28 Februar 2007

Smolensk

"Auch ich nahm teil an dem Sieg über Smolensk. Es war gar trefflich anzusehen, wie unsere Kanonen dem Feinde zusetzten und die Reiterei die Kosaken in die Flucht trieb. Am Abend nach der Schlacht ritt unser Kaiser über die Stätte ..."
(Arno Surminski: Vaterland ohne Väter, S.105)

"Gerade sind die Sondermeldungen vom Sieg bei Smolensk durchs Radio gekommen. ...
Gestern marschierten wir an einem Heer von Gefangenen vorbei, Menschenmassen bis zum Horizont. Unser Leutnant sagt, die kämen nach Deutschland, um die Zerstörungen in den Städten aufzuräumen. So wäscht eine Hand die andere: Die Engländer zerstören die Städte, die Russen bauen sie wieder auf."
(Arno Surminski: Vaterland ohne Väter, S.103)

In Smolensk sitzt Büscher bei "Görings Hirsch". Den hatten die Sieger aus Deutschland mitgebracht und am Rande des Glinkaparks aufgestellt. Die Stadtjugend sitzt hier beim Bier. Von Michail Glinkas Standbild klingt seine Nationalhymne herüber.

(Bei Büscher heißt es "Michail Glinkas Sowjethymne". Vermutlich ist er dabei aber einem Irrtum erlegen. Welchem ist freilich nicht eindeutig klar. Von Glinka stammt das Patriotische Lied, das von 1990 bis 2000 Nationalhymne war. Im Jahr 2001, als Büscher in Smolensk war, war auf Putins Geheiß wieder die Hymne der Sowjetunion eingeführt worden. Freilich mit neuem Text. Dieser stammt freilich wie der der alten sowjetischen Hymne von 1944 auch von Sergei Michalkow.)
(Büscher: Berlin - Moskau)

20 Februar 2007

Rückzug

"[...] Hier wurde uns, nach einer sehr kalten Nacht, den folgenden Morgen die Nachricht, daß unser Regiment nun völlig aufgelöst werde, und aus der Zahl der Kombattanten trete; jeder noch übrig gebliebene Offizier konnte mit seinem Burschen nach Willkür sich bewegen, doch wurde es uns freigestellt, ob wir uns an einen oder den andern General anschließen wollten. Die Mehrzahl der Offiziere zog es vor, allein zurückzureisen, denn von einem Marsch konnte nicht mehr die Rede seyn. [...]"
(Bericht des Seconde-Lieutenant von Kalckreuth vom Königlichen Preußischen kombinierten Husaren-Regiment Nr. 2)

19 Februar 2007

Müdes Land

"Unser armes Heimatland, lauter Wälder, Sumpf und Sand ..." so übersetzt Büscher das Gedicht von Jakob Kolas (von 1906).
Belarus, Weißrussland, ein Teil unter polnischer Herrschaft, ein Teil unter russischer, dann alles unter sowjetischer, nun Lukaschenka und seinen Milizionären ausgeliefert.
Die Sprache kommt weit langsamer und deshalb dem Ausländer verständlicher daher als das Russische. Der Fußwanderer hat bald nur zu viel Verständnis dafür, dass man hier leicht resignieren kann. Wo ist die Perspektive?
Freilich Novogrudok und Shodino ...

Ein weites Feld

Günter Grass hat mit diesem Romantitel für seinem Wende- und Fontaneroman auf eine Redewendung des alten Briest zurückgegriffen.
Es liegt nahe, sie nicht nur auf das Leben, sondern auch auf die Literatur zu beziehen, besonders freilich auf Fußmärsche, zumal durch Russland und die vorgelagerten weiten Ebenen Europas.

Frau von Briest, als sie den Brief vorgelesen hatte, sagte:
»Das arme Kind. Sie hat Sehnsucht.«
»Ja«, sagte Briest, »sie hat Sehnsucht. Diese verwünschte Reiserei ...«
»Warum sagst du das jetzt? Du hättest es ja hindern können. Aber das ist so deine Art, hinterher den Weisen zu spielen. Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, decken die Ratsherren den Brunnen zu.«
»Ach, Luise, komme mir doch nicht mit solchen Geschichten. Effi ist unser Kind, aber seit dem 3. Oktober ist sie Baronin Innstetten. Und wenn ihr Mann, unser Herr Schwiegersohn, eine Hochzeitsreise machen und bei der Gelegenheit jede Galerie neu katalogisieren will, so kann ich ihn daran nicht hindern. Das ist eben das, was man sich verheiraten nennt.«
»Also jetzt gibst du das zu. Mir gegenüber hast du’s immer bestritten, immer bestritten, daß die Frau in einer Zwangslage sei.«
»Ja, Luise, das hab ich. Aber wozu das jetzt. Das ist wirklich ein zu weites Feld.«
(Effi Briest, 5. Kapitel)

Lieben

Die Liebe des russischen Partisanen wurde von seinen Gefährten getötet, weil ihr Vater Nachrichten über die Partisanen an die Deutschen weitergab.
Die Liebe des deutschen Hauptmanns ist eine Jüdin, die er zu den Partisanen rettet, und die in Rostow mit einem jüdischen Offizier der Roten Armee weiterlebt, nachdem in Moskau ein Auto ihren Retter in ein Kriegsgefangenenlager abgeholt hat. Typhus wurde als seine Todesursache mitgeteilt.
Die Liebe des deutschen Oberst war die polnische Gräfin.

Gideon ist besser als Botho

Und wirklich, er war es entschlossen, und sich rasch von seinem Schreibtisch erhebend, schob er einen Kaminschirm beiseit und trat an den kleinen Herd, um die Briefe darauf zu verbrennen. Und siehe da, langsam, als ob er sich das Gefühl eines süßen Schmerzes verlängern wolle, ließ er jetzt Blatt auf Blatt auf die Herdstelle fallen und in Feuer aufgehen. Das letzte, was er in Händen hielt, war das Sträußchen, und während er sann und grübelte, kam ihm eine Anwandlung, als ob er jede Blume noch einmal einzeln betrachten und zu diesem Zwecke das Haarfädchen lösen müsse. Plötzlich aber, wie von abergläubischer Furcht erfaßt, warf er die Blumen den Briefen nach.
Ein Aufflackern noch, und nun war alles vorbei, verglommen.
»Ob ich nun frei bin?... Will ich's denn? Ich will es nicht. Alles Asche. Und doch gebunden.« [...]
»Käthe, Puppe, liebe Puppe.«
»Puppe, liebe Puppe, das sollt' ich eigentlich übelnehmen, Botho. Denn mit Puppen spielt man. Aber ich nehm' es nicht übel, im Gegenteil. Puppen werden am meisten geliebt und am besten behandelt. Und darauf kommt es mir an.« [...]

»Hab' ich auch... Es ist doch zu komisch, was es für Namen gibt! Und immer gerade bei Heirats- und Verlobungsanzeigen. Höre doch nur«
»Ich bin ganz Ohr.«
»›Ihre heute vollzogene eheliche Verbindung zeigen ergebenst an: Gideon Franke, Fabrikmeister, Magdalene Franke, geb. Nimptsch‹... Nimptsch. Kannst du dir was Komischeres denken? Und dann Gideon!«
Botho nahm das Blatt, aber freilich nur, weil er seine Verlegenheit dahinter verbergen wollte. Dann gab er es ihr zurück und sagte mit so viel Leichtigkeit im Ton, als er aufbringen konnte: »Was hast du nur gegen Gideon, Käthe? Gideon ist besser als Botho.«

Für die, die den Roman nicht kennen, ist vielleicht nicht ohne weiteres zu erschließen:
Botho meint nicht allein die Namen Botho und Gideon, sondern auch die Personen. Vor allem aber vergleicht er Botho und Lene, und dabei ist für ihn noch viel klarer, wer besser ist.
Da aus der Sicht der Zeit Lene günstigstenfalls ein "gefallenes Mädchen" war, der Roman aber auch als "Hurengeschichte" bezeichnet wurde, will das etwas heißen.
Der Erzähler hat schon vorher klar gemacht, wem seine besondere Sympathie gilt. Jetzt lässt er spüren, dass Botho sich diesem Urteil anschließt. Aber er sagt es nicht ausdrücklich.
Für mich hat "Gideon ist besser als Botho" die Gewalt Schillerscher Dramenschlüsse ("Dem Manne kann geholfen werden", "Dem Fürsten Piccolomini", "Der Lord lässt sich entschuldigen, er ist zu Schiff nach Frankreich"). Aber es fehlt ihm das Pathos, und er bezieht sich nicht nur auf die Schlusssituation, sondern auf den gesamten Text.
Deshalb hat es mir Grass sympathisch gemacht, dass er diese Worte an hervorgehobener Stelle in seinem Fontaneroman "Ein weites Feld" zitiert.

Sieh auch: Marlitts "Amtsmanns Magd" zwischen "Stolz und Vorurteil" und "Irrungen, Wirrungen"

Der sibirische Yogi

Er hat heilende Hände. Es liegt in der Familie. Eigentlich eher in seinem Volk. Er ist Assyrier. (Oder seiner religiösen Tradition, die oft pauschal als nestorianische von Rom und Byzanz abgegrenzt wird.) Von Stalin deportiert. Er schlägt Büscher mit Wermutbesen. Noch Tage später glaubt Büscher, dass nichts mehr seinen Wandererfüßen anhaben kann.

Überfall auf dem Weg nach Rom

Ich habe die Gewohnheit, beständig vorauszulaufen, wo ich kann. Zwischen Gensano und Aricia ist eine schöne Waldgegend, durch welche die Straße geht. Oben am Berge bat der Postillon, wir möchten aussteigen, weil er vermutlich den Hemmschuh einlegen wollte, und am Wagen etwas zu hämmern hatte. Der Offizier blieb bei seinen Depeschen am Wagen, und ich schlenderte leicht und unbefangen den Berg hinunter in den Wald hinein, und dachte, wie ich Freund Reinhart in Aricia überraschen würde, der jetzt daselbst sein wollte. Ungefähr sieben Minuten mochte ich so fortgewandelt sein, da stürzten links aus dem Gebüsche vier Kerle auf mich zu. Ihre Botschaft erklärte sich sogleich. Einer faßte mich bei der Krause, und setzte mir den Dolch an die Kehle; der andere am Arm, und setzte mir den Dolch auf die Brust; die beiden übrigen blieben dispositionsmäßig in einer kleinen Entfernung mit aufgezogenen Karabinern. In der Bestürzung sagte ich halb unwillkürlich auf Deutsch zu ihnen: Ei so nehmt denn ins Teufels Namen alles, was ich habe! Da machte einer eine doppelt gräßliche Pantomime mit Gesicht und Dolch, um mir zu verstehen zu geben, man würde stoßen und schießen, sobald ich noch eine Silbe spräche. Ich schwieg also. In Eile nahmen sie mir nun die Börse und etwas kleines Geld aus den Westentaschen, welches beides zusammen sich vielleicht auf sieben Piaster belief. Nun zogen sie mich mit der vehementesten Gewalt nach dem Gebüsche, und die Karabiner suchten mir durch richtige Schwenkung Willigkeit einzuflößen. Ich machte mich bloß so schwer als möglich, da weiter tätigen Widerstand zu tun der gewisse Tod gewesen wäre: man zerriß mir in der Anstrengung Weste und Hemd. Vermutlich wollte man mich dort im Busche gemächlich durchsuchen und ausziehen, und dann mit mir tun, was man für gut finden würde. Sind die Herren sicher, so lassen sie das Opfer laufen; sind sie das nicht, so geben sie einen Schuß oder Stich, und die Toten sprechen nicht. In diesem kritischen Momente, denn das Ganze dauerte vielleicht kaum eine Minute, hörte man den Wagen von oben herabrollen und auch Stimmen von unten: sie ließen mich also los, und nahmen die Flucht in den Wald. Ich ging etwas verblüfft meinen Weg fort, ohne jemand zu erwarten. Die Uhr saß, wie in Sizilien, tief, und das Taschenbuch stak unter dem Arme in einem Rocksacke: beides wurde also in der Geschwindigkeit nicht gefunden. Die Kerle sahen gräßlich aus, wie ihr Handwerk; keiner war, nach meiner Taxe, unter zwanzig, und keiner über dreißig. Sie hatten sich gemalt, und trugen falsche Bärte; ein Beweis, daß sie aus der Gegend waren, und Entdeckung fürchteten.

Rückzug auf Wollkowice

Die Parcs brachen bereits nach Mitternacht dahin auf, die Infanteriedivisonen folgten in Distanze, und die Cavallerie als Nachhut machte früh in der 4. Stunde den Beschluß. Die vor Kälte hellfunkelnden Sterne leuchteten, der gefrohrene Schnee wich knarrend und sich streubend, den vorwärts schreitenden Füßen und der hungrige Magen accompagnirte knurrend zum Ganzen; - so erreichten wir gegen Mittag den Abhang herunter defilirend, Wollkowice, das in einem Thale liegend sich hinstreckt, hinten sich von sanften u. ansteigenden Anhöhen sich umgebend, und, was bei dem späteren Brande und Erwärmen [?] der Häuser sich zeigte, ein nicht unbedeutendes Handelsstädtchen war.
Das 7. Armee Corps, zu welchem seit kurzem noch die französische Infanterie Division Durutte (aus lauter ausgetretenen Conscribisten bestehend, die in Batallons formirt und nach ihren Provinzen benannt, sonst aber ohne No und andere militärische Ehrenzeichen waren) und einige Batallions Würzburger gestoßen waren, nahm seine Stellung gleich hinter dem Städtchen, während in selbigem das Hauptquartier, die Stäbe der Divisonen und Brigaden, sowie die Kranken und Bleßirten untergebracht wurden, und jenseits der Stadt mehrere Infanterie Abteilungen zur Deckung des zur Stadt führenden Defilées vorpostiert waren. Kaum hatten wir diese Stellung bezogen, sozeigten sich auf den jenseitigen steilen Anhöhen einzelne Kosaken um unsere Stellung in Augenschein zu nehmen.
Da die Nähe der Scheunen und Häuser Baumaterialien zu Baraquen darbot, so ward gar bald gegen die Witterung für Schutz gesorgt, das trockene Holz wirbelte knisternd in lodernder Flamme empor und bereitete das genügsame, wenn auch dürftige Mahl, und als wieder funkelnd die Sterne am Horizont erschienen und Mann und Pferd sich erquickt hatten, schlüpfte (wenn nicht Dienstbestimmung abhielt) ein jeder in das enge schaurige Hüttchen, um hier bei einer anscheinend gefahrlosen Stellung den Körper für einige überstandene schlaflose Nächte wieder schadlos zu halten. - Doch! - Der Mensch denkt, Gott lenkt!

Ich denke dran

Und nun begann ein Jagen und Haschen, bei dem Lene wirklich nicht gefangen werden konnte, bis sie zuletzt vor Lachen und Aufregung so abgeäschert war, daß sie sich hinter die stattliche Frau Dörr flüchtete.
»Nun hab' ich meinen Baum«, lachte sie, »nun kriegst du mich erst recht nicht.« Und dabei hielt sie sich an Frau Dörrs etwas abstehender Schoßjacke fest und schob die gute Frau so geschickt nach rechts und links, daß sie sich eine Zeitlang mit Hilfe derselben deckte. Plötzlich aber war Botho neben ihr, hielt sie fest und gab ihr einen Kuß.
»Das ist gegen die Regel; wir haben nichts ausgemacht.« Aber trotz solcher Abweisung hing sie sich doch an seinen Arm und kommandierte, während sie die Gardeschnarrstimme nachahmte: »Parademarsch... frei weg« und ergötzte sich an den bewundernden und nicht endenwollenden Ausrufen, womit die gute Frau Dörr das Spiel begleitete.
»Is es zu glauben?« sagte diese. »Nein, es is nich zu glauben. Un immer so un nie anders. Un wenn ich denn an meinen denke! Nicht zu glauben, sag' ich. Un war doch auch einer. Un tat auch immer so.«
»Was meint sie nur?« fragte Botho leise.
»Oh, sie denkt wieder... Aber, du weißt ja... Ich habe dir ja davon erzählt.«
»Ah, das ist es. Der. Nun, er wird wohl so schlimm nicht gewesen sein.«
»Wer weiß. Zuletzt ist einer wie der andere.«
»Meinst du?«
»Nein.« Und dabei schüttelte sie den Kopf, und in ihrem Auge lag etwas von Weichheit und Rührung. Aber sie wollte diese Stimmung nicht aufkommen lassen und sagte deshalb rasch: »Singen wir, Frau Dörr. Singen wir. Aber was?«
»Morgenrot...«
»Nein, das nicht... ›Morgen in das kühle Grab‹, das ist mir zu traurig. Nein, singen wir ›Übers Jahr, übers Jahr‹, oder noch lieber ›Denkst du daran‹.«
»Ja, das is recht, das is schön; das is mein Leib- und Magenlied.«
Und mit gut eingeübter Stimme sangen alle drei das Lieblingslied der Frau Dörr, und man war schon bis in die Nähe der Gärtnerei gekommen, als es noch immer über das Feld hinklang: »Ich denke dran... ich danke dir mein Leben« und dann von der andren Wegseite her, wo die lange Reihe der Schuppen und Remisen stand, im Echo widerhallte.
Die Dörr war überglücklich. Aber Lene und Botho waren ernst geworden.
(Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen, 9. Kapitel)

Erst im 21. Kapitel des Romans erfahren wir den vollständigeren Text der Strophe, als Botho zu Frau Nimptschs Grab fährt, um ihr einen Immortellenkranz zu bringen. Da heißt es:
[...] ein hübsches Dienstmädchen aber, das an der Giebelseite des Hauses mit Fensterputzen beschäftigt war und den um- und rückschauhaltenden Blick des jungen Offiziers sich zuschreiben mochte, schwenkte lustig von ihrem Fensterbrett her den Lederlappen und fiel übermütig mit ein: »Ich denke dran, ich danke dir mein Leben, doch du Soldat, Soldat, denkst du daran?«

Wer sich über Schauplätze von "Irrungen Wirrungen" in Berlin informieren will, findet eine Reihe davon in dieser Karte eingezeichnet. 

Das Ohr des Dyonysos

Wir gingen zu den Latomien und zwar zu dem berüchtigten Ohre des Dionysius. Akustisch genug ist es ausgehauen und man hat ihm nicht ohne Grund diesen Namen gegeben. Ein Blättchen Papier, das man am Eingange zerreißt, macht ein betäubendes Geräusch, und wenn man stark in die Hand klatscht, gibt es einen Knall wie einen Büchsenschuß, nur etwas dumpfer. Wir wandelten durch die ganze Tiefe, und darin hin und her. Landolina zeigte mir vorzüglich die Art, wie es ausgehauen war, die ich Dir aber als Laie nicht mechanisch genau beschreiben kann. Man hob sich von unten hinauf auf Gerüsten, wovon man noch die Vertiefungen in dem Felsen sieht, und erhielt dadurch eine Höhlung von einem etwas schneckenförmigen Gang, der ihm wohl vorzüglich die lange Dauer gesichert hat. Bei Neapel habe ich, wenn ich nicht irre, etwas ähnliches in den Steingruben des Posilippo bemerkt. Nirgends ist aber die Methode so vollendet ausgearbeitet, wie hier in diesem Ohre. Ob Dionysius dasselbe habe hauen lassen, ließe sich noch bezweifeln, obgleich Cicero der Meinung zu sein scheint; aber daß er es zu einem Gefängnisse habe einrichten lassen, hat wohl seine Richtigkeit. Cicero nennt es einen schrecklichen Kerker. Hin und wieder sieht man noch Ringe in dem Felsen, in der Höhe und an dem Boden, und auch einige durchgebrochene Höhlungen, in denen Ringe gewesen sein mögen. Diese gelten für Maschinen die Gefangenen anzuschließen. Wer kann darüber etwas bestimmen? Oben am Eingange ist das Kämmerchen, welches ehemals für das Lauscheplätzchen des Dionysius galt. Es gehört jetzt viel Maschinerie dazu, von unten hinauf oder von oben herab dahin zu kommen. Ich bin also nicht darin gewesen. Landolina erklärt das Ganze für eine Fabel, die Tzetzes zuerst erzählt habe. Dieses Behältnis hat durch Erdbeben sehr gelitten; an der tiefen Höhle selbst aber, oder an dem eigentlichen Ohre, ist kein Schade geschehen.

Tschernobyl

7. Und der erste Engel blies, und es ward Hagel und Feuer, mit Blut vermischt, und fiel auf die Erde; und der dritte Teil der Bäume verbrannte, und alles grüne Gras verbrannte.
8. Und der zweite Engel blies, und es stürzte sich wie ein großer Berg mit Feuer brennend ins Meer, und der dritte Teil des Meeres ward Blut.
9. Und der dritte Teil der Geschöpfe im Meer, welche Seelen hatten, starb, und der dritte Teil der Schiffe ging zugrunde.
10. Und der dritte Engel blies, und es fiel vom Himmel ein großer Stern, der wie eine Fackel brannte, und fiel auf den dritten Teil der Flüsse und auf die Wasserquellen.
11. Und der Name des Sternes heißt Wermut; und der dritte Teil der Wasser ward Wermut, und viele Menschen starben von den Wassern, weil sie bitter geworden waren.
(Offenbarung des Johannes, 8. Kapitel)
Tschornobyl oder Tschornobylnyk (Чорнобиль, Чорнобильник) bedeutet in der ukrainischen Sprache "Beifuß", lateinisch Artemisia vulgaris. Der „Wermut“ gehört zur gleichen Pflanzengattung und heißt auf lateinisch Artemisia absinthium.

Als Büscher auf seinem Fußmarsch von Berlin nach Moskau nach Minsk kommt, macht er mit einem "Liquidator" einen Abstecher in die atomverseuchte weißrussische Zone . Dort weist man ihn im Museum auf die Stelle in der Offenbarung und auf die Namensbeziehung zwischen Beifuß (Чорнобильник) und Tschornobyl hin.

18 Februar 2007

Stiefel

Morgen gehe ich nach Grimme und Hohenstädt, und da will ich ausruhen trotz Epikurs Göttern. Mir deucht, daß ich nun einige Wochen ehrlich lungern kann. Wer in neun Monaten meistens zu Fuße eine solche Wanderung macht, schützt sich noch einige Jahre vor dem Podagra. Zum Lobe meines Schuhmachers, des mannhaften alten Heerdegen in Leipzig, muß ich Dir noch sagen, daß ich in den nämlichen Stiefeln ausgegangen und zurückgekommen bin, ohne neue Schuhe ansetzen zu lassen, und daß diese noch das Ansehen haben, in baulichem Wesen noch eine solche Wanderung mitzumachen.

Gefecht bei Labienice

Der 12. November traf uns aux Bivouaq bei Hornostowiec, einem in einem freundlichen Thale gelegenen Dörfchen an. Der darauf folgende Morgen war bei harten Frost und hohen Schnee äußerst heiter und sonnicht. Die Seiten dieses Thals bildeten Gebirgsketten mit Holz begränzt, von uns auf einer sanft anlaufenden Anhöhe, die mit Feldwachten garniert war, führte die Landstraße nach dem von Feinden besetzten Porosow und uns im Rücken lag Labienice mit einem schönen großen Schloß oder Kloster, worinnen sich das Hauptquartier des Generalobersten Reynier befand.
In den Vormittagsstunden dieses so heiteren 12. Novembers, meldeten unsere Vorposten, daß sie stark gedrängt würden und von Porosow her sich mehrere feindliche Kolonnen zeigten. Da die Sonne ihre Strahlen auf die uns vorliegende Anhöhe warf, so konnte man auf der über ihren Rücken führenden Straße das Blinken der Gewehrläufe von Infanterie Maßen sehr deutlich wahrnehmen, die sich in das Thal hinunterwälzten.
Es war das ganze Sackensche Corps, was sich, um uns anzugreifen in Bewegung gesezt hatte. Unsere Feldwachten retirierten [?] sich auf das Corps, was indeß aus seinem Bivouaq ausgerückt war und sich rückwärts bei Labienice aufgestellt hatte. Das Gefecht begann und dauerte bis die eintretende Nacht ihm Schranken sezte. Der Feind, der uns zu umflügeln drohte und die mit Geschütz bedeckten Berge innehatte, wurde bei seinem Herandringen jedesmal kräftig zurückgewiesen und völlig im Zaum gehalten.
Wir behaupteten daher unsere Stellung, und die Nacht wurde mit den Waffen in der Hand in selbiger zugebracht. Der Beschluß dieses Tages für das Regiment bestand in 1. Todten und 2. gebliebenen Pferden, 2. Vermißten 7. Bleßirten und 20. Bleßirten und vermißten Pferden.
Da das 7. Armée Corps inzwischen ungleich schwächer als das feindliche war, und vom Fürsten Schwarzenberg wegen der Entfernung keine schleunige Unterstützung erwartet werden konnte, so bewog dieses den General Reynier, seinem Plan entgegen sich auf Wollkowice zurückzuziehen, den Fürsten Schwarzenberg aber hiervon in Kenntniß zu sezen.

Holz, Waßer und Morast

Den 15ten und 16ten July hatten wir über Kleke und Slono noch guten Weg, und am lezten Tage bei Niewicice einen nicht ganz mageren Bivouacq, indem die dasigen Güther des rußischen General Bennigson manchen die Lebensmittel lieferten. Das Uhlanen Regiment Prinz Clemens trennte sich an lezten Tage von der Avantgarde und wurde denen Infanteriedivisionen, die wie oben erwähnt einen anderen Weg einschlugen, zugetheilt.

Den 17ten ejsd [eiusdem=dieses Monats] erreichten wir endlich die so unwirtbare Gegend und ein 9stündiger Marsch, mit welchem wir nur die Distanz von 5 Stunden zurücklegten, führte uns durch Holz, Waßer und Morast auf den Bivouacq bei Lipsk.

Eginhard

»Du solltest dich erst ruhen«, sagte der Oberst. »Es ist heiß, und der Weg wird dich ermüden.«
Aber die schöne Frau, die regelmäßig andern Sinnes war, wenn St. Arnaud auf ihr Ruhebedürfnis oder gar auf ihre Schwächezustände hinwies, widersprach auch diesmal und versicherte, während sie sich gegen den Privatgelehrten, um dessen Begleitung sie schon vorher gebeten hatte, verneigte: »bei gutem Gespräche noch niemals müde geworden zu sein.«
Ein Verklärungsschimmer ging über Eginhard, der, bei seinem Hange zu generalisieren, sofort auch Betrachtungen über die Superiorität aristokratischer Lebens- und Bildungsformen anstellte. Zugleich war er fest entschlossen, sich eines so schmeichelhaft in ihn gesetzten Vertrauens würdig zu zeigen, war aber nicht glücklich damit, wie sich gleich bei seinem ersten Versuche herausstellen sollte.
»Miquelscher Privatbesitz, meine Gnädigste«, hob er an, während er auf eine noch innerhalb der Dorfstraße gelegene, von einem herrschaftlichen Garten umgebene Villa zeigte.
»Wessen?« fragte Cécile.
»Doktor Miquels. Ehedem Bürgermeister von Osnabrück, jetzt Oberbürgermeister zu Frankfurt.«
»An der Oder?«
»Nein; am Main.«
»Aber was konnte diesen Herrn veranlassen, von so landschaftlich bevorzugter Stelle her, gerade hier sich anzukaufen und in diesem einfachen Harzdorfe seine Sommerfrische zu nehmen?«
»Eine wohl aufzuwerfende Frage, deren einzig mögliche Beantwortung mir in der Deutschkaiserlichkeit des Doktor Miquel zu liegen scheint, ein Wort, das, trotz seiner sprachlichen Anfechtbarkeit, den Gedanken genau wiedergibt, den ich Ihnen, meine gnädigste Frau, des ausführlicheren unterbreiten möchte. Darf ich es?«
»Ich bitte recht sehr darum.«
»Nun denn, es darf als historische Tatsache gelten, daß wir Männer besaßen und noch besitzen, in denen das Kaisertum bereits mächtig lebte, bevor es noch da war. Es waren das die Propheten, die jeder großen Erscheinung vorauszugehen pflegen, die Propheten und Täufer.«
»Und zu diesen zählen Sie...«
»Vor allem auch Doktor Miquel von Frankfurt. In der Tat, er war unter denen, in deren Brust der Kaisergedanke von Jugend auf nach Verwirklichung rang. Aber wo war diesem Gedanken am besten eine Verwirklichung zu geben? Wo durft er am ehesten Nahrung finden und Förderung erwarten? Und auf diese Fragen, meine gnädigste Frau, gibt es nur eine Antwort: hier. Denn hier, an dieser gesegneten Harzstelle, predigt alles Kaisertum und Kaiserherrlichkeit. Ich spreche nicht von dem ewigen Kyffhäuser, der ohnehin schon halb thüringisch ist, aber speziell hier, am harzischen Nordrande, gibt jeder Fußbreit Erde wenigstens einen Kaiser heraus. In der Quedlinburger Abteikirche, die Sie, wie mir zu meiner Freude bekannt geworden, durch Ihren Besuch beehrt haben, ruht der erste große Sachsenkaiser, im Magdeburger Dome der noch größere zweite. Sie mit Namen zu behelligen, meine gnädigste Frau, kann mir nicht einfallen. Aber ich bitte Tatsachen geben zu dürfen. In Harzburg, auf der Burgberg-Höhe (deren Besteigung ich Ihnen empfehlen möchte; Sie finden Esel am Fuße des Berges) stand die Lieblingsburg des zu Canossa gedemütigten Heinrich, und zu Goslar, in verhältnismäßiger Nähe jener Burgberg-Höhe, haben wir bis diese Stunde die große Kaiserpfalz, die die mächtigsten Herrschergeschlechter, die Träger des ghibellinischen Gedankens in schon vorghibellinischer Zeit, in ihrer Mitte sah. Also Kaiser-Erinnerungen auf Schritt und Tritt. Und hierin, meine gnädigste Frau, seh ich den Grund, der Doktor Miquel, den Mann des Kaisergedankens, in speziell diese Gegenden zog.«
»Unzweifelhaft. Und Sie sprechen das alles mit solcher Wärme.«
Der Privatgelehrte verneigte sich.
»Mit solcher Wärme, daß ich annehmen möchte, Sie selber seien mit unter den Propheten und Täufern gewesen und Ihre Studien fänden ihren Gipfelpunkt in einer begeisterten Hingebung an die deutsche Kaisergeschichte.«
»Gewiß, meine gnädigste Frau, wennschon ich Ihnen offen bekenne, daß der Gang unserer Geschichte nicht der war, der er hätte sein sollen.«
»Und was ist es, woran Sie Anstoß nehmen?«
»Das, daß sich der Schwerpunkt verschob. Ein Fehler, der erst in unseren Tagen seine Korrektur erfahren hat. Als die Sachsenkaiser, die wir mit mindestens gleichem Recht auch die Harzkaiser nennen dürften, seitens der deutschen Stämme gekürt wurden, waren wir auf der rechten Spur und hätten, bei dem endlichen, aber nur allzu frühen Erlöschen des Geschlechts, den Schwerpunkt deutscher Nation nach Nordosten hin verlegen müssen.«
»Bis an die russische Grenze?«
»Nein, meine Gnädigste, nicht so weit; nach dem Lande zwischen Oder und Elbe.«
»Mit den Hohenzollern an der Spitze?«
»Doch nicht. Nicht damals. Wohl aber, statt ihrer, ein anderes großes Fürstengeschlecht an der Spitze, das in bereits vorhohenzollerscher Zeit das Land zwischen Oder und Elbe beherrschte, seitdem aber in unbegreiflich undankbarer Weise vergessen oder doch beiseite gestellt wurde: das Geschlecht der Askanier. Haben wir doch als einziges Denkmal und Erinnerungszeichen an diese ruhmreiche Familie nichts als den Askanischen Platz, eine mittelmäßige Lokalität, die täglich viele Tausende passieren, ohne mit dem Namen derselben auch nur die geringste historische Vorstellung zu verknüpfen.«
Cécile war selbst unter diesen.

Spaziergang

Seume reiste1"801/1802 nach Syrakus und legte weite Teile der 6.000 km zu Fuß zurück. Am Ende seines Werkes Spaziergang nach Syrakus schrieb Seume nicht gleich eine Elegie auf seinen Schuhmacher namens Heerdegen (wie Johann Wolfgang von Goethe auf Johann Martin Mieding), doch gedachte er seiner in folgenden Worten: „…Zum Lobe meines Schuhmachers, des mannhaften alten Heerdegen in Leipzig, muß ich Dir noch sagen, daß ich in den nämlichen Stiefeln ausgegangen und zurückgekommen bin, ohne neue Schuhe ansetzen zu lassen, und daß diese noch das Ansehen haben, in baulichem Wesen noch eine solche Wanderung mitzumachen.“ Dazu kam es dann in den folgenden Jahren wohl auch. Allerdings musste er ihre Besohlung während seines Spazierganges in Palermo zum zweitenmal reparieren lassen, wie er selbst schrieb." (Wikipedia)
Ich schnallte in Grimme meinen Tornister, und wir gingen. Eine Karawane guter gemütlicher Leutchen gab uns das Geleite bis über die Berge des Muldentals, und Freund Großmann sprach mit Freund Schnorr sehr viel aus dem Heiligtume ihrer Göttin, wovon ich Profaner sehr wenig verstand. Unbemerkt suchte ich einige Minuten für mich, setzte mich oben Sankt Georgens großem Lindwurm gegenüber und ''betete mein Reisegebet, daß der Himmel mir geben möchte billige, freundliche Wirte und höfliche Torschreiber von Leipzig bis nach Syrakus, und zurück auf dem andern Wege wieder in mein Land; daß er mich behüten möchte vor den Händen der monarchischen und demagogischen Völkerbeglücker, die mit gleicher Despotie uns schlichten Menschen ihr System in die Nase heften, wie der Samojete seinen Tieren den Ring.'' [...]

In Budin, einem Orte wo allgemeine Verlassenheit zu sein scheint, traf ich bei dem Juden ''Lasar Tausig'' eine kleine Sammlung guter Bücher an, und ließ mir von ihm, da er Lessings Nathan einem Freunde geliehen hatte, auf den Abend Kants Beweisgrund zur einzig möglichen Demonstration über das Dasein Gottes geben.

Die polnische Gräfin

Graf Mankowski war von einer Vornehmheit, "die es vorzieht, eine Anekdote zu reichen, statt Recht haben zu müssen", ein echter Fontanescher Plauderer also, das Gegenbild seiner Privatgelehrten und Verbiesterten. Zu erzählen wäre die Geschichte einer Polin, die sieben deutsche Offiziere für sich gewinnt. Zu malen das Bild, nicht des Kaisers, aber eines ebenso unbedingten Gehorsam fordernden polnischen Offiziers, der fünf polnischen Soldaten, die auf einen deutschen Offizier einschlagen, dies verweist, aber nicht den Gehorsam findet, den der junge Napoleon bei seinen Truppen fand, sondern angeschossen, lebensgefährlich verletzt "in einem Lazarett irgendwo in Zentralpolen" liegt. Der Feldwebel, der der polnischen Gräfin gefällig ist, der deutsche General, der hilft, sie gehören noch zur romantischen Erzählung. Die Gestapo, die Befehle eines Generals zerreißt, der Zug, in dem die Familie vereint mit anderen polnischen Gefangenen der Erschießung entgegenfährt, er hat schon etwas vom Zug nach Oświęcim, dem Zug, der auch in Jurek Beckers "Jakob der Lügner" fährt. Doch dann tut sich eine Tür zu einem Abteil auf, in dem deutsche Wehrmachtsoffiziere sitzen, und die Geschichte der polnischen Gräfin kann fortfahren, von ihrem "Standesdünkel" zu berichten, der ihr Leben und dreimal das ihres Mannes retten sollte. Und vom "weißen Araberhengst Dahoman, am herbstlich sich färbenden Waldrand", mit dem sie galoppiert. Und vom Oberst, dem dies Bild "Glut in die Asche seiner Jugendträume" haucht.

Sachse in Russland

Groß, - und in strategischer Hinsicht fast unübersehbar war der Flächenraum, auf welchen der Krieg von 1812/1813 geführt wurde, groß waren die Heeresmaßen die man gegen­einander führte und [die] sich für so verschiedenes Intereße stritten, - groß waren die Ereigniße, die theils dieser Feldzug momentan mit sich führte, theils später noch zur Folge hatte, aber größer noch, und in der Geschichte nicht seines gleichen habend, waren die Verheerungen, Auflösungen und das Dahinschwinden der Kriegsmaßen, die Hunderte von Meilen entfernt wurden, und - solche meist nie wieder sahen.
Übermäßige Kraftanstrengungen in einem Winterfeldzuge auf den eisigen Gefilden des Nordens, eine anhaltende strenge Kälte von 30. Graden und darüber bei einer Blöße von den notdürftigsten Bekleidungsstücken, die selbst den Insaßen [Einheimischen] gefährdete, - ein vorhergegangenes Kriegsjahr, das schon bei der gewöhnlichen Volkszahl manchen Einwohner mit dem Hungertodte bedrohte, ein größtentheils schlecht organisiertes, oder vielmehr gar kein geregeltes Verpflegungssystem, welches auch die wenigen Vorräthe die ja noch hin und wieder bestanden, dem ersten besten der sie ausmittelte, der willkührlichen Vergeudung preisgaben, und zuletzt eine erdrückende Übermacht, dies waren die Hauptursachen, die jener Verheerung zum Grunde lagen.

14 Februar 2007

Männer, die gehen

Die einen gehen zur Politik, die anderen gehen nach Moskau. Zufrieden ist die junge polnische Mutter mit ihrem Mann genauso wenig wie mit Wolfgang Büscher, den sie auf seiner Wanderung von Berlin nach Moskau bei sich aufgenommen hat.

13 Februar 2007

Grass

"Grass ist nicht interessiert, die Wahrheit zu erfahren." "perfider Fehler", ungeheure Infamie" hieß es in Reich-Ranickis "Literarischem Quartett". Und über Grass' Wünsche an literarische Kritik meinte Ranicki: "Das hat Goebbels auch gewollt."
Solche Kritik an einem Werk eines der anerkanntesten deutschen Schriftsteller macht neugierig.
Es enthält die Lebensgeschichte Fontanes gespiegelt in einem erfundenen 100 Jahre später geborenen Doppelgänger, der die DDR erleidet und nach ihrem Zusammenbruch in der Treuhandanstalt arbeitet. Begleitet wird er fast stets von seinem "Tag- und Nachtschatten" Hoftaller (nach Schädlichs Tallhover).
Das Buch hat auch aus meiner Sicht seine Schwächen und Längen. Dass die Figuren darin nicht leben, ist keine ganz unzutreffende Kritik - doch nicht nur im Uwe-Johnson-Kapitel, auf das Reich-Ranicki selbst verweist -, sondern spätestens mit dem Auftritt der unehelichen Enkelin des Helden ist sie ganz gewiss eindeutig widerlegt.
Wie diese französische Madeleine mit "Fonty"/Fontane/Theo Wuttke zusammen "Gideon ist besser als Botho" ruft, das wirkt lebendig, auch wenn es eindeutig als hommage an Fontane gedacht ist (Im 21. Kapitel, S.430 meiner Ausgabe). Ist dieser Schluss von "Irrungen, Wirrungen" doch von der Aussagekraft Schillerscher Dramenschlüsse.
Gleichzeitig klingt aber auch das wehmütige "Ich denke dran ... ich danke dir mein Leben" aus dem Feldspaziergang von Botho, Lene und Frau Dörr (am Schluss des 9. Kapitels) an. Doch so munter es gerufen wird, enthält es ja doch eine herbe Kritik am Leben des informellen Mitarbeiters Theo Wuttke. (Da dieser mit Fontane nahezu gleichgesetzt wird, empört die Kritiker natürlich die Rechtfertigung des IM-Daseins, die darin indirekt enthalten ist. - Denn Fontane war zwar ein energischer Kritiker des Bismarckreichs, doch hat er sich damit arrangiert. Nichts mehr von dem Revolutionär von 1848, dem er in seinen Lebenserinnerungen mehr Herz als Verstand nachsagt.)
(Günter Grass: "Ein weites Feld", 1995)

sieh auch:
Jutta Osinski: Aspekte der Fontane-Rezeption bei Günter Grass. Ein Vortrag vom Februar 1996 über den Roman „Ein weites Feld“

"[...] Grass‘ neuer Roman „Ein weites Feld“, dem ich meine Ausführungen widme, hat mir so gut gefallen, daß ich das zum Ausdruck bringen und begründen möchte. Wir sollten die Literaturkritik nicht den Feuilletons überlassen. Dort ist der Roman so oft verrissen worden, daß die Rezensionen wohl viele potentielle Leser, wenigstens in den alten Bundesländern, von der Lektüre abgehalten haben. [...]
Martina hat nichts von Fontane gelesen, aber, ich zitiere, „Sekundärliteratur kriegen wir mit, jedenfalls so viel, daß man den Durchblick hat und ihn einordnen kann, wie unser Prof. sagt, ungefähr zwischen Raabe und Keller“. Fonty versucht darauf, ihr „den immerhin möglichen Gewinn beim Lesen von Originaltexten anzupreisen.“ (S. 296f.) Gegen Martina Grundmann steht Madeleine Aubron, die französische Enkelin Fontys und ebenfalls Germanistikstudentin. Sie hat eine literarhistorische Ausbildung alter Schule genossen und kennt sich in der Biographie des Unsterblichen ebenso gut aus wie in dessen Werken. Und sie ist als eine von Fontys Art dargestellt – ausgestattet mit der Fähigkeit, Texte, Fakten, die Wirklichkeit, wie sie ist, aus der Perspektive von Imaginiertem zu durchdringen und so den Erkenntniswert von Fiktionen für die Wirklichkeit zu bestätigen. [...]
 Fragt man sich, was aus dem dekonstruktivistischen Kampfruf bei Grass und in der Gegenwartsliteratur überhaupt geworden ist, so kann man ihn als widerlegt betrachten: Der Autor ist keineswegs tot, sondern biographische Interessen feiern fröhliche Urständ. [...] Und wenn Grass die Biographie Fontanes zum Muster seiner Fonty-Figur macht, kann, rezeptionsästhetisch betrachtet, vom Tod des Autors ebenfalls keine Rede sein. Ohne eine ziemlich genaue Kenntnis der Biographie Fontanes und seiner Werke, also auch der Unterschiede zwischen historisch-biographischen Fakten, Fiktionen, dem Autor und seinem Roman-Personal kommt man der Konstruktion von „Ein weites Feld“ nicht auf die Schliche. Andererseits aber, von dieser Konstruktion aus betrachtet, aus textheoretischer Perspektive also, ist der Autor doch tot – denn der Roman führt Fontanes Biographie nicht als solche vor, sondern als Wirkung, als Effekt eines Verstehens von Texten. Der Autor Fontane entsteht sozusagen erst im Prozeß der Romanlektüre – er wird im Raum des Intertexts als Autor-ität konstruiert.
Es geht nicht darum, ob ich mich für eine biographistische oder für eine dekonstruktivistische Lektüre entscheide, denn Fontane kann sowohl als Urheber seiner Werke wie auch als literarisches Produkt angesehen werden. Wie sagt Fonty, bevor er abtaucht? „Zweifelsohne werde ich mir selbst nun zum jüngsten Kind meiner Laune“ (S. 779). [...]"