele, viele Küsse und sagte, ihre Absicht sei, daß ich mich etwas umsehen und ein wenig denken solle; deswegen empfahl sie mir, auf der Hin- oder auf der Herreise ein paar Tage in London zu bleiben. Mit einem Worte, es stand mir drei oder vier Wochen lang vollkommen frei, zu tun was ich wollte, unter der einzigen Bedingung, daß ich mich umsehen und jede Woche dreimal schreiben solle.

Ich begab mich zuerst nach Canterbury, um von Agnes und Mr. Wickfield – in dessen Haus ich immer noch mein altes Zimmer hatte – und dem guten Doktor Abschied zu nehmen. Agnes war sehr erfreut, mich zu sehen, und sagte mir, das Haus sei gar nicht mehr das alte, seitdem ich fort sei.

»Ich bin auch nicht der Alte, sobald ich nicht hier bin«, sagte ich. »Mir ist, als fehlte mir die rechte Hand, wenn ich dich nicht habe. Obgleich damit nicht viel gesagt ist; denn in meiner rechten Hand ist kein Kopf und kein Herz. Jedermann, der dich kennt, Agnes, zieht dich zu Rate und läßt sich von dir leiten.«

»Jedermann, der mich kennt, verzieht mich, glaube ich«, gab sie lächelnd zur Antwort.

»Nein. Es geschieht, weil du ganz anders bist, als alle übrigen. Du bist so gut und freundlich. Du hast ein so sanftes Gemüt, und hast immer recht.«

»Du sprichst,« sagte Agnes mit einem lieblichen Lachen, »als ob ich die ehemalige Miß Larkins wäre.«

»Ah, es ist nicht recht, mein Vertrauen zu mißbrauchen«, antwortete ich und errötete bei dem Gedanken an die blaue Schöne, die mich bezaubert hatte. »Aber ich werde mich dir doch anvertrauen, Agnes. Das kann ich mir nicht abgewöhnen. Wenn ich in Ungelegenheiten komme oder mich verliebe, werde ich dir's sagen – selbst wenn ich mich in allem Ernst verliebe.«

»Nun, du warst ja immer im Ernst?« sagte Agnes und lachte wieder.

»O! das waren damals Kindereien oder Schulknabenstreiche«, sagte ich und lachte jetzt auch, nicht ohne mich ein wenig zu schämen. »Die Zeiten sind andere geworden, und ich werde gelegentlich einmal fürchterlichen Ernst machen. Mich wundert es übrigens, daß du selbst nicht Ernst machst, Agnes.«

Agnes lachte wieder und schüttelte den Kopf.

»O, ich weiß, daß es nicht der Fall ist,« sagte ich; »sonst hättest du es mir gesagt. Oder wenigstens« – ich bemerkte eine leichte Röte auf ihren Wangen – »hättest du es mich erraten lassen. Aber ich kenne auch keinen, der es verdiente, dich zu lieben, Agnes. Ein Mann von edlerem Charakter und deiner viel würdiger als ich bis jetzt gesehen, muß erst kommen, bevor ich meine Einwilligung geben kann. Vorderhand werde ich ein scharfes Auge auf alle Bewunderer haben und werde von dem Glücklichen sehr viel verlangen, darauf kannst du dich verlassen.«

So hatten wir eine Zeitlang gesprochen in einer Mischung von gemütlichem Scherz und Ernst, wie wir es durch unser vertrauliches Verhältnis, das wir als Kinder begonnen, gewohnt waren. Aber plötzlich sah mich Agnes an, und sprach in ganz anderm Tone:

»Trotwood! Ich will dich etwas fragen, was ich gegen niemand sonst äußern möchte. Hast du eine allmähliche Veränderung an meinem Vater bemerkt?«

Ich hatte so etwas bemerkt, und mich oft gefragt, ob sie es auch gewahr werde. Ich muß es durch meine Miene verraten haben; denn sie schlug sogleich die Augen nieder, und ich erblickte in ihnen Tränen,

»Sage mir, was es ist«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Ich glaube – soll ich ganz aufrichtig sein, Agnes, da ich ihn so sehr liebe?«

»Ja«, sagte sie.

»Ich glaube, er schadet sich durch die Gewohnheit, die seit meiner Hierherkunft zugenommen hat. Er ist oft sehr angegriffen – oder es kommt mir nur so vor.«

»Es ist wirklich so«, sagte Agnes und schüttelte mit dem Kopf.

»Die Hand zittert ihm, er spricht nicht deutlich und sieht verstört aus. Ich habe bemerkt, daß gerade zu solchen Zeiten, und wenn er am wenigsten er selbst ist, in Geschäftssachen nach ihm gefragt wird.«

»Von Uriah«, sagte Agnes.

»Ja, und das Gefühl, es nicht verrichten zu können oder seinen Zustand wider seinen Willen verraten zu haben, scheint ihn so aufzuregen, daß es den nächsten Tag schlimmer geht und den nächsten noch schlimmer, und so wird er zuletzt ganz angegriffen und schwach. Beunruhige dich nicht zu sehr, Agnes, aber in diesem Zustand sah ich neulich abends, daß er den Kopf auf das Pult legte und wie ein Kind weinte.«

Sie legte die Hand sanft auf meinen Mund, während ich noch sprach, und einen Augenblick später hatte sie den Vater an der Tür empfangen und stützte sich auf seine Schulter. Der Ausdruck ihrer Gefühle, wie beide sich ansahen, war sehr rührend. Es sprach sich dann eine tiefe Zärtlichkeit, eine hingebende Dankbarkeit gegen den Vater für alle seine Liebe und Sorgfalt aus; ihr Blick bat mich so innig, selbst in meinen innersten Gedanken nicht unsanft mit ihm umzugehen; sie war zu gleicher Zeit so stolz auf ihn, und so zärtlich gegen ihn, und doch so teilnahmsvoll und so bekümmert und so voller Vertrauen in mich, daß es tiefern Eindruck auf mich machte und mich mehr rührte als alles, was sie hätte vorbringen und sagen können.

Wir waren bei Doktor Strong zum Tee geladen. Wir gingen zur gewöhnlichen Stunde hin und fanden den Doktor, seine junge Frau und deren Mutter um den Kamin versammelt. Der Doktor, der von meiner Reise so viel Aufhebens machte, als ob ich nach China ginge, empfing mich wie einen geehrten Gast und ließ einen Klotz auf das Feuer legen, damit er bei dessen frischauflodernder Flamme noch einmal das Gesicht seines alten Schülers, in rote Glut getaucht, sehen konnte.

»Ich werde nicht viel neue Gesichter mehr an Trotwoods Stelle sehen, Wickfield«, sagte der Doktor, und wärmte sich die Hand über dem Feuer. »Ich werde alt und bedarf der Ruhe. Binnen sechs Monaten werde ich von meinen jungen Leuten scheiden und ein ruhigeres Leben führen.«

»Das haben Sie schon zehn Jahre lang gesagt, Doktor«, erwiderte Mr. Wickfield.

»Aber jetzt will ich es wirklich ausführen«, gab der Doktor zur Antwort. »Mein erster Hilfslehrer soll mein Nachfolger sein – ich mache endlich Ernst – und Sie werden bald die Kontrakte abzufassen und uns fest daran zu binden haben, gleich zwei Schelmen.«

»Ja, und Sorge zu tragen haben, daß Sie nicht betrogen werden, nicht?« sagte Mr. Wickfield – »was gewiß geschehen würde, wenn Sie den Kontrakt allein machten. Nun, ich bin bereit. Es gibt in meinem Beruf unangenehmere Arbeiten als diese.«

»Ich werde dann an weiter nichts zu denken haben als an mein Wörterbuch,« sagte der Doktor mit einem Lächeln »und an den andern kontraktlichen Erwerb – an Ännie.«

Als Mr. Wickfield diese, die neben Agnes saß, ansah, schien es mir, als ob sie seinen Blick so ratlos und scheu vermeide daß sie Mr. Wickfields Aufmerksamkeit auf sich zog, daß er aufmerksam wurde, als ob ihm etwas in den Sinn käme.

»Wie ich gesehen habe, ist eine Post aus Indien eingetroffen«, sagte er nach kurzem Stillschweigen.

»Und, nebenbei bemerkt, Briefe von Jack Maldon!« bemerkte der Doktor.

»So!«

»Der arme gute Jack!« sagte Mrs. Markleham, den Kopf schüttelnd. »Dieses böse Klima! Ein Leben wie auf einem Sandhaufen unter einem Brennglas, habe ich mir sagen lassen! Er sah kräftig aus, ist es aber nicht. Mein lieber Doktor, er verließ sich auf seinen Geist, nicht auf seinen Körper, das machte ihn so kühn! Teure Ännie, du erinnerst dich sicher, daß dein Vetter nie kräftig war, nicht, was man robust nennt; weißt du,« sagte Mrs. Markleham mit Nachdruck und sah uns alle im Kreise an, »von der Zeit her, wo meine Tochter und er Kinder waren, und den ganzen lieben langen Tag miteinander Arm in Arm spazieren gingen.«

Die so angeredete Ännie gab keine Antwort.

»Verstehe ich recht, Madame, daß Mr. Maldon krank ist?« fragte Mr. Wickfield.

»Krank!« antwortete der »Alte Soldat«. »Mein lieber Herr, er ist alles mögliche.«

»Vor allem also die Gesundheit?« sagte Mr. Wickfield.

»Ja, die Gesundheit!« versetzte Mrs. Markleham. »Er hat fürchterliche Sonnenstiche gehabt – Wechselfieber und Ceylonfieber, und alles, was Sie sich nur denken können. Was seine Leber betrifft«, sagte der »Alte Soldat« mit Resignation, »die hat er natürlich drangegeben, als er fortzog!«

»Schreibt er das alles?« fragte Mr. Wickfield.

»Schreiben?! Mein lieber Herr«, erwiderte Mrs. Markleham, Haupt und Fächer schüttelnd. »Sie kennen meinen armen Jack Maldon schlecht, wenn Sie so fragen. Schreiben? Er wahrlich nicht. Da müßten Sie ihn erst von vier Pferden schleifen lassen.«

»Mama!« sagte Mrs. Strong.

»Meine liebe Ännie,« versetzte ihre Mutter, »ich muß dich ein für allemal ersuchen, mich nicht zu unterbrechen, außer um mir beizustimmen. Du weißt so gut wie ich, daß dein Vetter Maldon sich von beliebig viel Pferden schleifen ließe – warum sollte ich mich auf vier beschränken! Nein, gerade nicht! und darum sage ich, daß er sich lieber von acht, sechzehn, zweiunddreißig Pferden schleifen ließe, als daß er die Pläne des Doktors durchkreuzen würde.«

»Wickfields Pläne«, sagte der Doktor, strich sich mit der Hand über das Gesicht, und sah reuig seinen Berater an. »Oder vielmehr unsere gemeinschaftlichen Pläne. Denn ich sagte allerdings auch: ›im Inlande oder im Auslande‹.«

»Und ich riet,« setzte Mr. Wickfield ernst hinzu, »›im Ausland‹. Er ist durch mich ins Ausland geschickt worden. Ich bin also dafür verantwortlich.«

»Oh! verantwortlich«, meinte der »Alte Soldat«. »Es ist ja alles in der besten Absicht geschehen, mein lieber Mr. Wickfield, alles in der liebevollsten, besten Absicht, das weiß man ja. Aber wenn der Gute nicht dort leben kann, so kann er eben dort nicht leben. Wenn er aber dort nicht leben kann, so wird er lieber dort sterben, als daß er die Pläne des Doktors durchkreuzen würde. Ich kenne ihn,« sagte der »Alte Soldat« mit einer Art stillen prophetischen Schmerzes, und fächelte sich, »und weiß, daß er eher dort sterben, als die Pläne des Doktors durchkreuzen wird.«

»Nun, nun, Ma'am,« sagte der Doktor heiter, »ich bin meinen Plänen ja gar nicht so blind ergeben, daß ich sie nicht selbst durchkreuzen könnte. Ich kann einige andere an ihre Stelle setzen. Wenn Mr. Jack Maldon krankheitshalber zurückkommt, so darf er natürlich nicht wieder hin, und wir müssen trachten, eine passendere und glücklichere Versorgung in der Heimat für ihn zu finden.«

Mrs. Markleham war von diesen edelmütigen Worten so überwältigt, – denn sie hatte diesen Erfolg gar nicht erwartet – daß sie zu dem Doktor nur sagen konnte, das sehe ihm ganz und gar ähnlich, und daß sie immer nur wieder die Stäbe ihres Fächers küssen und dann seine Hände damit patschen konnte. Sodann schalt sie zärtlich Ännie, daß diese sich nicht dankbarer zeige, wenn sich ihr zuliebe soviel Güte über ihren alten Spielkameraden ergieße, und unterhielt uns dann noch mit allerlei Einzelheiten über andere verdiente Mitglieder ihrer Familie, von denen es wünschenswert wäre, daß es ihnen nach Verdienst erginge.

Diese ganze Zeit über sprach ihre Tochter Ännie weder ein Wort, noch sah sie auf. Und diese Zeit über hielt Mr. Wickfield seinen Blick auf sie gerichtet, die neben seiner Tochter saß. Es schien mir, als ob ihm nicht einen Augenblick der Gedanke kam, er könne beobachtet werden, so ganz vertieft war er in den Anblick Ännies und in Gedanken, die sich auf sie bezogen. Endlich aber fragte er, was Jack Maldon eigentlich geschrieben und an wen er es geschrieben habe?

»O hier,« sagte Mrs. Markleham, vom Kaminsims über des Doktors Haupt einen Brief herunterlangend, »der liebe Mensch sagt es zum Doktor selbst – wo ist die Stelle – ach! hier: ›Ich bedaure, Sie benachrichtigen zu müssen, daß meine Gesundheit hier ernstlich leidet und daß ich fürchte, gezwungen zu sein, auf einige Zeit nach Hause zu kommen, wovon allein meine Wiederherstellung zu hoffen ist.‹ Das ist ziemlich deutlich, denke ich. ›Wovon allein meine Herstellung zu hoffen ist!‹ Aber noch deutlicher ist der Brief an Ännie. Ännie, zeige den Brief nochmals her!«

»Jetzt nicht, Mama«, wandte Ännie leise ein.

»Meine Liebe, du bist in einigen Punkten wirklich die lächerlichste Person von der Welt,« erwiderte ihre Mutter, »und vielleicht die unnatürlichste gegen die Ansprüche ihrer Familie. Wir hätten von dem Briefe, glaube ich, überhaupt nie etwas erfahren, wenn ich ihn nicht zu sehen verlangt hätte. Nennst du das Vertrauen gegen Doktor Strong, mein Herz? Ich bin erstaunt!«

Der Brief kam widerstrebend zum Vorschein, und als ich ihn der alten Dame überreichte, glaubte ich zu gewahren, daß die Hand, aus der ich ihn nahm, zitterte.

»Nun wollen wir sehen,« sagte Mrs. Markleham, ihr Augenglas vorhaltend, »wo die Stelle ist. ›Die Erinnerung an die alten Zeiten, liebste Ännie‹ usw. – das ist's nicht. ›Der liebenswürdige alte Proktor‹ – wer ist das? Ach, mein Gott, Ännie, wie unleserlich dein Vetter Maldon schreibt, und wie dumm von mir! ›Doktor‹ natürlich! Ach, in der Tat liebenswürdig!« Hier setzte sie ab, um abermals ihren Fächer zu küssen und ihn gegen den Doktor zu schwenken, der uns mit friedlich-stiller Genugtuung ansah. »Jetzt hab ich's! ›Du brauchst dich nicht zu wundern, liebe Ännie‹ – nein, wahrhaftig nicht, da du ja wußtest daß er nie kräftig war: was hatte ich soeben gesagt? – ›daß ich an diesem fernen Orte so viel durchgemacht habe, daß ich entschlossen bin, dieses Land auf alle Fälle zu verlassen; auf Krankenurlaub, wenn möglich, sonst, wenn ich den nicht erhalten kann, gegen Quittierung des Dienstes. Was ich ausgestanden habe und noch hier ausstehe, ist unerträglich.‹ Und wenn der beste aller Menschen nicht solche Hilfsbereitschaft zeigte,« sagte Mrs. Markleham wieder mit einem telegraphisch übermittelten Kuß, indem sie den Brief schloß, »wäre es mir unerträglich, auch nur daran zu denken.«

Mr. Wickfield sagte kein Wort, obwohl ihn die alte Dame herausfordernd ansah, und machte keine Miene, sich hierüber vernehmen zu lassen: er saß ernst und schweigsam da, die Augen auf den Fußboden geheftet. Längst nachdem dieses Thema abgetan war und andere Gesprächsstoffe uns beschäftigten, verweilte er noch so und erhob nur selten seine Blicke, außer um sie für einen Augenblick mit einem Stirnrunzeln auf Doktor Strong oder dessen Frau oder auf beiden ruhen zu lassen.

Der Doktor war ein großer Freund der Musik. Agnes sang mit großer Anmut und hohem Ausdruck, und Mrs. Strong gleichfalls. Sie sangen zusammen und spielten vierhändig, und es gab ein richtiges kleines Konzert. Aber ich beobachtete zweierlei: erstens, daß, obwohl Ännie ihre Fassung bald wieder gewann und ganz wieder die alte war, zwischen ihr und Mr. Wickfield gleichsam eine Mauer als Scheidewand war, zweitens aber, daß er die Vertraulichkeit zwischen Mrs. Strong und Agnes ungern zu sehen und mit Unbehagen zu betrachten schien. Und jetzt erst, ich muß es gestehen, erinnerte ich mich an das, was sich an dem Abende von Mr. Jack Maldons Abreise ereignet hatte, und es gewann eine Deutung, die es bisher für mich nicht gehabt hatte: die unschuldige Schönheit ihres Angesichts erschien mir nicht mehr so unschuldig, ich fing ihrer natürlichen Anmut und dem Zauber ihres Wesens zu mißtrauen an, und wenn ich Agnes neben ihr sah und daran dachte, wie gut und treu diese war, so stieg ein Argwohn in mir auf, ob das eine passende Freundschaft sei.

Beide waren so glücklich in dieser Freundschaft, daß der Abend verflog, als wäre er nur von der Dauer einer Stunde gewesen. Zuletzt ereignete sich noch etwas, was ich erwähnen will. Die beiden Damen nahmen soeben Abschied voneinander, und Agnes wollte Ännie eben umarmen und küssen, als Mr. Wickfield wie zufällig dazwischen trat und Agnes wegzog. Und da sah ich plötzlich wieder, als ob keine Zeit dazwischen läge, jenen Ausdruck in Ännies Gesicht, wie an jenem Abend der Abreise Jack Maldons, als sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.

Ich vermag es nicht zu sagen, was für einen Eindruck das auf mich machte, oder warum es mir, wenn ich nachmals ihrer gedachte, ganz unmöglich war, diesen Blick von ihrem Bilde fernzuhalten und ihrer wieder in der gewohnten unschuldigen Lieblichkeit zu gedenken. Es verfolgte mich auf dem Nachhausewege wie ein Spuk. Es kam mir vor, als brüte eine finstere Wolke über dem Heim des Doktors. Die Ehrfurcht, die ich vor seinem grauen Haupte hatte, war mit Mitleid gemischt, daß er denen so treu war, die ihn verrieten, und mit Groll gegen die, die ihm so großes Unrecht antaten. Der drohende Schatten eines großen Kummers und ein schlimmes Unglück, das noch nicht bestimmte Gestalt angenommen hatte, lagen wie ein häßlicher Fleck auf dem stillen Orte, wo ich als Knabe gelernt und gespielt hatte und beeinträchtigten ihn gar sehr. Ich konnte nicht mehr mit Vergnügen an die alten ernsten breitblättrigen Aloebäume denken, die ihre Blüte hundert Jahre in sich verschließen, nicht an den schmucken glatten Rasenplatz, noch an die steinernen Urnen, noch an des Doktors Auf- und Abschlendern in ihrer Nähe, noch an den traulichen Klang der Glocken der Kathedrale. Es war, als ob das stille Heiligtum meines Knabenalters vor meinen Augen verwüstet, dessen Frieden und Ehre den Winden zum Raube preisgegeben wurden wäre . . .

Aber mit dem Morgen kam der Abschied von dem alten Hause, das Agnes mit ihrem stillen Wirken erfüllte, und das beschäftigte ausreichend mein Gemüt. Freilich sollte ich wahrscheinlich bald wieder dahin zurückkehren, ich sollte noch manchmal, vielleicht noch oft, in meinem alten Zimmer schlafen, aber ich wohnte nicht mehr dort, und die alte Zeit war vorüber. Als ich meine Sachen einpackte, war mir's schwerer ums Herz, als ich Uriah Heep merken lassen wollte, der mir so dienstwillig half, daß ich lieblos genug war, zu glauben, er sei über meine Abreise sehr froh.

Ich verabschiedete mich von Agnes und ihrem Vater mit einem nicht besonders gelungenen Versuch, gefaßt zu erscheinen, und nahm meinen Platz auf dem Bock der Londoner Landkutsche ein. Ich war so weichherzig geworden, daß ich, als wir durch die Stadt fuhren, fast in Versuchung gekommen wäre, meinem alten Feind, dem Fleischerburschen, zuzunicken, und ihm ein Fünfschillingstück als Trinkgeld zuzuwerfen. Aber er sah so trotzig aus, wie er den großen Hauklotz im Laden rein schabte, und sein Aussehen hatte sich durch den Verlust eines Schneidezahns, den ich ihm ausgeschlagen hatte, so wenig gehoben, daß ich es für besser hielt, keine Aussöhnungsversuche zu machen.

Am meisten lag mir am Herzen, als wir erst draußen im Freien waren, dem Kutscher so alt wie möglich zu erscheinen, und in tiefem Baß zu sprechen. Das letztere gelang mir nicht ohne unangenehme Anstrengungen; aber ich setzte es durch, weil es sich so männlich ausnahm.

»Sie fahren die ganze Fahrt mit, Sir?« fragte der Kutscher.

»Ja, William,« sagte ich herablassend – ich kannte ihn –; »ich reise nach London. Und dann geh' ich nach Suffolk.«

»Auf die Jagd, Sir?« fragte er weiter.

Er wußte so gut wie ich, daß in dieser Jahreszeit von Jagd nicht die Rede sein und ich ebensogut auf den Walfischfang ausziehen konnte, aber ich fühlte mich doch geschmeichelt.

»Ich weiß nicht,« sagte ich, und stellte mich noch unentschlossen, »ob ich die Flinte einmal zur Hand nehme oder nicht.«

»Die Rebhühner halten jetzt nicht Stand, hieß es«, meinte William.

»Das hab' ich gehört«, sagte ich.

»Sie sind wohl aus Suffolk, Sir?«

»Ja,« erwiderte ich mit einiger Wichtigkeit, »ich bin aus Suffolk.«

»Die Apfelklöße sollen dort sehr schön sein«, sagte William.

Ich wußte es nicht, aber ich fühlte die Notwendigkeit, die Eigentümlichkeiten meiner Grafschaft aufrechtzuerhalten, und mich mit ihnen vertraut zu zeigen.

Ich nickte daher nur mit dem Kopf, als wollte ich sagen: »Das will ich meinen!«

»Und die Ponixe«, sagte William. »Das ist eine Lust! Ein Suffolker Pony, wenn's ein guter ist, ist sein Gewicht in Gold wert. Haben Sie selbst Ponixe gezüchtet, Sir?«

»Nein,« sagte ich, »das gerade nicht.«

»Hier der Herr hinter mir, will ich wetten,« rief Williams, »hat sie im großen gezüchtet.«

Der erwähnte Herr schielte häßlich, hatte ein vorstehendes Kinn, auf dem Kopfe einen hohen, weißen Hut mit schmalem Rande, und enganliegende, helle Hosen, die an der Seite von den Stiefeln auf bis an die Hüfte zugeknöpft waren. Er sah den Kutscher über die Schulter an und war mir so nah, daß ich seinen Atem dicht an meinem Kopfe fühlte, und als ich mich umdrehte, schielte er mit Kennermiene nach den Vorderpferden.

»Ist's nicht wahr?« sagte William.

»Was soll wahr sein?« fragte der Herr hinter mir.

»Haben Sie nicht Ponixe im großen gezüchtet?«

»Das soll ich meinen«, sagte der Herr. »Es gibt keine Rasse Pferde und keine Rasse Hunde, die ich nicht gezüchtet hätte. Pferde und Hunde sind nun einmal die Leidenschaft von manchen Leuten. Aber für mich sind sie Essen und Trinken – Wohnung, Weib und Kind – Lesen, Schreiben und Rechnen – Schnupftabak, Rauchtabak und Schlaf.«

»So ein Mann sollte nicht hinter dem Kutschbock sitzen, nicht wahr?« flüsterte mir William ins Ohr.

Ich legte diese Bemerkung als die Andeutung des Wunsches aus, ich möchte dem andern meinen Platz überlassen, wozu ich mich errötend anbot.

»Na, wenn's Ihnen nicht drauf ankommt,« sagte William, »ich glaube, so ist's richtiger,«

Ich habe dies immer als meine erste Niederlage im Leben betrachtet. Als ich mich im Bureau einschreiben ließ, wurde hinter meinen Namen: ›Sitz auf dem Kutschbock‹ gesetzt und ich hatte dem Buchhalter hierfür extra eine halbe Krone gegeben. Ich hatte einen besondern Überrock und Schal angezogen, um der auserlesenen Stelle Ehre zu machen, war sehr stolz darauf, und fühlte, daß ich dem Kutscher keine Schande machte. Und jetzt auf der ersten Station verdrängte mich ein schäbig aussehender, schielender Mann, der kein anderes Verdienst hatte, als daß er nach dem Stalle roch und älter und größer war als ich! Verdrängte mich, als ob ich eine Fliege und nicht einmal ein menschliches Wesen wäre!

Ein Mangel an Selbstvertrauen, der sich oft im Leben bei kleinen Veranlassungen an mir gezeigt hatte, wurde gewiß nicht durch diesen kleinen Vorfall vermindert. Vergeblich war es, mich hinter meine Baßstimme zu stecken. Die ganze übrige Reise sprach ich aus der Tiefe meines Magens heraus, aber ich fühlte mich trotzdem ganz vernichtet und entsetzlich jung.

Dennoch war es merkwürdig und interessant, als wohlgezogener, gutgekleideter und reichlich mit Geld versehener Jüngling da oben hinter den vier Pferden zu sitzen, und sich nach den Plätzen umzusehen, wo ich auf meiner mühseligen Reise gerastet hatte. Jedes auffällige Merkzeichen am Weg gab meinen Gedanken reichliche Nahrung. Als ich auf die Landstreicher herabblickte und die wohlbekannten Physiognomien dieser Klasse Menschen herausschauen sah, war mir's, als ob mich des Kesselflickers geschwärzte Hand wieder bei der Brust packte. Als wir durch die enge Straße von Chatham rasselten und ich im Vorbeifahren einen flüchtigen Blick auf das Gäßchen werfen konnte, wo ich meine Jacke verkauft hatte, spähte ich nach der Stelle, an der ich in der Sonne und im Schatten gesessen und gewartet hatte, bis ich von dem alten Goruungeheuer mein Geld erhielt. Als wir endlich die letzte Station vor London erreichten und an Salemhaus vorbeifuhren, wo Mr. Creakle so unbarmherzig den Stock führt, da hätte ich alle meine Habe für die gesetzliche Erlaubnis gegeben, hineinzugehen und ihn durchzuprügeln, und alle Knaben wie eingesperrte Spatzen herauszulassen.

Wir stiegen im Goldenen Kreuz in Charing Croß ab, das damals ein altes muffiges Haus in einer engen Gasse war. Ein Kellner wies mich in das Frühstückszimmer, und ein Stubenmädchen führte mich in ein kleines Schlafzimmer, das wie eine Landkutsche roch und düster wie eine Familiengruft war. Ich hatte immer noch ein peinigendes Bewußtsein meiner Jugend, denn niemand hatte Respekt vor mir; das Stubenmädchen nahm nicht die mindeste Notiz von meinen Meinungsäußerungen, und der Kellner war vertraulich gegen mich und bot sich meiner Unerfahrenheit als Ratgeber an.

»Na,« sagte der Kellner dummdreist, »was möchten Sie wohl essen? Junge Herren essen meistens gern Huhn – wollen Sie ein Huhn?«

Ich sagte ihm so majestätisch als mir möglich war, daß ich keinen Appetit zu Huhn hätte.

»Also nicht!« sagte der Kellner. »Junge Herren pflegen sich meistens in Rinder- und in Schöpsenbraten satt zu essen; wollen Sie Kalbkoteletts?«

Ich stimmte diesem Vorschlag bei, da ich nichts weiter vorzuschlagen wußte.

»Essen Sie gern Kartoffeln?« fragte der Kellner mit einschmeichelndem Lächeln. »Junge Herren machen sich in der Regel nichts aus Kartoffeln.«

Ich befahl ihm mit meiner tiefsten Stimme, Kalbskoteletts und Kartoffeln mit allem Zubehör zu bestellen, und beim Wirt zu fragen, ob Briefe für Trotwood Copperfield, Esquire, da wären – ich wußte recht gut, daß dies nicht der Fall sein konnte, es kam mir aber männlicher vor, wenn ich tat, als ob ich Briefe erwartete.

Er kehrte bald mit der Nachricht zurück, daß keine da wären – worüber ich mich sehr erstaunt stellte –, und fing an, in der Nähe des Kamins für mich den Tisch zu decken. Während er damit beschäftigt war, fragte er mich, was ich trinken wollte; und nahm, wie mir schien, die Gelegenheit wahr, da ich antwortete: »Eine halbe Flasche Sherry!« den Wein aus den abgestandenen Resten mehrerer Karaffen zusammenzugießen. Ich bin dieser Meinung, weil ich ihn während des Zeitungslesens, hinter einer Bretterwand, die sein Privatzimmer abschied, sehr eifrig die Reste aus mehreren Flaschen in eine einzige zusammengießen hörte, wie ein Apotheker, der ein Rezept verfertigt. Als der Wein auf den Tisch kam, schien er mir matt, und es waren jedenfalls mehr englische Krumen darin, als von einem vollkommen reinen, ausländischen Wein zu erwarten war; aber ich war blöde genug, ihn zu trinken und nichts zu sagen.

Da ich jetzt heiter gestimmt war – woraus ich schließe, daß Vergiften im Anfangsstadium nicht immer unangenehm ist –, beschloß ich ins Theater zu gehen. Ich wählte das Coventgarden-Theater und sah dort von einem nach hinten gelegenen Platz der Mittelloge aus Julius Cäsar und eine neue Pantomime. Alle die stolzen Römer lebendig vor mir zu sehen, wie sie zu meiner Unterhaltung auf der Bühne kamen und gingen, während sie mir in der Schule immer nur wie finstere Arbeitgeber erschienen waren, machte einen ganz neuen und ergreifenden Eindruck auf mich. Aber das Gemisch von Wirklichkeit und Märchenhaftigkeit, das die Bühne, der Eindruck, den die Poesie, der Kerzenglanz, die Musik, die Gesellschaft, der wunderbare Wechsel herrlicher Szenen auf mich machten, war so blendend und eröffnete mir eine so endlose Perspektive der Wonne, daß es mir vorkam, wie ich um zwölf Uhr nachts hinaus in die regenfeuchte Luft trat, als ob ich aus einer feenhaften Wolkenregion herab in eine schneiende, regenbespülte, fackelerhellte, sich mit Regenschirmen anrennende und um Fiaker zankende, schmutzige, elende Welt komme.

Ich war zu einer andern Tür hinausgegangen und blieb eine kleine Weile auf der Straße stehen, als ob ich wirklich fremd auf Erden wäre; aber die rücksichtslosen Rippenstöße, die ich im Gedränge empfing, brachten mich bald wieder zur Besinnung, und ich kehrte nach meinem Gasthof zurück, immer noch erfüllt von der glänzenden Vision. Sie verließ mich auch nicht, als ich bei Porter und Austern im Gastzimmer bis ein Uhr am Feuer saß.

Das Schauspiel und die Vergangenheit – denn es war wie ein glänzender Schleier, durch den mein früheres Leben durchschimmerte, – nahm mich so in Anspruch, daß ich nicht mehr weiß, wann ich die Gestalt eines schönen jungen Mannes zuerst bemerkte, dessen Kleidung die mir nur noch zu leicht erinnerliche, etwas nachlässige, aber geschmackvolle Eleganz verriet. Aber ich erinnere mich, daß ich ihn schon seit einiger Zeit sitzen sah, ohne sein Kommen bemerkt zu haben, indes ich noch nachdenklich vor dem Feuer brütete.

Endlich erhob ich mich, um zu Bette zu gehen, sehr zur Freude des schläfrigen Kellners, der mit den Füßen trippelte, als ob er einen Wadenkrampf bekommen hätte, und sie nicht eine Minute ruhig an einem Orte lassen konnte. Auf dem Weg nach der Tür ging ich an dem Fremden vorbei, und konnte ihn ordentlich sehen. Ich kehrte um und sah ihn nochmals an. Er erkannte mich nicht, aber ich erkannte ihn sogleich.

Zu andern Zeiten hätte mir das Selbstvertrauen oder die schnelle Entschlossenheit gefehlt, ihn anzureden, und ich hätte es vielleicht auf den nächsten Tag verschoben und so die Gelegenheit versäumt.

Aber in meiner augenblicklichen Gemütsverfassung, wo der Eindruck des Theaterstücks noch frisch war, gedachte ich seiner frühern schützenden Rolle mit Dankbarkeit, und meine alte Liebe zu ihm machte sich so mächtig Luft, daß ich mit klopfendem Herzen vor ihn trat und sagte:

»Steerforth! kennst du mich nicht?«

Er sah mich an – gerade wie er früher manchmal auszusehen pflegte – aber ich gewahrte kein Zeichen, daß er mich erkannte.

»Kennst du mich nicht mehr?« sagte ich. »Ach leider nicht!«

»Mein Gott!« rief er plötzlich aus. »Es ist der kleine Copperfield!«

Ich ergriff seine beiden Hände und konnte sie nicht loslassen. Hätte ich mich nicht geschämt und gefürchtet, sein Mißfallen zu erregen, so hätte ich ihm um den Hals fallen und weinen können.

»Nie, nie habe ich mich so sehr gefreut, lieber Steerforth! Es macht mir so unendliches Vergnügen, dich zu sehen!«

»Und mich freut es ebenso, dich zu sehen!« sagte er und schüttelte mir herzlich die Hand. »O, Copperfield, alter Knabe, fasse dich.« Und doch, glaube ich, freute er sich auch, daß mich die Freude, ihn wiederzusehen, so rührte.

Ich wischte die Tränen weg, die ich mit der größten Anstrengung nicht hatte zurückhalten können, und versuchte zu lachen, dann setzten wir uns nebeneinander an den Tisch.

»Aber wie kommst du hierher?« fragte Steerforth und schlug mich auf die Achsel.

»Ich bin heute mit der Canterburyeilkutsche hier angekommen. Eine Tante dort unten hat mich adoptiert, und ich bin eben frei von der Schule. Wie kamst du hierher, Steerforth?«

»Nun, ich bin, wie man so sagt, Student in Oxford,« erwiderte er; »das heißt, ich muß mich dort alle halbe Jahre ein paar Monate langweilen – und ich bin jetzt auf dem Wege zu meiner Mutter. Du siehst verwünscht hübsch aus, Copperfield. Gerade wie früher, wenn ich dich jetzt ordentlich ansehe! Nicht im mindesten verändert!«

»Ich erkannte dich gleich,« sagte ich; »aber dich vergißt man auch nicht leicht.«

Er lachte, während er mit der Hand durch sein reichgelocktes Haar fuhr, und sagte heiter:

»Ja, ich bin auf einer Pflichtreise begriffen. Meine Mutter wohnt eine kleine Strecke vor der Stadt, und da der Weg jetzt ganz abscheulich und es zu Hause bei mir ziemlich langweilig ist, so beschloß ich, lieber für die Nacht hier zu bleiben. Ich bin kaum sechs Stunden in der Stadt und habe mich die Zeit über im Theater gelangweilt.«

»Ich war auch im Theater«, sagte ich. »Im Coventgarden. Welch' schöne und herrliche Unterhaltung, Steerforth!«

Steerforth lachte herzlich.

»Mein lieber junger Davy,« sagte er, und schlug mich wieder freundschaftlich auf die Achsel, »wie grün du noch bist; du bist ein wahres Blümchen. Das Blümchen auf dem Felde bei Sonnenaufgang ist nicht grüner als du! Du unschuldiges Veilchen! Ich war auch im Coventgarden, und habe nie etwas Jämmerlicheres gesehen. – Heda, Kellner!«

Der Kellner, der unserer Erkennungsszene von weitem sehr ernsthaft zugesehen hatte, trat jetzt sehr ehrerbietig heran.

»Wo haben Sie meinen Freund Mr. Copperfield hingesteckt??« fragte Steerforth.

»Ich bitte um Verzeihung, wie meinen Sie?«

»Wo schläft er? Welche Nummer hat er? Sie verstehen mich«, sagte Steerforth.

»Hm, Sir«, machte der Kellner mit der Miene eines Mannes, der um Verzeihung bittet. »Mr. Copperfield wohnt jetzt in Nr. 44.«

»Und was zum Teufel soll es heißen,« fuhr ihn Steerforth an, »daß Sie mir Mr. Copperfield in so ein kleines Loch über dem Stall stecken?«

»Ja, sehen Sie, wir wußten nicht, daß sich Mr. Copperfield viel daraus machte«, sagte der Kellner immer noch sehr bescheiden. »Aber Mr. Copperfield kann Nr. 72 bekommen, wenn es gewünscht wird. Neben Ihnen, Sir.«

»Natürlich wird es gewünscht«, sagte Steerforth. »Und gleich.«

Der Kellner entfernte sich spornstreichs, um die nötigen Vorkehrungen zu treffen. Steerforth, dem es viel Spaß machte, daß sie mich in Nr. 44 gesteckt hatten, lachte wieder, klopfte mich abermals auf die Schulter, und lud mich zum Frühstück nächsten Morgen um zehn ein – eine Einladung, die ich mit Stolz und Freude annahm. Da es jetzt ziemlich spät war, nahmen wir unsere Lichter und gingen hinauf, wo wir uns an seiner Tür mit großer Herzlichkeit trennten, und wo ich ein neues Zimmer fand, viel schöner als mein erstes, denn es war nicht nur nicht dumpfig, sondern hatte auch ein ungeheures Himmelbett, das ein wahres kleines Landgut war. Hier, in Kissen, die für sechs Personen genügten, schlief ich bald ein und träumte vom alten Rom, von Steerforth und Freundschaft, bis mich frühmorgens die aus dem Torweg rasselnden Landkutschen vom Donner und den Göttern träumen ließen.


Zwanzigstes Kapitel.

Steerforth daheim.

Als das Stubenmädchen früh um acht Uhr an meine Tür klopfte und mir anzeigte, daß draußen Rasierwasser für mich stehe, fühlte ich es schmerzlich, daß ich dessen nicht bedurfte, und errötete im Bett darüber. Der Argwohn, das Mädchen habe gelacht, als sie es sagte, quälte mich die ganze Zeit über, als ich mich anzog, und gab mir ein scheues, schuldbewußtes Aussehen, als ich auf dem Weg zum Frühstückszimmer dem Mädchen auf der Treppe begegnete. So empfindlich war mir das Gefühl, jünger zu sein, als ich wünschte, daß ich mich eine Zeitlang gar nicht entschließen konnte, unter den obwaltenden, demütigenden Umständen an ihr vorbeizugehen, sondern, wie ich sie unten den Besen führen hörte, an einem Fenster stehen blieb, und die Reiterstatue König Karls betrachtete, die von einem Labyrinth von Fiakern umgeben war und in dem feinen Regen und dunkelbraunen Nebel nichts weniger als königlich aussah, bis mich der Kellner benachrichtigte, daß der Herr mit dem Frühstück auf mich warte. [...]"

Besuch der Kindheitsorte in Suffolk

Nach seinem erfolgreichen Schulabschluss erlaubt Tante Betsey dem 17-Jährigen, für einige Monate auf Reisen in seine alte Heimat in Suffolk zu gehen, um eigene Verantwortung zu üben und sich Gedanken über seinen Beruf zu machen. Zugleich ist dies der Abschluss seiner ersten Lebensphase. Über Canterbury fährt er mit der Landkutsche nach London und steigt im „Goldenen Kreuz“ in Charingcross ab, wo er zufällig seinen alten Schulfreund Steerforth, der jetzt in Oxford studiert, trifft. Dieser lädt ihn für ein paar Tage in das Haus seiner Mutter in Highgate ein. Danach begleitet er David, den er wegen seines jugendlichen Aussehens „Blümchen“ nennt, nach Yarmouth, denn er ist auf die Gesellschaftsklasse der einfachen Leute am Meer neugierig. David besucht am Reiseziel seine alten Kindheitsorte und Bekannte, v. a. Peggotty-Barkis und die Familie ihres Bruders Dan, wo gerade die sich zur Schönheit entwickelte Emily, Putzmacherin bei Omer und Joram, nach langer Bedenkzeit der Werbung ihres Cousins Ham, inzwischen tüchtiger Schiffszimmermann, nachgegeben und sich mit ihm verlobt hat (Kp. 21). Während David sich darüber sehr freut, gibt Steerforth zu bedenken, Ham sei „ein etwas dickköpfiger Bursche“ für „ein allerliebstes Mädchen“. Der elegante snobistische Großbürger Steerforth zeigt sich den Freunden Davids und den Fischern im Wirtshaus gegenüber sehr leutselig und gewinnt dadurch ihre Sympathie, offenbar auch die Emilys. Er bekennt dem Freund, es sei ordentlich ein neues Gefühl, mit diesen kuriosen Leuten umzugehen. In einem seiner wenigen nachdenklichen Augenblicke gewährt er David einen Einblick in seine Doppelnatur. Niedergeschlagen wünscht er, er könnte sich besser beherrschen (Kp. 22). Eine Vorausdeutung für die kommende Entwicklung (Kp. 47) ist neben dem Auftauchen Martha Endells, die in einen schlechten Ruf geraten ist und nach London zieht, auch Steerforths Kauf eines Bootes, das er „Kleine Emily“ nennen will. Später zeigt sich Emilys Veränderung Ham gegenüber auch an ihrer Selbstkritik, ihr Bräutigam habe eine andere Frau verdient, die seiner würdig wäre, die ihm ganz anhinge, die niemals eitel und veränderlich wäre wie sie.

Anwaltslehre in London und Verlobung mit Dora (Kp. 23–42)

Mit Kp. 23 beginnt für David ein neuer Lebensabschnitt. Auf Anraten seiner Tante beginnt David eine Rechtsanwalt-Ausbildung in der Kanzlei Spenlow und Jorkins bei der Doctors’ Commons-Juristenvereinigung in London und mietet eine kleine möblierte Wohnung in der Buckinghamstraße in Adelphi (Kp. 23). Verschiedene aus früheren Episoden her bekannte Romanfiguren tauchen wieder auf und werden im Handlungsgeflecht in neuen Konstellationen miteinander verbunden: Agnes, Wickfield und Uriah Heep, Mr. Peggotty, Emily und Steerforth, Traddles und die Micawbers. Im Wesentlichen entwickeln sich in dieser Lebensphase Davids vier miteinander abwechselnde Handlungsstränge:

Uriah Heeps Aufstieg zum Teilhaber Wickfields

Im Haus des Rechtsanwalts Waterbrook trifft David Agnes (Kp. 25) und Uriah Heep. Mit Agnes und Uriah, die beide für kurze Zeit zum Besuch oder wegen geschäftlicher Angelegenheiten in der Stadt wohnen, verlagert sich der Schwerpunkt der Handlung auf den zum Teilhaber aufgestiegenen Angestellten des altersschwachen und alkoholabhängigen Wickfield. Angeblich hat Uriah Unregelmäßigkeiten bei seinem Chef entdeckt und verspricht, ihn zu retten und seinen guten Ruf zu bewahren. Uriah will David in sein Geflecht einspinnen, indem er ihm vertraulich erzählt, er liebe Agnes und wolle sich als Stütze Wickfields ihre Sympathie erwerben. David vermutet eine Erpressung, um Chef der Kanzlei und Schwiegersohn zu werden, steht aber der Strategie Uriahs hilflos gegenüber. Er fürchtet, dass durch die Mitteilung seiner Befürchtungen Agnes verunsichert wird, und hofft auf das Gespür und die Widerstandskraft der Freundin. Bei seinem Besuch in Canterbury kann sich David selbst davon überzeugen, wie sich Uriah mit seiner Mutter in Wickfields Haus eingenistet und die Geschäfte übernommen hat. Da er David trotz seiner Verlobung als Nebenbuhler ansieht, weil er ahnt, dass dieser das Mädchen mehr liebt als eine Schwester, und die enge Verbundenheit der beiden beobachtet, wagt er den nächsten Schritt und spricht seine Absichten offen aus. Aber er stößt auf Widerstand: David zeigt seine Abneigung gegen Uriah und macht ihn auf den Niveauunterschied zu Agnes aufmerksam. 

Wickfield reagiert mit einem Zornausbruch und beklagt seine Entmündigung durch den Kompagnon. Dieser erkennt, dass er vorschnell gehandelt hat, entschuldigt sich, erklärt aber David, dass er sein Ziel weiter verfolgen werde. Deutlich spricht er auch die Strategie seiner durch die Eltern anerzogenen Demut aus: Mit gespielter unterwürfiger Haltung und Schmeichelei täuscht er die Menschen und gewinnt Macht über sie (Kp. 39). Er warnt, niemand dürfe ihm in den Weg treten (Kp. 41). Diese Offenbarungen David gegenüber mischt Uriah mit der gespielten Bekundung seiner Bewunderung und Freundschaft, obwohl dieser immer mehr seine Abneigung zeigt und ihm sogar einmal im Zorn ins Gesicht schlägt (Kp. 42). Dies geschieht, als er ihn in eine seiner Intrigen hineinzieht: Heep verleumdet Annie Strong, eine Beziehung zu ihrem Cousin Jack Maldon zu haben, und beruft sich auch auf Befürchtungen Wickfields und angebliche Beobachtungen Copperfields. So versucht Uriah Wickfields Umfeld zu stören. Dr. Strong nimmt jedoch Annie in Schutz und sieht die Schuld allein bei sich, denn er habe seine junge Frau aus Verbundenheit mit ihrem toten Vater in eine Ehe gedrängt, die ihre jugendlichen Bedürfnisse nicht erfülle. Er verpflichtet alle zum Schweigen und holt seine muntere Schwiegermutter ins Haus, damit Annie mehr Unterhaltung hat. David beobachtet in der folgenden Zeit die veränderte Stimmung im Haus und die Traurigkeit Annies. Mr. Dick spürt dies ebenfalls und führt eine offene Aussprache der Eheleute herbei, in der Annie ihre Integrität demonstriert und erklärt, wie ihr Cousin den Einfluss ihres Mannes genutzt hat, um Anstellungen zu finden, anstatt sie aus eigener Kraft zu erreichen, und wie er sie zu einer Beziehung überreden wollte und wie sie ihn zurückwies (Kp. 45).

Micawbers alte und neue Geschäfte

Tommy Traddles, der in Wickfields Büro durch Schreibarbeiten etwas Geld für seine Advokaten-Ausbildung verdient, lädt David in seine Wohnung in Camdentown ein. Seine Nachbarn sind die Micawbers. Mr. Micawber versucht sich inzwischen im Kommissionshandel für Getreide und ist wieder in finanziellen Schwierigkeiten, zumal sich die Familie vergrößert. Davids Warnung an Tommy, Micawber Geld zu leihen, kommt zu spät, denn er hat ihm bereits seine Rücklagen für sein Studium gegeben und dafür einen nicht gedeckten Wechsel erhalten (Kp. 28). Aus Mitleid mit Mrs. Micawber tauscht Traddles jedoch noch einen zweiten Wechsel ein und verliert nicht nur sein Geld, sondern auch seine Möbel, mit denen er gebürgt hat. Nachdem er wieder etwas Geld verdient hat, bittet er David und Peggotty, für ihn einen Tisch und den Blumentopf seiner Verlobten Sophie vom Händler zurückzukaufen (Kp. 34). Micawber hält sich zuerst unter dem Namen Mortimer versteckt, arrangiert sich dann mit seinen Gläubigern, z. B. Traddles, durch neue Schuldscheine und Versprechungen auf erfolgreiche Unternehmungen, unterstützt von seiner von der Genialität ihres Mannes überzeugten Frau. Ihre unrealistischen Aufstiegshoffnungen in höchste Staatsämter gründen sich auf seine Anstellung als Schreiber bei Uriah Heep in Canterbury (Kp. 36).

35. Kapitel

[...] Meine Tante empfand stilles Vergnügen und verstellte sich dabei sehr wenig, wenn überhaupt; sie trank das warme Ale mit einem Teelöffel und tunkte die Schnitte Toast hinein.

»Trot,« sagte sie, »im ganzen mache ich mir aus fremden Gesichtern nichts, aber ich möchte deine Barkis fast leiden können!«

»Das zu hören ist mir lieber als hundert Pfund!« sagte ich.

»Es ist doch eine seltsame Welt,« bemerkte meine Tante und rieb sich die Nase; »wie dieses Weib jemals mit diesem Namen in die Welt gekommen ist, ist mir unerklärlich. Es wäre doch viel leichter, als eine Jackson oder etwas ähnliches geboren zu werden, sollte man meinen.«

»Vielleicht meint sie das auch; es ist nicht ihr Fehler«, sagte ich.

»Freilich wohl,« entgegnete meine Tante, »aber es ist doch schlimm. Wenigstens heißt sie jetzt Barkis. Das ist ein kleiner Trost. Barkis hat dich recht sehr lieb, Trot.«

»Sie würde alles tun, um es zu beweisen«, sagte ich.

»Alles, glaube ich«, entgegnete meine Tante. »Da hat das arme Närrchen mich gebeten und angefleht, etwas von ihrem Gelde anzunehmen – weil sie zuviel hat! Die Närrin!« Dabei rannen meiner Tante die Freudentränen in das warme Ale.

»Sie ist das lächerlichste Wesen, das jemals geboren wurde«, sagte meine Tante. »Vom ersten Augenblick an, wo ich sie bei meinem armen guten Kinde, deiner Mutter, sah, wußte ich, daß sie die allerlächerlichste Person auf der Welt war. Aber die Barkis hat ihre guten Seiten!«

Sie stellte sich, als ob sie lachte, und benutzte die Gelegenheit, um mit der Hand nach den Augen zu fahren. Alsdann begann sie wieder mit ihrem Toast und ihrer Rede zugleich.

»Ach du meine Güte!« seufzte meine Tante. »Ich weiß alles, Trot! Während du mit Dick fort warst, habe ich mit Barkis ein langes Gespräch gehabt. Ich weiß alles. Ich weiß nicht, wo diese unglücklichen Mädchen eigentlich hinaus wollen. Es wundert mich nur, daß sie sich nicht den Kopf einrennen an – an Kaminsimsen«, sagte meine Tante – ein Gedanke, der ihr wahrscheinlich einfiel, weil sie den bei mir betrachtete.

»Arme Emilie!« sagte ich.

»O sprich mir nicht von arm«, entgegnete meine Tante. »Sie hätte daran denken sollen, ehe sie so viel Unheil anrichtete! Gib mir einen Kuß, Trot. Ich bedaure dich, daß du so frühzeitig so traurige Erfahrungen machen mußtest.«

Als ich mich zu ihr hinbeugte, setzte sie ihr Glas auf mein Knie, um mich bei sich zu behalten, und sagte:

»O Trot, Trot! Du bildest dir also ein, du wärst verliebt! Also wirklich!«

»Einbilden, Tante!« rief ich aus mit feuerrotem Gesichte. »Ich bete sie mit ganzer Seele an!«

»Dora, hm, hm!« entgegnete meine Tante. »Und du willst behaupten, das kleine Ding sei ganz reizend.«

»Liebe Tante,« entgegnete ich, »niemand kann sich den geringsten Begriff von dem machen, was sie wirklich ist.«

»Ach! Und kein Gänschen?« fragte meine Tante.

»Gänschen, Tante!«

Ich glaube ernstlich, es war mir nie eingefallen, mich zu fragen, ob sie das sei oder nicht. Der Gedanke verletzte mich natürlich; aber dennoch machte er durch seine Neuheit einigen Eindruck auf mich.

»Nicht oberflächlich?« sagte meine Tante.

»Oberflächlich, Tante!«

Ich konnte diese kühne Behauptung nur mit demselben Gefühl wiederholen, mit dem ich die vorhergegangene Frage wiederholt hatte.

»Gut, gut«, sagte meine Tante. »Ich frage ja nur. Ich will sie nicht herabsetzen. Ihr armen Leutchen! Und ihr glaubt also, ihr wäret füreinander geschaffen, und wollt ein Leben miteinander führen, wie zwei hübsche kleine Zuckerpüppchen, nicht wahr, Trot?«

Sie war bei dieser Äußerung so freundlich und fragte mit einer so sanften, halb scherzenden, halb bekümmerten Miene, daß ich mich ordentlich gerührt fühlte.

»Ich weiß wohl, liebe Tante, wir sind jung und unerfahren,« gab ich ihr zur Antwort, »und ich glaube wohl, wir sagen und denken vieles, was kindisch genug ist. Aber wir lieben uns wahrhaft, das weiß ich auch. Wenn ich denken könnte, daß Dora je einen andern lieben oder aufhören könnte mich zu lieben; oder daß ich eine andere liebte oder sie zu lieben aufhörte, so weiß ich nicht, was ich tun würde – ich glaube, ich würde wahnsinnig.«

»Ach Trot!« sagte meine Tante und schüttelte mit schwermütigem Lächeln den Kopf; »blind, blind, blind!«

»Jemand, den ich kenne, Trot,« fuhr meine Tante nach einer Pause fort, »besitzt bei einem fügsamen Charakter eine Tiefe des Gemüts, die mich an das arme Kind erinnert. Nach Gemütstiefe muß sich dieser jemand umsehen, damit sie ihn aufrechterhalte und bessere. Wirkliche, echte Gemütstiefe.«

»Wenn du nur Doras Gemüt kenntest, Tante«, sagte ich.

»O Trot!« wiederholte sie; »blind, blind!« und ohne zu wissen, warum, fühlte ich ein dunkles Gefühl des Mangels an etwas, das mich wie eine Wolke überschattete.

»Doch, ich will nicht etwa zwei junge Geschöpfe auseinanderbringen oder unglücklich machen,« sagte meine Tante; »und obgleich es eine Knaben- und Mädchenliebe ist, und aus Knaben- oder Mädchenliebschaften sehr oft – ich sage nicht, immer – nichts wird, so wollen wir doch ernsthaft davon sprechen und hoffen, daß sie seinerzeit einen glücklichen Ausgang nehmen wird. Wir haben Zeit genug vor uns zum Warten!«

Das war für einen leidenschaftlich Liebenden nicht allzu tröstlich; aber es freute mich, daß ich meine Tante ins Vertrauen gezogen hatte, und ich bedachte, daß sie müde war.

So bedankte ich mich denn bei ihr innig für diesen Beweis ihrer Liebe und für alles andere Gute, was sie an mir getan, und nach einem zärtlichen ›Gute Nacht!‹ nahm sie ihre Nachthaube und ging in mein Schlafzimmer.

Wie unglücklich ich mich fühlte, als ich mich hinlegte! Wie ich immer und immer wieder daran dachte, daß mich Mr. Spenlow als armen Menschen betrachten würde: daß ich nicht mehr derselbe war wie damals, wo ich mich mit Dora verlobte: daß ich als Ehrenmann verpflichtet war, Dora zu sagen, wie es sich mit mir verändert hatte, und ihr Wort ihr zurückzugeben. Dazu kamen noch Gedanken, wie ich während meiner Lehrzeit, wo ich nichts verdiente, leben sollte: wie ich etwas für meine Tante tun mußte, und doch nichts entdecken konnte: wie ich zuletzt soweit herunterkommen würde, daß ich kein Geld mehr in der Tasche hätte und einen schäbigen Rock tragen müßte, und Dora keine kleinen Geschenke mehr bringen und auf keinem wackern Grauschimmel mehr reiten konnte!

Obwohl ich wußte, daß es schmutzig und selbstsüchtig war, mich so ganz nur mit meiner Person und meinem Kummer zu beschäftigen, und der Gedanke mich quälte, daß ich das recht gut wußte, so konnte ich es doch nicht ändern – ich liebte Dora zu sehr. Ich wußte, daß es niedrig von mir war, mehr an mich als an meine Tante zu denken, aber Dora machte mich insofern unvermeidlich selbstsüchtig, als ich Dora ganz unmöglich gegen irgend ein anderes irdisches Wesen zurückstellen konnte. O wie elend fühlte ich mich doch in dieser Nacht!

Im Schlafe träumte ich von Armut in allen möglichen Gestalten; aber es war fast, als ob ich träumte, ohne vorerst in Schlaf zu versinken. Jetzt befand ich mich in Lumpen und wollte an Dora Streichhölzchen verkaufen, sechs Päckchen für einen halben Penny. Dann befand ich mich auf dem Amte im Nachtkleid und in hohen Stiefeln, und Mr. Spenlow machte mir Vorstellungen darüber, daß ich vor den Klienten in so luftigem Gewande erschien; jetzt hob ich gierig die Krümchen auf, die von des alten Tiffey täglichem Zwieback zur Erde fielen, den er regelmäßig aß, wenn es von St. Paul eins schlug, dann machte ich hoffnungslose Versuche, einen Heiratskonsens mit Dora zu erhalten, und hatte als Gegenleistung nichts als einen von Uriah Heeps Handschuhen anzubieten, der von den ganzen Commons mit Hohn zurückgewiesen wurde: und mir selbst halb und halb bewußt, in meinem eignen Zimmer zu sein, wälzte ich mich umher, wie ein Schiff in Not, auf einem Meer von Bettlaken.

Auch meine Tante war unruhig, denn ich hörte sie mehrere Male im Zimmer auf und ab gehen. Zwei- oder dreimal kam sie, in einen langen Flanellrock gekleidet, in dem sie sieben Fuß hoch aussah, wie eine Spukgestalt in mein Zimmer und trat an mein Sofa. Das erstemal sprang ich erschrocken auf und erfuhr von ihr, daß sie aus einem eigentümlichen hellen Scheine am Himmel schloß, die Westminsterabtei stehe in Flammen, und wissen wollte, ob bei verändertem Winde das Feuer wohl die Buckinghamstraße ergreifen könnte. Die beiden andern Male blieb ich still liegen, aber da setzte sie sich auf einen Stuhl in meiner Nähe und sagte leise vor sich hin: »Das arme Kind!« und dann fühlte ich mich zwanzigmal unglücklicher durch das Bewußtsein, wie uneigennützig sie und wie eigensüchtig ich an mich dachte.

Es war mir schwer zu glauben, daß eine Nacht, die für mich so lang war, für irgend jemand kurz sein könne, und diese Betrachtung veranlaßte mich wieder und wieder, mir eine Gesellschaft vorzustellen, in der die Menschen die Stunden mit Tanzen verbrachten, bis auch daraus ein Traum wurde, und ich die Musik unaufhörlich dieselbe Melodie spielen hörte und Dora ununterbrochen denselben Tanz tanzen sah, ohne daß sie von mir die geringste Notiz nahm. Der Mann, der die ganze Nacht die Harfe gespielt hatte, versuchte vergeblich, sie mit einer Nachtmütze von gewöhnlicher Größe zu bedecken; dann erwachte ich, oder eigentlich, ich gab den Versuch einzuschlafen auf und sah die Sonne endlich durch mein Fenster in das Zimmer scheinen.

Zu jenen Zeiten war noch am Ende in einer der Nebenstraßen, die in den Strand ausmünden, ein kaltes Bad (und vielleicht besteht es noch), wohinein ich manchen kühlen Sprung getan habe. Ich zog mich so still wie möglich an, überließ Peggotty die Sorge für meine Tante, machte einen Kopfsprung in das Bad, um alsdann einen Spaziergang nach Hampstead zu machen. Ich hoffte, daß mir diese frische Kur den Kopf etwas aufhellen würde; und ich glaube auch, daß dies die Folge war, denn ich kam bald zu dem Entschluß, daß mein erster Schritt ein Versuch sein müßte, zu sehen, ob mein Lehrkontrakt aufgehoben und das Lehrgeld wieder zurückgezahlt werden könnte. Ich ließ mir in einer Wirtschaft auf der Heide Frühstück geben und ging auf den taubenetzten Wegen und umgeben von einem angenehmen Duft von Sommerblumen, die in den Gärten wuchsen oder in die Stadt getragen wurden, nach dem Bureau zurück, um hier den ersten Versuch zu machen, uns nach unsern veränderten Umständen einzurichten.

Ich kam so früh, daß ich noch eine halbe Stunde vor dem Bureau auf und ab gehen konnte, ehe der alte Tifey, der immer der erste war, mit dem Schlüssel kam. Dann setzte ich mich in meinen schattigen Winkel, betrachtete das Sonnenlicht an den Essen gegenüber und dachte an Dora, bis Mr. Spenlow frisch und schmuck wie immer hereintrat.

»Wie geht's, Copperfield?« fragte er. »Ein schöner Morgen!«

»Ein schöner Morgen, Sir«, entgegnete ich. »Könnte ich ein paar Worte mit Ihnen sprechen, ehe Sie zu Gericht gehen?«

»Warum nicht?« sagte er. »Kommen Sie in mein Zimmer.«

Ich folgte ihm in sein Zimmer, wo er seinen Talar anzog und sich vor einem kleinen Spiegel auf der innern Seite einer Schranktür zurechtstutzte.

»Es tut mir sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen,« sagte ich, »daß ich einigermaßen unangenehme Nachrichten von meiner Tante erhalten habe.«

»O!« sagte er. »Doch kein Schlaganfall, hoffe ich?«

»Sie haben auf ihre Gesundheit keinen Bezug, Sir«, erwiderte ich. »Sie hat große Verluste erlitten. Die Wahrheit ist, daß ihr sehr wenig übrig bleibt.«

»Sie setzen mich in Erstaunen, Copperfield«, rief Mr. Spenlow.

Ich schüttelte traurig den Kopf.

»Ihre Verhältnisse«, sagte ich, »sind so gänzlich verändert, daß ich Sie fragen möchte, ob es möglich wäre, – natürlich mit Aufopferung eines Teiles des Lehrgeldes« – das setzte ich aus freien Stücken hinzu, veranlaßt durch den Anblick seines langen Gesichts – »meinen Lehrkontrakt rückgängig zu machen.«

Niemand kann sich denken, was mich dieser Vorschlag kostete. Es war so gut wie eine Bitte, aus Gnade zur Verbannung von Dora verurteilt zu werden.

»Ihren Lehrkontrakt rückgängig zu machen, Copperfield? Rückgängig machen?« wiederholte er.

Ich setzte ihm mit ziemlicher Festigkeit auseinander, daß ich in der Tat nicht wüßte, wo ich meine Subsistenzmittel hernehmen sollte, wenn ich sie nicht selbst verdiente. Ich hegte keine Besorgnis wegen der Zukunft, sagte ich – und ich legte darauf großen Nachdruck, als ob ich andeuten wollte, daß ich seinerzeit immer noch zu einem Schwiegersohn passen würde – aber für jetzt sei ich auf meine eigenen Mittel angewiesen.

»Es tut mir außerordentlich leid, das zu hören, Copperfield«, sagte Mr. Spenlow. »Es tut mir außerordentlich leid. Es ist nicht Sitte, aus einem solchen Grunde Lehrkontrakte rückgängig zu machen. Es ist kein Geschäftsbrauch. Es würde auch ein unerwünschter Präzedenzfall sein. Durchaus! Aber doch –«

»Sie sind sehr gütig, Sir«, murmelte ich, in Voraussicht eines Zugeständnisses.

»O ich bitte Sie«, sagte Mr. Spenlow. »Aber doch, wollte ich sagen, wenn es mir vergönnt wäre, freie Hände zu haben – wenn ich nicht einen Associé hätte – Mr. Jorkins –«

Meine Hoffnungen waren in einem Augenblick vernichtet, aber ich machte dennoch einen Versuch.

»Meinen Sie wohl, Sir,« sagte ich, »wenn ich mit Mr. Jorkins spräche –«

Mr. Spenlow schüttelte entmutigend den Kopf. »Gott verhüte, Copperfield,« antwortete er, »daß ich jemand unrecht tun sollte, am allerwenigsten Mr. Jorkins. Aber ich kenne meinen Associé, Copperfield. Mr. Jorkins ist nicht der Mann, der auf einen Vorschlag dieser eigentümlichen Art eingehen würde. Mr. Jorkins ist sehr schwer von dem gewohnten Wege abzubringen. Sie wissen ja, wie er ist.«

Ich wußte gar nichts von ihm, außer daß er ursprünglich allein im Geschäft gewesen war und jetzt in einem sehr alt aussehenden Hause nicht weit von Montague-Square wohnte; daß er sehr spät ins Geschäft kam und sehr frühzeitig wegging; daß ihn niemals jemand zu Rate zu ziehen schien, und daß er eine Treppe höher eine kleine finstere Stube für sich hatte, wo nie Geschäfte verrichtet wurden, und wo auf dem Pulte eine alte Papiermappe lag, unbefleckt von Tinte und einem Gerüchte nach zwanzig Jahre alt.

»Würden Sie etwas dagegen haben, wenn ich mit ihm davon spräche, Sir?« fragte ich.

»Durchaus nicht«, sagte Mr. Spenlow. »Aber ich kenne Mr. Jorkins einigermaßen, Copperfield. Ich wollte, es wäre anders, denn ich würde mich glücklich schätzen, Ihren Wünschen entsprechen zu können. Ich habe nicht das mindeste dagegen, daß Sie mit Mr. Jorkins darüber sprechen, Copperfield, wenn Sie es der Mühe für wert halten.«

Entschlossen, diese Erlaubnis zu benutzen, die er mir mit einem warmen Händedruck gab, setzte ich mich wieder hin und dachte an Dora und sah dem Sonnenschein zu, wie er von den Essen herab auf die Mauer des gegenüberliegenden Hauses glitt, bis Mr. Jorkins kam. Dann verfügte ich mich in sein Zimmer und überraschte offenbar Mr. Jorkins durch mein Erscheinen.

»Nur herein, Mr. Copperfield«, sagte Mr. Jorkins. »Nur herein.«

Ich trat ein und setzte mich und brachte mein Anliegen Mr. Jorkins ziemlich in denselben Worten wie Mr. Spenlow vor. Mr. Jorkins war gar nicht der schreckliche Mensch, den man hätte erwarten sollen, sondern ein großer, starker Mann von sechzig Jahren mit einem sanften Gesicht, der so viel Schnupftabak nahm, daß in den Commons eine Sage ging, er lebe hauptsächlich von diesem Reizmittel, da er für einen andern Nahrungsstoff in seinem Körper wenig Platz habe.

»Sie haben darüber wahrscheinlich schon mit Mr. Spenlow gesprochen«, fragte Mr. Jorkins, als er mich sehr unruhig zu Ende gehört hatte.

Ich gab eine bejahende Antwort und sagte ihm, daß Mr. Spenlow seinen Namen genannt hätte.

»Er sagte, ich würde Einwendungen erheben?« fragte Mr. Jorkins.

Ich mußte zugeben, daß Mr. Spenlow dies für wahrscheinlich gehalten hatte.

»Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, Mr. Copperfield, daß ich Ihren Wunsch nicht erfüllen kann«, sagte Mr. Jorkins verlegen. »Ich muß Ihnen nur sagen – aber ich habe eine Bestellung auf der Bank, und Sie werden gewiß die Güte haben, mich zu entschuldigen.«

Damit stand er in großer Eile auf und wollte das Zimmer verlassen, als ich noch einmal äußerte, daß sich also leider wohl die Sache nicht arrangieren lasse.

»Nein«, sagte Mr. Jorkins und blieb in der Tür stehen, um den Kopf zu schütteln. »Nein! Ich erhebe Einwand dagegen«, sagte er rasch und ging hinaus. »Sie müssen bedenken, Mr. Copperfield,« setzte er wieder hinzu und sah wieder zur Tür herein, »wenn Mr. Spenlow Einwendungen erhebt –«

»Persönlich machte er keine Einwendungen«, sagte ich.

»O! persönlich!« wiederholte Mr. Jorkins ungeduldig. »Ich versichere Ihnen, es sind Einwendungen da, Mr. Copperfield. Die Sache ist hoffnungslos. Was Sie wünschen, kann nicht geschehen. Ich – ich habe wirklich eine Bestellung auf der Bank.« Damit riß er geradezu aus und zeigte sich, soviel ich weiß, vor drei Tagen nicht wieder in den Commons.

Da ich nichts unversucht lassen wollte, wartete ich, bis Mr. Spenlow wieder zurückkehrte, und erzählte ihm, was geschehen war, wobei ich ihm zu verstehen gab, daß ich nicht ohne einige Hoffnung sei, er werde das steinerne Herz Jorkins' erweichen können, wenn er es nur auf sich nehmen wollte.

»Copperfield,« erwiderte Mr. Spenlow mit einem schlauen Lächeln, »Sie kennen meinen Associé Jorkins noch nicht so lange wie ich. Nichts kommt mir weniger in den Sinn, als Mr. Jorkins irgendwelche Unaufrichtigkeit zuzutrauen. Aber Mr. Jorkins hat eine eigentümliche Art, seine Einwendungen auszusprechen, durch die sich oft die Leute täuschen. Nein, Copperfield!« sagte er und schüttelte den Kopf. »Mr. Jorkins läßt sich nicht bewegen, darauf können Sie sich verlassen.«

Ich wußte wahrhaftig nicht, wen ich von beiden, Mr. Spenlow oder Mr. Jorkins, für den Einwände erhebenden Associé halten sollte; aber ich sah klar genug, daß irgendwo in der Firma ein unbeugsamer Wille sitze und daß das Wiedererlangen der tausend Pfund meiner Tante außer Frage sei. In tiefer Niedergeschlagenheit, an die ich durchaus nicht mit Befriedigung denke, denn sie bezog sich noch gar zu sehr auf mich (wenn auch in Verbindung mit Dora), verließ ich das Bureau und ging heimwärts. Ich versuchte mich im Gedanken an das Schlimmste zu gewöhnen und mir die Einrichtungen, die wir in Zukunft zu machen hätten, in den schwärzesten Farben auszumalen, als ein hinter mir herfahrender Mietwagen dicht bei mir hielt und mich veranlaßte, aufzublicken. Eine zierliche Hand wurde mir durch das Fenster gereicht, und das Gesicht, das ich nie ohne eine Empfindung von Beruhigung und Glück gesehen, lächelte mich an.

»Agnes!« rief ich freudig aus. »Liebe Agnes, welch Vergnügen macht es mir, von allen Leuten in der Welt gerade dich zu sehen!«

»Wirklich?« fragte sie mit ihrer herzlichen Stimme.

»Ich möchte so gern mit dir sprechen!« sagte ich. »Es wird mir das Herz so leicht, wenn ich dich nur ansehe! Wenn ich ein Wünschelrütchen gehabt hätte, gewiß hätte ich mir niemand anders herbeigewünscht als dich.«

»Wie?« entgegnete Agnes.

»Nun vielleicht zuerst Dora«, gab ich errötend zu.

»Gewiß, das hoffe ich, zuerst Dora«, sagte Agnes lachend.

»Aber dich zunächst«, sagte ich. »Wo willst du hin?«

Sie wollte in meine Wohnung, um meine Tante zu besuchen. Da das Wetter sehr schön war, verließ sie gern den Wagen, der – ich hatte die ganze Zeit den Kopf drinnen – wie ein Stall unter einem Gurkenbeet roch. Ich schickte den Kutscher fort, sie nahm meinen Arm, und wir gingen zusammen weiter. Sie kam mir vor wie die verkörperte Hoffnung. Wie ganz anders fühlte ich nach einer kurzen Minute, da jetzt Agnes neben mir ging!

Meine Tante hatte ihr in ihrer wunderlichen Art nur eins der kurzen Billette geschrieben – nicht viel länger als eine Banknote – auf die sich ihre Korrespondenzen gewöhnlich beschränkten. Sie hatte darin gesagt, daß sie ein Mißgeschick befallen habe und daß sie Dover verlasse, sich aber darein ergeben habe und sich wohl genug befinde, daß sich ihre Freunde keine Sorge um sie zu machen brauchten. Agnes war nach London gekommen, um meine Tante zu besuchen, mit der sie schon seit mehreren Jahren sehr gut stand – meine Tante hatte sie bereits damals lieb gewonnen, als ich zuerst zu Mr. Wickfield zog. Sie sei nicht allein gekommen, sagte sie. Ihr Vater hatte sie begleitet – und Uriah Heep.

»Und jetzt sind sie Associés«, sagte ich. »Der verwünschte Kerl!«

»Ja«, sagte Agnes. »Sie haben Geschäfte hier zu verrichten, und ich benutzte die Gelegenheit, um ebenfalls zu kommen. Du mußt nicht glauben, daß mein Besuch ganz uneigennützig ist, Trotwood, denn ich muß es dir nur gestehen, ich lasse den Vater nicht gern mit ihm allein reisen.«

»Hat er immer noch denselben Einfluß auf Mr. Wickfield, Agnes?«

Agnes schüttelte den Kopf. »Zu Hause hat sich alles so verändert,« sagte sie, »daß du kaum das alte liebe Haus wieder erkennen würdest. Sie wohnen jetzt bei uns.«

»Sie?« fragte ich.

»Mr. Heep und seine Mutter. Dein ehemaliges Zimmer ist sein Schlafgemach«, sagte Agnes und sah mich an.

»Ich wollte, ich könnte seine Träume bestellen«, sagte ich. »Er würde dort nicht lange mehr schlafen.«

»Ich habe noch mein kleines Zimmerchen,« fuhr Agnes fort, »wo ich früher meine Lektionen lernte. Wie die Zeit vergeht! Erinnerst du dich noch, das kleine getäfelte Zimmerchen neben dem Salon?«

»Ob ich mich dessen noch erinnere, Agnes? Wo ich dich zum ersten Male sah, wie du mit dem hübschen kleinen Schlüsselkörbchen an der Seite zur Tür heraustratest.«

»Es ist wahr«, sagte Agnes lächelnd. »Es freut mich, daß du noch daran denkst. Wir waren damals sehr glücklich.«

»Ja, das waren wir«, sagte ich.

»Es ist immer noch mein Zimmer, aber ich kann Mrs. Heep nicht immer allein lassen, und daher muß ich ihr manchmal Gesellschaft leisten,« sagte Agnes ruhig, »wenn ich lieber allein sein möchte. Aber sonst habe ich keine Ursache, mich über sie zu beklagen. Wenn sie mich manchmal durch ihre ewigen Lobsprüche auf ihren Sohn langweilt, so ist das nur natürlich bei einer Mutter. Er handelt als guter Sohn an ihr.«

Ich sah Agnes an, als sie dies sprach, und merkte ihr nicht im geringsten an, daß sie etwas von Uriahs Plänen erriet. Ihre sanften, aber ernsten Augen sahen mich mit ihrer gewöhnlichen schönen Offenheit an, und auf ihrem Antlitz war keine Veränderung zu bemerken.

»Die unangenehmste Seite ihrer Anwesenheit ist,« sagte Agnes, »daß ich nicht mehr so beständig in des Vaters Nähe sein und ihn bewachen kann, wenn ich mich damit nicht zu kühn ausdrücke. Beständig ist Uriah Heep im Wege. Aber wenn sie einen verräterischen Plan gegen ihn spinnen, so hoffe ich doch, daß einfache Liebe und Wahrheit am Ende stärker sein werden, ja, ich hoffe es, stärker als jedes Übel und Unglück auf der ganzen Welt.«

Das gewisse heitere Lächeln, das ich nie auf einem andern Gesicht erblickt habe, verschwand, während ich noch dachte, wie schön es sei und wie oft ich es gesehen, und sie fragte mich mit rasch verändertem Ausdruck – wir kamen in die Nähe meiner Wohnung – ob ich wüßte, wie es mit dem Vermögensverlust meiner Tante zugegangen sei? Auf meine verneinende Antwort wurde Agnes nachdenklich, und es kam mir vor, als ob ihr Arm auf meinem zitterte.

Meine Tante war allein und in einiger Aufregung. Eine Meinungsverschiedenheit hatte sich zwischen ihr und Mrs. Crupp über die abstrakte Frage erhoben, ob eine Junggesellenwohnung auch von Personen weiblichen Geschlechtes bewohnt werden dürfe, und meine Tante, gegen die Magenkrämpfe der Mrs. Crupp gänzlich unempfindlich, hatte den Streit dadurch kurz abgeschnitten, daß sie dieser Dame rund heraussagte, sie rieche nach Branntwein und sie möge so gut sein, lieber hinauszugehen. Beide Äußerungen betrachtete Mrs. Crupp als strafbare Injurien, und sie hatte den festen Vorsatz ausgesprochen, sie vor die »britische Judith« zu bringen – womit sie wahrscheinlich das Bollwerk unserer nationalen Freiheiten meinte.

Meine Tante hatte jedoch Zeit gehabt, sich zu beruhigen, denn Peggotty war mit Mr. Dick ausgegangen, um ihm die Wache von dem Generalkommando zu zeigen, und freute sich sehr, Agnes zu sehen. Sie bildete sich auch auf ihren Streit mit Mrs. Crupp fast etwas ein, und so empfing sie uns in bester Laune. Als Agnes ihren Hut ablegte und sich neben sie setzte, konnte ich nicht umhin, zu denken, wie hier so recht ihr natürlicher Platz war, wie trotz ihrer Jugend und Unerfahrenheit meine Tante ihr so fest vertraute, und wie stark sie war in ihrer echten Liebe und Wahrhaftigkeit.

Wir sprachen von den Verlusten meiner Tante, und ich erzählte ihnen, was ich heute morgen versucht hatte.

»Das war unüberlegt, Trot,« sagte meine Tante, »aber gut gemeint. Du bist ein guter Junge – junger Mann muß ich jetzt wohl sagen – und ich bin stolz auf dich! So weit wäre es gut. Aber jetzt, Trot und Agnes, wollen wir dem Fall ›Betsey Trotwood‹ ins Angesicht sehen und untersuchen, wie es damit steht.«

Ich bemerkte, daß Agnes blaß wurde, als sie meine Tante aufmerksam ansah, und die Tante streichelte die Katze und blickte Agnes aufmerksam an.

»Betsey Trotwood,« sagte meine Tante, »die immer ihre Geldangelegenheiten für sich betrieben hat, – ich meine nicht deine Schwester, lieber Trot, sondern mich selbst – hatte einiges Vermögen. Es kommt nicht darauf an, wieviel; es war genug, um zu leben. Mehr noch, denn sie hatte etwas gespart und dazu gelegt. Betsey legte ihr Vermögen für einige Zeit in Fonds und dann auf den Rat ihres Sachwalters auf Hypotheken an. Das machte sich sehr gut und gab recht anständige Zinsen, bis Betsey das Kapital ausbezahlt wurde. Jetzt hatte sich Betsey (ich rede von ihr, wie von einer ganz Fremden) nach einer neuen Gelegenheit umzusehen, ihr Geld unterzubringen. Sie glaubte, sie sei klüger als ihr Sachwalter, der jetzt kein so guter Geschäftsmann mehr war wie früher – ich meine deinen Vater, Agnes – und sie setzte es sich in den Kopf, das Geld selbst anzulegen. So trieb sie ihre Lämmer auf einen auswärtigen Markt, und das war ein sehr schlechter Markt. Zuerst verlor sie bei dem Bergbau, und dann verlor sie bei einer Tauchergesellschaft, die nach Schätzen aus dem Meere fischte, oder was es sonst für Unsinn war,« setzte meine Tante hinzu und rieb sich die Nase, »und dann verlor sie wieder beim Bergbau und zuletzt, um es ganz fertig zu machen, verlor sie bei der Bank. Ich weiß nicht, wieviel die Bankaktien eine kurze Zeit lang wert waren; eine kurze Zeit standen sie mindestens hundert Prozent über pari, aber die Bank stand am andern Ende der Welt und muß wohl da über den Rand gefallen sein, jedenfalls verkrachte sie und wird und kann niemals sechs Dreier bezahlen, und Betseys sechs Dreier waren alle dort, und damit ist die Geschichte aus. Je weniger Worte darüber verloren werden, desto besser!«

Meine Tante schloß diesen philosophischen knappgehaltenen Bericht mit einer Art triumphierenden Blickes auf Agnes, deren Farbe allmählich wieder zurückkehrte.

»Ist das die ganze Geschichte, liebe Miß Trotwood?« fragte Agnes.

»Ich denke, es ist genug, Kind«, sagte meine Tante. »Wenn noch mehr Geld zuzusetzen gewesen wäre, würde sie gewiß noch nicht alle sein. Es wäre Betsey schon gelungen, auch noch den Rest dem übrigen nachzuwerfen und ein zweites Kapitel zu füllen. Aber das Geld war alle, und die Geschichte ist auch alle.«

Agnes hatte zuerst mit angehaltenem Atem zugehört. Sie wurde noch immer abwechselnd blaß und rot, aber sie atmete freier auf. Ich glaube, ich wußte, warum. Ich glaube, sie fürchtete, ihr armer Vater wäre in irgendeiner Weise an dem geschehenen Unglück schuld. Meine Tante ergriff ihre Hand und lachte.

»Ist das alles?« wiederholte meine Tante. »Nun ja, das ist alles, außer etwa noch: ›und sie lebte von da an glücklich lange Zeit.‹ Vielleicht kann ich dir das seinerzeit auch von Betsey sagen. Du, Agnes, bist ein gescheites Kind, und auch du, Trot, in manchen Sachen, obgleich man es nicht immer von dir sagen kann«; bei diesen Worten schüttelte meine Tante mit einer ihr eigentümlichen Energie den Kopf. »Was ist zu tun? Zuerst haben wir das Häuschen, das, eins ins andere gerechnet, etwa siebzig Pfund einbringt. Ich glaube, so können wir es taxieren. Nun, das ist alles, was ich habe«, sagte meine Tante, die auch die Eigenheit hatte, daß sie, wie manche Pferde, plötzlich Halt machte, wenn sie im besten Zuge zu sein schien.

»Dann«, sagte meine Tante nach einer Pause, »haben wir Dick. Er zahlt hundert Pfund jährlich, aber natürlich muß das Geld für ihn selber ausgegeben werden. Ich würde ihn lieber fortschicken, obgleich ich weiß, daß ich der einzige Mensch auf der Welt bin, der ihn gehörig würdigt, als daß ich ihn behielte und nicht sein Geld für ihn verwendete. Wie können Trot und ich am besten mit unsern Mitteln auskommen? Was meinen Sie, Agnes?«

»Ich meine, Tante,« unterbrach ich sie, »daß ich etwas tun muß!«

»Unter die Soldaten gehen, meinst du wohl,« entgegnete meine Tante ganz erschrocken, »oder Matrose werden; davon mag ich nichts hören. Du sollst ein Proktor werden. In dieser Familie soll niemand etwas auf den Kopf bekommen, wenn du erlaubst.«

Ich wollte auseinandersetzen, daß ich daran gar nicht gedacht hätte, als Agnes fragte, ob meine Zimmer für lange Zeit gemietet seien?

»Sie kommen zur Sache, meine Liebe«, sagte meine Tante. »Für die nächsten sechs Monate wenigstens sind sie nicht los zu werden, wir müßten sie denn weiter vermieten können, und das glaube ich nicht. Der letzte Abmieter starb hier. Fünf Menschen von sechsen müßten natürlich an dieser Frau in Nankingkleidern mit flanellenem Unterrock sterben. Ich besitze eine kleine Summe bar, und ich glaube, es ist das beste, die noch übrigen sechs Monate hier zu bleiben und für Dick ein Zimmer zum Schlafen in der Nähe zu suchen.«

Ich hielt es für meine Pflicht, die Tante auf die Unannehmlichkeit eines beständigen Guerillakriegs mit Mrs. Crupp aufmerksam zu machen; aber sie beseitigte diesen Einwand summarisch durch die Erklärung, daß sie bei dem ersten Ausbruch von Feindseligkeiten Mrs. Crupp für den ganzen Rest ihres irdischen Lebens in Erstaunen setzen wolle.

»Ich habe mir gedacht, Trotwood,« sagte Agnes schüchtern, »daß, wenn du Zeit hättest –«

»Ich habe viel Zeit, Agnes. Ich bin stets nach vier oder fünf Uhr frei und habe auch Zeit in den frühen Morgenstunden. Auf die eine und auf die andere Weise habe ich vollauf Zeit übrig«, sagte ich und fühlte, daß ich etwas errötete bei dem Gedanken, wie viele, viele Stunden ich in den Straßen der Stadt und auf der Landstraße nach Norwood vertrödelt hatte.

»Ich glaube, dir würden die Obliegenheiten eines Sekretärs nicht schwer fallen«, sagte Agnes, indem sie an mich heran trat und mit leiser, von Vertrauen erfüllter Stimme zu mir sprach.

»Schwer fallen, liebe Agnes?«

»Weil Doktor Strong«, fuhr sie fort, »jetzt wirklich seine Stelle niedergelegt hat und nach London gezogen ist; er hat meinen Vater nach einem Sekretär gefragt. Meinst du nicht, er würde seinen ehemaligen Lieblingsschüler lieber als jeden andern um sich haben?«

»Liebe Agnes!« sagte ich, »was wäre ich ohne dich! Du bist immer mein rettender Engel. Ich sagte es dir immer. Ich kann dich mir in keiner andern Gestalt vorstellen.«

Agnes gab mit ihrem angenehmen Lachen zur Antwort, daß ein guter Engel genüge – sie meinte Dora – und erinnerte mich daran, daß der Doktor gewöhnlich die frühen Morgenstunden und die Abende am Arbeitstisch verbringe, und daß ihm meine freie Zeit wahrscheinlich vortrefflich passen würde. Die Aussicht mein Brot selbst zu verdienen, war mir kaum angenehmer als die Hoffnung, es bei meinem alten Lehrer zu verdienen; so setzte ich mich denn hin und schrieb, dem Rate von Agnes sogleich folgend, einen Brief an den Doktor, worin ich meinen Wunsch ausdrückte und ihn am nächsten Morgen um zehn Uhr zu besuchen versprach. Ich adressierte den Brief nach Highgate – denn in dieser für mich denkwürdigen Gegend wohnte er – und trug ihn selbst auf die Post, ohne einen Augenblick zu verlieren.

Wo Agnes hinkam, schien eine liebliche Spur ihrer geräuschlosen Gegenwart unzertrennlich von dem Orte zu sein. Als ich zurückkehrte, hatten die Vogelbauer meiner Tante einen Platz gefunden, genau so, wie sie so lange in dem Fenster der Wohnstube des Landhäuschens gehangen hatten, und mein Lehnstuhl, der allerdings nicht so bequem wie der meiner Tante war, stand an der entsprechenden Stelle am offenen Fenster, und selbst der runde grüne Schirm, den meine Tante mitgebracht hatte, war auf das Fensterbrett festgeschraubt. Ich wußte, wer das alles gemacht hatte, weil es ruhig von selbst geschehen zu sein schien, und ich hätte in einem Augenblick erraten, wer meine lang vernachlässigten Bücher in der aus meiner Schulzeit gewohnten Ordnung aufgestellt hatte, selbst wenn ich geglaubt hätte, Agnes sei meilenweit entfernt, anstatt daß ich zusah, wie sie diese ordnete und über die Unordnung lächelte, in die sie gekommen waren.

Meine Tante war sehr gnädig hinsichtlich der Themse – die im Sonnenschein wirklich nicht übel aussah, wenn sie sich auch nicht mit dem Meere vor dem Landhäuschen vergleichen ließ – aber sie ließ sich nicht hinsichtlich des Londoner Rauches erweichen, der, wie sie erklärte, »alles schwarz verpfeffere«. Wegen des Pfeffers wurde eine vollständige Revolution, in der Peggotty eine hervorragende Rolle spielte, in jedem Winkel meiner Zimmer bewerkstelligt, und ich sah zu und dachte mir, wie wenig selbst Peggotty mit sehr viel Geräusch zu tun schien, und wieviel Agnes ohne alles Geräusch verrichtete, als man an die Tür klopfte.

»Ich glaube, das ist der Vater«, sagte Agnes und wurde blaß. »Er versprach mir, herzukommen.«

Ich machte die Tür auf und ließ nicht nur Mr. Wickfield, sondern auch Uriah Heep herein. Ich hatte Mr. Wickfield seit längerer Zeit nicht gesehen. Nach dem, was Agnes sagte, hatte ich mich darauf gefaßt gemacht, ihn sehr verändert zu finden, aber sein Aussehen erschütterte mich.

Nicht das war's, daß er viele Jahre älter aussah, obgleich er noch dieselbe skrupulöse Sauberkeit zur Schau trug, oder daß sich eine ungesunde Röte auf seinem Gesicht zeigte, oder daß sein Auge trübe oder rot unterlaufen war, oder daß seine Hand unruhig zitterte – ich wußte warum, und hatte es schon seit einigen Jahren kommen sehen. Nicht daß er sein angenehmes Äußere oder seine vornehme Haltung verloren hatte – denn das war nicht der Fall, nein – was mir am meisten auffiel, war, daß er sich bei allen noch vorhandenen Zeichen seiner angeborenen Überlegenheit dieser kriechenden Verkörperung von Gemeinheit, Uriah Heep, unterordnete. Der Wechsel, welcher sich in der Stellung dieser beiden Naturen vollzogen hatte, daß Uriah die Macht besaß und Mr. Wickfield in Abhängigkeit geraten war, erfüllte mich mit tieferem Schmerz, als ich sagen kann. Wenn ich einen Schimpansen hätte einem Menschen befehlen sehen, würde es mir nicht so entwürdigend vorgekommen sein.

Er schien sich dessen nur zu sehr bewußt zu sein. Als er hereintrat, blieb er stehen und ließ den Kopf sinken, als ob er es fühlte. Das war nur einen Augenblick, denn Agnes sagte mit sanfter Stimme zu ihm: »Vater, hier ist Miß Trotwood – und Trotwood, den du so lange nicht gesehen hast!« Und dann trat er näher und gab meiner Tante mit gezwungener Miene die Hand und schüttelte die meinige mit größerer Herzlichkeit. In der kurzen Pause sah ich, wie sich Uriahs Gesicht zu einem abscheulichen Lächeln verzerrte. Ich glaube, auch Agnes sah es, denn sie zog sich scheu vor ihm zurück.

Was meine Tante sah oder nicht sah, hätte ohne ihren Willen der scharfsinnigste Physiognom nicht herausgebracht. Ich glaube, es gab niemand, der ein so vollkommen gleichgültiges Gesicht machen konnte, wenn sie wollte. In diesem Falle hätte ihr Gesicht eine kahle Mauer sein können, so wenig Licht warf es auf ihre Gedanken, bis sie mit ihrer gewöhnlichen schroffen Plötzlichkeit das Schweigen brach.

»Na, Wickfield«, sagte meine Tante, und er sah sie jetzt zum erstenmal an. »Ich habe Ihrer Tochter erzählt, wie gut ich mein Geld ganz allein angelegt habe, weil ich es Ihnen nicht anvertrauen wollte, da Sie in Geschäftssachen schläfrig wurden. Wir sind zusammen zu Rate gegangen, und ich glaube, wir haben im ganzen unsere Sache gut gemacht. Agnes ist meiner Meinung nach die ganze Firma wert.«

»Wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, die Bemerkung zu machen,« sagte Uriah Heep und krümmte sich wie ein Wurm, »so erlaube ich mir, mit Miß Betsey Trotwood ganz übereinzustimmen und würde mich glücklich schätzen, Miß Agnes zur Partnerin zu haben.«

»Sie sind ja schon Partner,« entgegnete meine Tante kurz, »und das ist gerade genug für Sie, sollte ich meinen. Wie befinden Sie sich sonst, Sir?«

Auf diese Frage, die mit ungewöhnlicher Kürze an ihn gerichtet wurde, erwiderte Mr. Heep, indem er unruhig den blauen Aktenbeutel festhielt, daß er sich ziemlich wohl befinde, meiner Tante danke, und er hoffe von ihr das gleiche.

»Und Sie, Master – ich sollte sagen, Master Copperfield?« fuhr Uriah fort, »ich hoffe, Sie sind auch wohl! Es freut mich außerordentlich, Sie zu sehen, Mr. Copperfield, selbst unter gegenwärtigen Umständen.« – Ich glaubte das, denn er schien sich sehr daran zu letzen. – »Ihre gegenwärtigen Umstände sind nicht so, wie ihre Freunde wünschen möchten, Mr. Copperfield, aber das Geld macht nicht den Mann. Es ist – meine bescheidenen Kräfte reichen wahrhaftig nicht aus, es auszudrücken,« sagte Uriah mit einer kriechenden Bewegung seines Körpers, »aber Geld ist es nicht!«

Dabei schüttelte er mir die Hand, nicht auf die gewöhnliche Weise, sondern indem er in ziemlicher Entfernung von mir stehen blieb und meine Hand wie einen Pumpenschwengel auf und nieder bewegte, als ob er sich davor fürchtete.

»Und wie, meinen Sie, sehen wir aus, Master Copperfield – ich wollte sagen, Mister?« – schmeichelte Uriah weiter. »Finden Sie nicht, daß Mr. Wickfield sehr blühend aussieht? In unserm Geschäft machen Jahre nicht viel aus, Master Copperfield, außer daß sie die Niedrigen, nämlich meine Mutter und mich, erheben – und«, setzte er nach einigem Besinnen hinzu, »das Schöne, nämlich Miß Agnes, entwickeln.«

Er zuckte und schnellte bei diesem Kompliment auf eine so unausstehliche Weise in die Höhe, daß meine Tante, die ihn starr angesehen, alle Geduld verlor.

»Der Kuckuck hole den Menschen«, sagte meine Tante streng. »Was haben Sie denn? Zappeln Sie doch nicht unaufhörlich!«

»Ich bitte um Verzeihung, Miß Trotwood,« entgegnete Uriah; »ich weiß wohl, Sie haben schwache Nerven.«

»Damit hören Sie auf!« sagte meine Tante, durchaus nicht besänftigt. »Wie können Sie sich so eine Äußerung erlauben! Ich habe durchaus keine schwachen Nerven. Wenn Sie ein Aal sind, Sir, so benehmen Sie sich meinethalben wie ein Aal. Wenn Sie aber ein Mensch sind, so behalten Sie Ihre Glieder in der Gewalt, Sir! – Guter Gott!« sagte meine Tante mit großer Entrüstung, »ich will mich nicht aus meinem Verstande herausschlängeln und korkziehern lassen.«

Wie man sich leicht denken kann, war Mr. Heep von diesem Ausfall etwas beschämt, der dadurch nachträglich noch kräftigern Eindruck machte, daß meine Tante sich entrüstet und unzufrieden in ihrem Stuhl bewegte und ihm mit dem Kopfe drohte, als wollte sie über ihn herfallen. Aber er nahm mich beiseite und sagte zu mir schüchtern:

»Ich weiß recht wohl, Master Copperfield, daß Miß Trotwood bei aller ihrer Vortrefflichkeit ein reizbares Temperament hat – ja, ich habe schon das Vergnügen ihrer Bekanntschaft vor Ihnen gehabt, Master Copperfield, als ich noch ein bescheidener Schreiber war – und es ist nur natürlich, daß sie unter den gegenwärtigen Umständen noch gereizter erscheint. Es ist nur ein Wunder, daß es nicht noch schlimmer ist! Ich komme nur her, um zu erklären, daß wir sehr erfreut sein würden, wenn wir, meine Mutter oder ich, oder Wickfield und Heep unter den gegenwärtigen Umständen etwas tun könnten. Darf ich mir soviel herausnehmen?« sagte Uriah, und lächelte seinen Associé verlegen an.

»Uriah Heep«, sagte Mr. Wickfield in eintöniger, gezwungener Weise, »ist sehr tätig im Geschäft, Trotwood. Dem, was er sagt, stimme ich ganz bei. Sie wissen, ich interessiere mich aus alter Zeit für Sie. Abgesehen davon, stimme ich ganz dem bei, was Uriah sagt.«

»O, welcher Lohn,« sagte Uriah und zog ein Bein in die Höhe, auf die Gefahr hin, wieder eine Strafpredigt von meiner Tante auf sein Haupt zu ziehen, »soviel Vertrauen zu finden! Aber ich hoffe, imstande zu sein, ihm in mancherlei von den Anstrengungen des Geschäfts Erholung zu verschaffen, Master Copperfield!«

»Uriah Heep ist mir eine große Stütze,« sagte Mr. Wickfield in derselben tonlosen Weise; »eine Last ist von meiner Seele, Trotwood, seitdem ich ihn zum Associé habe.«

Der rote Fuchs hatte ihn zu allen diesen Äußerungen gebracht, um ihn mir in dem Lichte zu zeigen, wie er ihn in jener Nacht, wo er meinen Schlummer vergiftet, dargestellt hatte.

»Du gehst doch noch nicht, Vater?« fragte Agnes besorgt. »Willst du nicht warten, bis Trotwood und ich dich heim begleiten?«

Ich glaube, er hätte, ehe er antwortete, Uriah angesehen, wenn dieser Würdige ihm nicht zuvorgekommen wäre.

»Ich habe Geschäfte,« sagte Uriah, »sonst würde ich mich glücklich schätzen, hier bleiben zu können. Aber ich lasse meinen Associé als Stellvertreter der Firma da. Miß Agnes, immer der Ihrige! Ich wünsche Ihnen guten Tag, Master Copperfield, und empfehle mich Ihnen mit aller Ergebenheit, Miß Betsey Trotwood.«

Mit diesen Worten entfernte er sich, indem er uns mit seiner großen Hand einen Kußfinger zuwarf und uns alle anschielte wie eine Maske.

Wir saßen nun wohl ein paar Stunden zusammen und sprachen von den schönen alten Zeiten in Canterbury. Neben Agnes gewann Mr. Wickfield viel von seinem alten Wesen wieder; obgleich eine gewisse Niedergedrücktheit von ihm unzertrennlich schien. Trotz alledem erheiterte er sich und hatte sichtlich Freude daran, wenn wir die kleinen Ereignisse unseres frühern Lebens besprachen, von denen ihm manche ganz gut erinnerlich waren. Er sagte, mit Agnes und mir wieder allein zu sein, führe fast jene alten Zeiten wieder herauf, und er wünschte zu Gott, es wäre nie anders geworden. Ich bin überzeugt, in dem ruhigen Gesicht von Agnes, in der Berührung ihrer Hand lag ein Einfluß, der Wunder auf ihn übte.

Meine Tante, die sich während der ganzen Zeit in dem andern Zimmer mit Peggotty beschäftigte, wollte uns nicht nach ihrer Wohnung begleiten, drang aber darauf, daß ich gehen sollte, und ich fügte mich ihrem Wunsche. Wir aßen zusammen. Nach dem Essen setzte sich Agnes neben den Vater wie früher und schenkte ihm seinen Wein ein. Er nahm was sie ihm gab und nicht mehr – wie ein Kind – und wir setzten uns, als der Abend kam, alle drei zusammen an das Fenster. Als es fast dunkel geworden war, legte er sich auf ein Sofa, Agnes rückte ihm das Kissen zurecht und beugte sich eine Weile über ihn; und als sie wieder nach dem Fenster zurückkehrte, war es noch nicht so dunkel, daß ich nicht hätte sehen können, wie Tränen in ihrem Auge standen.

Ich bitte Gott, daß ich das geliebte Mädchen in ihrer Liebe und Treue aus jener Zeit meines Lebens nie vergessen möge; denn könnte ich das, dann wäre das Ende meiner Tage nah, und gerade dann wünschte ich am meisten, mich ihrer zu erinnern! Sie erfüllte mein Herz mit so guten Entschlüssen, stärkte meine Schwäche so sehr durch ihr Beispiel und – wie, weiß ich nicht, denn sie war zu bescheiden und sanft, um mir mit vielen Worten zu raten – lenkte meinen umhertastenden Eifer und die unbestimmten Vorsätze in mir so, daß ich, wie ich ernsthaft glaube, ihr verdanke, was ich an Gutem getan, und was ich an Bösem unterlassen habe.

Und wie sprach sie mit mir über Dora, während sie im Dunkeln am Fenster saß, wie hörte sie meine Lobsprüche an; wie sie wieder lobte und die kleine Elfengestalt mit einigen Strahlen ihres eigenen reinen Lichts umgab, das sie mir nur noch kostbarer und unschuldvoller erscheinen ließ! Ach Agnes! Schwester meiner Jugendzeit, wenn ich damals gewußt hätte, was ich erst viel später erfahren habe! . . .

Als ich auf die Straße trat, begegnete ich einem Bettler; und als ich nach dem Fenster zurücksah und an ihre ruhigen Engelsaugen dachte, erschreckte er mich dadurch, daß er, als wäre er ein Echo des Morgens, murmelte:

»Blind! blind! blind!«

Sechsunddreißigstes Kapitel.

Enthusiasmus.

Ich begann den nächsten Tag abermals mit einem Kopfsprunge in das kalte Bad und machte mich dann nach Highgate auf den Weg. Ich war nicht mehr entmutigt. Ich scheute mich nicht vor einem schäbigen Rock und fühlte keine Sehnsucht nach stolzen Grauschimmeln. Ich betrachtete heute den Unfall, der uns betroffen hatte, in ganz anderer Weise als gestern. Ich hatte nichts weiter zu tun, als meiner Tante zu zeigen, daß ihre frühere Güte nicht an ein gefühlloses, undankbares Subjekt weggeworfen worden war. Ich hatte nichts weiter zu tun, als die mühselige Schule meiner jungen Jahre zu benutzen und mit entschlossenem und standhaftem Herzen ans Werk zu gehen. Ich hatte nichts weiter zu tun, als die Axt in die Hand zu nehmen und mir durch den Wald der Hindernisse einen Weg zu bahnen bis zu Dora. Und ich ging raschen Schrittes darauf los, als könnte ich es schon durch das bloße Gehen erzwingen.

Als ich mich auf der vertrauten Straße nach Highgate befand, nicht wie sonst in der Erwartung von irgendeinem Vergnügen, die ich stets daran geknüpft hatte, schien in mein Leben ein vollständiger Umschwung gekommen zu sein. Aber das entmutigte mich nicht. Mit dem neuen Leben kamen auch neue Anstrengungen, ein neuer Inhalt. Groß war die Arbeit, kostbar der Lohn! Dora war der Lohn, und Dora mußte gewonnen werden.

Ich geriet so sehr in Begeisterung, daß es mir ordentlich leid tat, daß mein Rock nicht schon ein klein wenig schäbig geworden war. Ich sehnte mich unter Umständen, die einen Beweis von meiner Kraft ablegten, auf die Bäume in dem Walde der Schwierigkeiten loszuhauen. Ich hatte große Lust, einen Alten mit einer Drahtbrille vor dem Gesicht, der Steine am Wege klopfte, einen Augenblick um seinen Hammer zu bitten, damit ich mir durch den Granit für Dora einen Pfad bahnen könnte. Meine Aufregung versetzte mich jedenfalls in eine solche Hitze und brachte mich so sehr außer Atem, daß es mir vorkam, als ob ich schon wer weiß wieviel verdient hätte.

In diesem Zustande trat ich in ein Häuschen, das zu vermieten war, und besichtigte es ganz genau, denn ich fühlte mich gedrungen praktisch zu sein. Es paßte für mich und Dora ausgezeichnet: vorn ein kleiner Garten, in dem Jip herumlaufen und durch das Gitter die Leute anbellen konnte, und oben eine schöne Stube für meine Tante. Ich verließ das Haus noch erhitzter und rannte nach Highgate mit einer Schnelligkeit, daß ich eine volle Stunde zu früh ankam; und selbst wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, hätte ich erst herumgehen müssen, um mich abzukühlen, ehe ich vor anständigen Leuten erscheinen konnte.

Nachdem ich dies getan hatte, war meine erste Sorge, des Doktors Haus zu suchen. Es befand sich nicht in dem Teile von Highgate, wo Mrs. Steerforth wohnte, sondern gerade auf der entgegengesetzten Seite der kleinen Stadt. Als ich diese Entdeckung gemacht hatte, ging ich, einem unwiderstehlichen Zuge folgend, auf einem schmalen Wege zurück, neben Mrs. Steerforths Haus und blickte um die Ecke der Gartenmauer. Sein Zimmer war dicht verhängt, die Türen des Treibhauses standen offen, und auf einem Kieswege an der einen Seite des Rasens ging Rosa Dartle barhäuptig mit schnellen, hastigen Schritten ruhelos auf und ab. Sie kam mir vor wie ein wildes Geschöpf, das die Last seiner Kette auf abgemessenem Wege hin und her schleppt und sich innerlich verzehrt.

Ich verließ leise meinen Beobachtungsplatz, und während ich jenen Teil der Nachbarschaft vermied und wünschte, ich wäre nie in seine Nähe gekommen, schlenderte ich umher, bis es zehn Uhr war. Die Kirche mit dem schlanken Turm, die jetzt auf der Spitze des Hügels steht, war damals noch nicht da, um mir zu sagen, wie spät es sei. An ihrer Stelle stand ein großes, altes Haus von roten Ziegeln, das als Schule benutzt wurde: ein prächtiges altes Haus muß es gewesen sein, um darin in die Schule zu gehen, wie ich mich noch recht gut erinnere.

Als ich das Haus des Doktors erreichte – ein hübsches altes Haus, das er nicht ohne einige Unkosten umgebaut haben mochte, nach einigen noch ganz neu aussehenden Verzierungen und Ausbesserungen zu urteilen – sah ich ihn in dem Garten an der Seite des Hauses herumgehen, mit Gamaschen und Brille, ganz wie ehedem, als ob er seit meiner Schulzeit nie aufgehört hätte spazieren zu gehen. Auch seine alten Gesellschafter hatte er um sich; denn in der Nachbarschaft waren viele hohe Bäume, und zwei oder drei Krähen saßen auf dem Rasen und sahen ihm nach, als hätten ihnen die Domkrähen aus Canterbury über ihn geschrieben, und beobachteten ihn infolgedessen scharf.

Da ich wußte, wie es ganz nutzlos war, aus dieser Entfernung seine Aufmerksamkeit auf mich lenken zu wollen, so erlaubte ich mir die Tür zu öffnen und ihm nachzugehen, damit ich ihm begegnete, wenn er sich umdrehte. Als er dies tat und auf mich zukam, sah er mich ein paar Augenblicke lang gedankenvoll an, offenbar, ohne im geringsten an mich zu denken; dann erhellte sein wohlwollendes Gesicht außerordentliche Freude, und er ergriff meine beiden Hände.

»Ah, lieber Copperfield,« sagte der Doktor; »Sie sind ja zum Manne geworden! Wie geht's Ihnen? Es freut mich, Sir, Sie zu sehen. Mein lieber Copperfield, Sie sehen ausgezeichnet aus! Sie sind ganz – ja – o Gott!«

Ich sprach die Hoffnung aus, ihn wohl zu finden, sowie Mrs. Strong.

»O ja, ja!« sagte der Doktor; »Annie befindet sich ganz wohl und wird sich freuen, Sie zu sehen – Sie waren immer ihr Liebling. Sie äußerte es gestern abend, als ich ihr Ihren Brief zeigte, und – ja natürlich – Sie erinnern sich noch an Mr. Jack Maldon, Copperfield?«

»Vollkommen noch, Sir.«

»Natürlich«, sagte der Doktor. »Natürlich. Er befindet sich auch recht wohl.«

»Ist er wieder zurückgekehrt, Sir?« fragte ich.

»Aus Ostindien?« sagte der Doktor. »Ja. Mr. Jack Maldon konnte das Klima nicht vertragen. Mrs. Markleham – Sie haben Mrs. Markleham doch nicht vergessen?«

Den »alten Soldaten« vergessen! Und in so kurzer Zeit!

»Die arme Mrs. Markleham«, sagte der Doktor, »sorgte sich sehr um den Armen; und so haben wir ihn wieder nach Hause geholt und haben ihm eine kleine Stelle im Patentamt gekauft, die ihm viel besser zusagt.«

Ich kannte Mr. Jack Maldon genug, um aus diesem Bericht zu schließen, daß dies eine Stelle war, in der es wenig zu tun gab, und die ziemlich gut bezahlt wurde.

Der Doktor, der die Hand auf meine Schulter gestützt, das freundliche Gesicht mir ermutigend zugewendet hatte und auf und ab ging, fuhr fort:

»Aber um von Ihrem Vorschlag zu sprechen, lieber Copperfield! Er ist mir gewiß höchst angenehm; aber können Sie Ihre Zeit nicht besser anwenden? Sie haben sich seinerzeit bei uns ausgezeichnet. Sie haben Anlagen zu vielen guten Dingen. Sie haben einen Grund gelegt, auf dem sich jedes Gebäude erheben kann; und ist es nicht schade, daß Sie die schönste Zeit Ihres Lebens einer so armseligen Beschäftigung widmen sollen, wie Sie bei mir finden?«

Ich wurde wieder sehr enthusiastisch und unterstützte meine Bitte mit einer etwas poetischen Deklamation, erinnerte aber den Doktor dabei, daß ich bereits einen Beruf habe.

»Das ist freilich richtig«, entgegnete der Doktor. »Jedenfalls macht es einen Unterschied, daß Sie schon ein bestimmtes Studium haben. Aber, mein lieber junger Freund, was sind siebzig Pfund jährlich?«

»Es verdoppelt unser Einkommen, Doktor Strong«, sagte ich.

»Gott! Gott!« entgegnete der Doktor. »Wer sollte das denken! Nicht daß ich meine, mich streng auf siebzig Pfund jährlich zu beschränken, weil ich stets beabsichtigt habe, dem jungen Freunde, den ich auf diese Weise beschäftige, ein Geschenk zu machen. Sicher habe ich immer ein jährliches Geschenk mit in Rechnung gebracht«, sagte der Doktor, der immer noch, die Hand auf meine Schulter gestützt, auf und ab ging.

»Verehrter Lehrer,« sagte ich – und diesmal wirklich ohne alle Deklamation – »dem ich mehr Verpflichtungen schuldig bin, als mein Dank jemals aussprechen kann –«

»Nein, nein«, unterbrach mich der Doktor. »Verzeihen Sie!«

»Wenn Sie meine freie Zeit benutzen wollen, und dies sind meine Morgen- und Abendstunden, und glauben, daß sie siebzig Pfund jährlich wert ist, so erweisen Sie mir einen so großen Dienst, daß ich meinen Dank gar nicht aussprechen kann.«

»O Gott! Gott!« sagte der Doktor naiv. »Daß man mit so wenig so viel ausrichten kann! Gott! Gott! Aber wenn Sie sich verbessern können, werden Sie es annehmen! Geben Sie mir Ihr Wort darauf«, sagte der Doktor – womit er sich immer sehr ernstlich an die Ehre von uns Schulknaben gewendet hatte.

»Auf mein Wort, Sir!« gab ich zurück, indem ich in unserer alten Schulweise antwortete.

»So sei es denn!« sagte der Doktor, klopfte mich auf die Schulter und ging, die Hand dort lassend, weiter neben mir her.

»Und ich werde zwanzigmal glücklicher sein,« sagte ich mit ein wenig, ich hoffe, unschuldiger Schmeichelei, »wenn Sie mich bei dem Wörterbuch beschäftigen wollten.« [...]

"wir [David und Traddles] gingen zusammen nach der Wohnung, die Mr. Micawber unter dem Namen Mr. Mortimer inne hatte, und die an dem einen Ende von Grays-Inn-Road lag.

Der Raum der Wohnung war so klein, daß die Zwillinge, die jetzt acht oder neun Jahre alt waren, in einer Klappbettstelle im Familienzimmer schliefen, wo Mr. Micawber in einem Wasserkrug aus dem Waschständer ein »Gebräu« – so nannte er's – des angenehmen Getränks bereitet hatte, wegen dessen er berühmt war. Ich hatte bei dieser Gelegenheit das Vergnügen, die Bekanntschaft mit Master Micawber zu erneuern; ich fand diesen vielversprechenden Jüngling von zwölf oder dreizehn Jahren mit jener Ruhelosigkeit der Gliedmaßen behaftet, die keine seltene Erscheinung bei Jünglingen dieses Alters ist. Auch wurde ich noch einmal seiner Schwester Miß Micawber vorgestellt, in der, wie uns Mr. Micawber sagte, »ihrer Mutter Jugend sich erneuerte, wie Phönix«. [...]

Nachdem der Handschuh, den Mrs. Micawber bei einer frühern Gelegenheit erwähnte, in Form einer Annonce der Welt ins Angesicht geschleudert worden war, hob ihn mein Freund Heep auf, und das führte zu einer Zusammenkunft. Von meinem Freunde Heep, der ein Mann von merkwürdigem Scharfblick ist,« sagte Mr. Micawber, »wünsche ich mit der allergrößten Achtung zu sprechen. Mein Freund Heep hat die vorher bestimmte Entschädigung allerdings nicht zu hoch angesetzt, hat aber einen großen Teil seiner Beihilfe, mich von dem Druck peinlicher Verlegenheit zu erlösen, von dem Werte meiner Dienste abhängig gemacht, und auf den Wert dieser Dienste setze ich meine Hoffnung. Was ich überhaupt von Gewandtheit und Einsicht besitze,« sagte Mr. Micawber mit prahlerischer Bescheidenheit, »werde ich dem Dienste meines Freundes Heep widmen. Ich habe bereits einige Einsicht in die Jurisprudenz erlangt – als Beklagter im Zivilprozeß – und ich werde ohne Verzug die Kommentarien eines der ausgezeichnetsten und merkwürdigsten unserer englischen Juristen studieren. Ich glaube nicht erst hinzusetzen zu müssen, daß ich Mr. Justice Blackstone meine.«


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