30 April 2011

Wirkungen des Theaters auf Kinder

Der Tanzmeister Stengel hob die Kunst wieder und setzte Soccus und Kothurn in ihre alten Rechte wieder ein. Die Bühne war schon aus dem Thorwege auf den Allmann’schen Saal gewandert, sie sollte höher steigen, Stengel brachte sie auf den Rathhaussaal; mein alter Freund war zwei Mann hoch aufgetreten, wobei ich seine Frau für einen vollen Mann rechne, Stengel trat schon vier Mann hoch auf, wobei ich seine Frau für zwei Mann rechne, denn sie mußte in jeder Vorstellung in zwei Rollen auftreten, einmal im Weiberkleide und einmal im Beinkleide. In letzterem spielte sie immer junge Herren, die fast immer mit einer Reitpeitsche auftraten – die arme Frau! Es war dieselbe Reitpeitsche, die Stengel gegen sie mißbrauchte. Ihre Schwester, die kurzweg Schwägerin genannte Dame, spielte die Liebhaberin, und wenn eine Kußscene vorkam, so wurde sie von den beiden Liebesleuten bis zu den äußersten Consequenzen zum Besten der Illusion durchgeführt, ohne daß das Publikum ein Ärgerniß daran nehmen konnte, weil die verwandtschaftliche, sowie die geschlechtlichen Verhältnisse bekannt waren. Stengel selbst spielte alles Mögliche, am besten gelangen ihm die brutalen Charaktere, die in die Kategorie der polternden Alten einschlagen; die Natur schien ihn für dergleichen Rollen eigens geschaffen zu haben. – Das Repertoir war sehr reichhaltig; es umfaßte das Rührspiel, das Lustspiel, die Operette und das Ballet. Das Letzte war gleichsam eine Art Empfehlungskarte, welche Stengel zum Schlusse jeder Vorstellung dem Publikum überreichte, um neue Tanzschüler zu gewinnen und um seine Beine doch einmal in ihrer gewerblichen Arbeit zu zeigen. Er schlug bei diesen Gelegenheiten mit seinen plumpen Füßen sogenannte Entrechats, die im richtigsten Verhältniß zu der Schwere des dabei aufgewandten Materials auf die hohlen Bretter niederknallten – Die Operette war der schwächste Theil der Darstellungen; bei Stengel hatte sich alle Kunst unterwärts nach den Beinen zu concentrirt, die obere Partie, Kopf, Hals und Stimmorgane waren leer ausgegangen; er sang, aber die Leute sagten: "dat is ok dornah!" – Frau Stengel sang gar nicht, und so sollte es denn die Schwägerin allein thun, und zu einem so umfassenden Geschäfte reichte ihre kleine, feine Stimme nicht aus. Dazu kam noch, daß der alte Dr. Sparmann, der in Berlin Opern gehört haben wollte, den Ausspruch gethan haben sollte, sie singe einen halben Ton zu hoch, was sich die Stavenhäger durchaus nicht gefallen lassen wollten und füglich auch nicht konnten; und so kam es denn, daß, im Gegensatz zu der heutigen Zeit, die Opernvorstellungen nicht besucht wurden, und daß das Theater leer war, wenn es hies: "Hüt Abend singen s’ wedder." – Die Oper mußte aus finanziellen Gründen eingestellt werden. Das Lustspiel und vor Allem das Rührspiel behaupteten sich, und ich war ihr dankbarstes Publikum.

Nach langem, unter der Beihülfe von Onkel Herse und anderen Personen, welche die bildenden Eigenschaften des Theaters kannten, fortgesetzten Bemühen von Seiten Tante Christianens gab mein Vater die ihm abgedrungene Einwilligung zum Besuche des Theaters. Mein Vater hatte Unrecht, als er nachgab, und Recht, als er sich weigerte. Es giebt gar kein untrüglicheres Mittel, um unwahre Vorstellungen in der Seele eines Kindes zu erzeugen, als ein schlechtes Theater. Das Kind lacht über die faden Harlekinaden, über die man als eine Entwürdigung der menschlichen Natur weinen sollte, und es weint bei dem abgeschmackten Rührbrei, über den man als vollständigen Gegensatz gegen die Wirklichkeit lachen sollte, wie über eine Travestie. Die dick aufgetragenen Farben der Darsteller fallen viel zu grell in das ungeübte Kinderauge und stumpfen den Sinn für Beobachtung und richtige Auffassung der milderen Farbentöne ab, wie sie die Wirklichkeit bietet; bei diesen stark gepfefferten Gerichten geht der Geschmack für geistige Genüsse ebenso sicher unter, wie der physische durch Mixpickles; die gewöhnlichen Pfannkuchen des Lebens wollen dann nicht mehr schmecken. Aber der größte Verlust bei dieser dramatischen Sudelkocherei ist der Untergang des Sinnes für die Reinlichkeit; es ist ganz gleich, in welchem schmutzigen Geschirre das Gericht aufgetischt wird, wenn seine Schärfe nur die Thränen in die Augen treibt, sei es die einer falschen Sentimentalität, oder die des erstickenden Gelächters. Sinnige Kinder versenken sich in diese falschen Vorstellungen und träumen sich zum Schaden ihres Gemüthes in eine unruhige Welt hinein; lebhafte Kinder machen’s den schlechten Schauspielern nach, und ihr Charakter kann zeitlebens einen Beigeschmack davon behalten, denn in der Kindheit ist der Assimilationsproceß ein sehr energischer, und die äußeren Eindrücke gehen rasch zu Fleisch und Blut.

Schon in Folge der fast gewaltsamen Eindrücke, die der erste Theaterbesuch auf das Kind macht, sollten Eltern und Erzieher aufmerksam werden und sich wohl überlegen, in welchem Alter eine solche Erschütterung ihres Pfleglings gewagt werden kann, sie sollten mit Sorgfalt das Stück und mit noch größerer die Darstellung auswählen. Es ist das eine höchst ernste, ich möchte fast sagen, heilige Sache, und es ist wahrlich nicht gleichgültig, ob man in die künstlerische Auffassung des Menschenlebens an der Hand Kotzebuescher Frivolität oder an der Schillerscher Idealität geführt wird. Der erste Eindruck haftet wunderbar fest; ich habe dies an mir selbst erfahren. Es sind jetzt über vierzig Jahre her, als ich den ‘armen Poeten’ als erste Darstellung gesehen habe, und als dies Stück vor zwei Jahren hier gegeben wurde, stand mir noch Alles so deutlich vor der Seele, daß ich im Nothfalle hätte souffliren können. Aber was machte dies – im Ganzen so unschuldige – Stück für einen Eindruck auf mich! – Ich habe geweint, als wenn mir Vater und Mutter gestorben wäre; Tante Christiane weinte neben mir, Onkel Herse hinter mir, und ab und an quoll durch seine Rührung der Ausruf durch: "En olles daemliches Stück!" Und als Stengel, als armer Poet, den Verlust der Gattin auf offnem Meere erzählte und die Arme ausstreckte und der Verlorenen ein letztes Lebewohl nachrief, da weinte ganz Stavenhagen, lster und 2ter Platz (Kinder bezahlen die Hälfte), und bei mir wurde die Rührung so bedenklich, daß Tante Christiane sich in ihrer eigenen unterbrach und mir einen Rippenstoß versetzte: "Jung’, lat doch dat Hulen sin, Du rohrst jo as en Roggenwulf!" – Aber wie spielte Stengel heut Abend auch schön! Wie hungerte und wimmerte er in seiner armen Poeteneigenschaft auf den Brettern umher! Da habe ich den ersten richtigen Begriff von den Nöthen und Kümmernissen eines Poeten eingesogen und bin dadurch von der dichterischen Laufbahn so abgeschreckt worden, daß ich erst dann ihren dornenvollen Pfad zu betreten mich entschloß, als ich alles Mögliche versucht hatte: Klutentreten und Dungfahren, Schulmeisteriren und Kinderschlagen und zuletzt gar noch städtische Angelegenheiten.
(Fritz Reuter: Meine Vaterstadt Stavenhagen)

28 April 2011

Stavenhagens Erste Liebhaberin

Die Productionen des brambow’schen Thorwegtheaters sind mir fremd geblieben, mein Vater litt den Besuch desselben durchaus nicht; aber meine Freunde versicherten mich, es sei sehr schön gewesen, sehr schön! Und ich will’s glauben. Auf eine Stavenhäger Seele haben die Darstellungen wenigstens einen unauslöschlichen Eindruck gemacht. Die Inhaberin verließ Vater und Mutter und folgte der Kunst. Cläre Saalfeld, die Tochter des alten Schusters Saalfeld, ging unter die Schauspieler. Sie ist meines Wissens das einzige Stavenhäger Kind, welches die dramatische Kunst praktisch ausgeübt hat, und nicht allein deswegen, sondern vorzüglich wegen einer Scene, in welcher die göttliche Kunst die nüchterne Wirklichkeit siegreich überwand, verdient ihr Name aufbewahrt zu werden.- Cläre war also – wie man sich damals unhöflich ausdrückte – weggelaufen. – Der alte Schuster Saalfeld donnerte ihr die väterlichsten Flüche nach. – Cläre wurde trotzdem erste Liebhaberin in der ganzen Bande; dunkele Gerüchte von ungeheuren Erfolgen der Liebhaberin gelangten nach Stavenhagen und auch zu den Ohren des Vaters. – Gute Freunde, die es damals noch mehr gab, als jetzt, und die damals noch nicht aufhetzten, wo sie beruhigen sollten, versöhnten den alten Schuster allmählich mit dem Gedanken, eine erste Liebhaberin zur Tochter zu haben. Er wurde milder gegen sie gestimmt, und Cläre wagte den ungeheuer kühnen Schritt, nach anderthalb Jahren in ihrer eigenen Vaterstadt in demselben Grambow’schen Thorwege, in welchem sie zuerst den berauschenden Becher der Kunst geleert hatte, trotz aller Störungen, welche die Illusion nothwendig erleiden mußte, als erste Liebhaberin aufzutreten. Die Kühnheit war groß, der Erfolg größer. – Die guten Freunde des alten Saalfeld hatten ihn in Erwartung der Dinge schon acht Tage vor dem Auftreten der Tochter bearbeitet, er solle Gnade für Recht ergehen lassen und die Liebhaberin als Tochter anerkennen – vergebens! Endlich erreichen sie das Aeußerste, wozu er sich verstehen will: er will in’s Theater gehen und seine Tochter selbst spielen sehen. – Es geschieht; der Vorhang geht auf; Cläre spielt wie ein leibhafter Engel, sie weiß, Aller Augen und auch ihres Vaters Augen sehen auf sie. – "Cläre Saalfeld ‘raus!" – Der alte Meister Saalfeld trocknet sich die Augen. – So geht es fast bis zum Schlusse. Da benutzt Cläre eine Stelle ihrer Rolle zum großartigsten Effect; sie knieet nieder und ruft: "Vater, vergieb mir!" – Meister Saalfeld hält’s nicht länger aus; er steht auf: "Min Döchting, wat heww ick Di tau vergewen; ick erlew’ jo nicks as Ihr un Freud’ an Di." – Mit dieser Scene beschloß Cläre ihre dramatische Laufbahn, sie trat ins bürgerliche Leben zurück und heirathete einen geistesverwandten Thorschreiber. Sie blieb bis an ihr Ende die erste Autorität Stavenhagens in dramatischen Dingen.
(Fritz Reuter: Meine Vaterstadt Stavenhagen)

Fritz Reuter: Stavenhagener Bildungsanstalten

Wer hat wohl nicht in seiner Jugend jenes niederdrückende, katzenjämmerliche Unbehagen empfunden, wenn es nach genossenen Jahrmarkts- und Königschuß-Freuden wieder zur Schule gehen heißt, wenn der sonnige Sommertag mit der müffigen Schulstube vertauscht werden soll und die kleinen gelenkigen Glieder verdammt sind, unter der Zuchtruthe des Präceptors in grausamer Unbeweglichkeit der endlichen, fröhlichen Auferstehung entgegen zu harren? Ich gestehe gerne ein, daß ich nie zu den sehr eifrigen Besuchern der Schule gehört habe, und glaube, daß mir dafür als Strafe jenes Unbehagen tief in die Seele geimpft ist, denn wenn ich jetzt in alten Tagen unruhig schlafe und von bösen Träumen gequält bin, so habe ich mich entweder nicht präparirt, oder irgend einer meiner vielen Lehrer hält mir ein schrecklich roth perlustrirtes Exercitium unter die Nase, das er mir dann schließlich um die Ohren schlägt, wonach ich dann stets erwache und Gott danke, daß ich nicht mehr nöthig habe in die Schule zu gehen. Aber es hilft nicht; ich habe versprochen, auch über die wissenschaftlichen Anstalten meiner Vaterstadt Bericht zu erstatten, ich muß also wieder in die Schule.

Es gab in Stavenhagen drei solcher Bildungsanstalten für den menschlichen Geist und Marteranstalten für das menschliche Sitzfleisch, die ich hier im aufsteigenden Klimax folgen lasse: ‘de Becker-Schaul’, ‘de Köster-Schaul’ un ‘de Rekter-Schaul’. Einen organischen Zusammenhang hatten diese drei Schulen durchaus nicht; man konnte in jeder anfangen und in jeder aufhören, oder man konnte mit demselben Nutzen alle drei durchmachen; denn von dem, was man heutzutage Methode nennt, war in allen dreien nicht die Rede, bloß in der Rektor-Schule wurden die Prügel nach einer festgestellten Methode verabfolgt, worüber ich an seinem Orte berichten werde.
Die Becker-Schule hat ihren Namen von der alleinigen Directrice und alleinigen Lehrerin, der Frau Becker oder ‘Mutter Beckersch’, wie sie von allen Leuten genannt wurde, einer sehr alten, emeritirten Weber-Wittwe, die dies Privat-Institut ohne Beihülfe von Staatsund Stadt-Mitteln auf eigene Faust begründet hatte, indem – wie der Stavenhägener Bürger sich damals ausdrückte – "sei ehre Nohrung dorvon söcht," die aber nur schwach sein konnte, da sie von jedem Insassen ihrer Bänke nur einen Schilling wöchentlich als Einspringe-Geld in die geheiligten Hallen der Wissenschaft erhob. – Hier wurden die Anfangsgründe aller Wissenschaft, ausdauerndes Sitzen und verständiges Maulhalten eingeübt. Wer damit durch war, kam ganz allmählich auf dem Wege der Buchstaben Kenntniß und des a-b, ab, b-a, ba in die Fibel, aus welcher er in dieser Schule nicht wieder herauskam. Frau Becker saß während der Lehrstunden auf einem Binsenstuhle, umgeben von ihrem kleinen Völkchen, welches in einstimmigem Unisono ihre alten treuen Lehrerohren mit a-b, ab, b-a, ba erfreute. In ihrer Hand hielt sie ein Instrument von eigener Erfindung, wie es für ihren gebrechlichen Körperzustand paßte, der ein öfteres Aufstehen nicht mehr erlaubte, eine Birkenruthe, die an einem Stück Bohnenstange befestigt war und mit welchem sie bis in die entferntesten Ecken ihres Schullokals reichen konnte, um jeden Versündiger gegen a-b, ab, b-a, ba auf der Stelle abstrafen zu können. Offenbare Bösewichter, bei denen die kindliche Birkenruthe nicht mehr fruchten wollte, wurden auf die beschämendste Weise dem öffentlichen Hohne preisgegeben; sie wurden mit einem gewaltigen Esel um den Hals vor die Thüre auf die Straße gestellt und dienten in ihrer Verworfenheit der gemeinen Sittlichkeit als abschreckendes Beispiel.
Unter diesen Bedingungen hätte sich nun vernunftgemäß ein hohes Ehrgefühl unter der städtischen Jugend entwickeln müssen; aber leider schlug die Sache gerade in’s Gegentheil um. Wenn ein solcher Eselträger öffentlich ausgestellt war, versammelte sich die übrige Jugend aus der Straße um ihn und baten ihn: "Korl, ick gew Di ok en Stück von minen Appel, lat mi ok mal eins den Esel ümhängen." – "Krischaening, nu mi mal! – Deihst ‘t nich? – Na täuw, ick nem Di ok nich wedder mit nah min Großmutting ehren Goren." – Ja, mein bester Freund, Karl Nahmacher, kam schon nach der zweiten Stunde, in der er sich hartnäckig gegen die Sitzverordnungen gesträubt hatte, jubelnd nach Hause zurück: "Mutting ick heww den Esel üm hatt! Vatting, ick heww mit den Esel up de Strat stahn!"

Den directen Gegensatz gegen diese bloß durch die Birkenruthe etwas gestörte Schulidylle bildete ‘de Köster-Schaul’; hier war von einer Appellation an das Ehrgefühl durchaus nicht die Rede, hier herrschte der Stock in seiner unverhülltesten Gestalt; statt von der Hand einer alten, schwachen, gutmüthigen Frau wurde hier das Züchtigungs-Instrument von der Faust eines vierschrötigen Einpaukers geschwungen, der unermüdet mit blauer Puckelschrift allerlei Bestellungen an die Fassungsgabe seiner Scholaren ausrichtete. – Die Schulstube des Küsters Voß sah ärger aus als ein Gefängniß-Lokal des wailand Stockhauses zu Dömitz, und seine Schüler glichen Verbrechern. Er war ein Anhänger prophylaktischer Curen, er prügelte in der ersten Stunde Alle ohne Unterschied durch, damit seine Rangen inne würden, was ihrer harrete, wenn sie in den andern sich ein Vergehen zu Schulden kommen ließen. Ungefähr so, wie es früher in Mecklenburg bei den Pferdejungen der Bauern angewendet wurde, denen ja auch regelmäßig am ersten Mai die obbesagte Cur verordnet wurde, damit sie den Sommer über die Pferde nicht in den Weizen laufen ließen. Er prügelte seine Schüler in die Fibel hinein und hinaus und dann wieder in Lutheri Katechismus hinein, worin sie dann zeitlebens stecken blieben. Hätte er seine Armkraft zum Holzhacken verwandt, so wären beide Theile, er sowohl, wie seine Schüler, besser daran gewesen, er hätte mehr verdient, denn auch er bezog nur wöchentlich einen Schilling pro Puckel.
Außerhalb seiner Schulstube war dieser Pädagog ein ebenso gefürchteter Schläger, allerlei unheimliche Faust und Schemelbein Geschichten spukten durch sein Leben, und oftmals kam er mit einem blauangelaufenen Auge zu Platz – das andere war ihm einmal bei einer Schlägerei abhanden gekommen. Ich erinnere mich einer Scene, deren Schluß ich selbst mit angesehen habe, worin er neben seiner Schlagfertigkeit noch ein Stück Humor entwickelte, und die deshalb hier ihren Platz finden mag. – Der Klempnermeister Belitz, dem der Volkswitz den Beinamen ‘Oberförster’ gegeben hatte, weil er sich als Holzdieb in den großherzoglichen Forsten vor Allen auszeichnete, ein kleiner, zusammengetrockneter, dorniger Kerl, geht vor Küster Voß, der hinter dem Branntweinglase sitzt, immer auf und nieder und sagt in Folge eines vorausgegangenen Streites: "Ja, Vadder Voß, wi willen seihn, wo de Voß de Egt treckt." Voß rührt sich noch nicht bei dieser Anspielung auf seinen Namen. – "Wi willen seihn, wo de Voß de Egt treckt," wiederholt Belitz mit dreisterer Betonung. – Da erhebt sich Küster Voß, schlägt den ‘Oberförster’ mit dem Ausrufe: "Wrampige, wormmadige Kirl!" zu Boden, faßt ihn in dem Rockkragen, schleppt ihn auf die Straße und von da in den Rinnstein und zieht ihn in demselben immer auf und nieder: "Süh so, Vadder Belitz, treckt de Voß de Egt!"

Dieser Schulmann starb nicht in seinem Beruf, sondern in dem Stavenhäger Wallgraben.

(Fritz Reuter: Meine Vaterstadt Stavenhagen)

25 April 2011

Aber welcher Weg war der rechte?

Gedenkstein für Fritz Reuter in Neu Kaliß inMecklenburg-Vorpommern

Reuter ist aus der Festungshaft entlassen worden und fühlt die Last der verlorenen Jahre. Die Welt war ruhig ihren Weg weiter gegangen und er hatte es nicht miterlebt, er fühlte sich fremd in ihr. Nun sagt er sich:
  Äwer du büst fri! du kannst gahn, wohen du willst! De Welt steiht di apen! – Ja, äwer wecker Weg is de rechte? –
Welche Möglichkeiten hat er noch nach seinem durch die Festungshaft abgebrochnen Jurastudium mit 30 Jahren?
As ick den annern Morgen upwakte, frog ick mi: wat nu? Un as ick tau minen Vader kamm, frog de ok: wat nu? Un in dese schreckliche Frag' bün ick Johre lang herümmer bistert; ick grep hir hen, ick grep dor hen, nicks wull mi glücken; ick weit, ick hadd schuld – de Lüd' säden't jo ok –, äwer wat helpt dat all, ick was sihr unglücklich, vel unglücklicher as up de Festung. – Min Vader was storben, un nu hadd ick mi de slimme Frag' man noch allein vörtauleggen; ick was Landmann worden, mit Lust was ick dat west; äwer mi fehlte de Hauptsak taum Landmann – dat Geld. – Ick hadd vele gaude Frün'n un einen gauden Fründ; de gauden Frün'n treckten mit de Schuller, un de gaude Fründ kunn mi nich helpen, hei hadd sülwst man knapp Geld.

Dunn säd ick eines Dags tau mi: din Kahn geiht tau deip, du hest em äwerladen; du hest all dat Takeltüg in den Kahn, wat di mal mit Hoffnungen un Wünsch un Utsichten unner de Ogen gahn is, un kein von de Rackers rögt Hand un Fäut, un du sallst den Kahn allein räudern? Rut mit den Ballast! (Fritz Reuter: Ut mine Festungstid, Kapitel 26)
Er verzichtet auf angesehenere Berufe, ungern auf den des Bauern, aber dazu fehlt ihm das Geld. Er wird Lehrer und dann Schriftsteller.

22 April 2011

Die Zuchtmittel des Stavenhagener Rektors

Fritz Reuters hochdeutsche Schriften sind weniger bekannt als seine plattdeutschen, sind auch gewiss weniger charakteristisch, aber auch interessant. Sein Bericht über Meine Vaterstadt Stavenhagen ist kulturhistorisch und biographisch interessant. Zunächst der Blick in die Schulstube eines Rektors:

In der Mitte der Stube, mehr nach den Fenstern hin, so daß er Alles mit einer gelinden Halsdrehung gut übersehen konnte, saß der Herr Rektor auf einem hölzernen, rundlehnigen Stuhle, der von ihm ‘Katheder’, von den Jungen aber ‘Kantheder’ genannt wurde. Diese letztere Benennung war sehr alt, sie stammte noch von seinem Vorweser im Amte, dem Kantor Bewernitz – vor ihm gab’s in Stavenhagen nur Kantoren, er war der erste Rektor – und ‘Kantheder’ sollte also weiter nichts bedeuten, als Sitz des Kantors. Man sieht, wie sinnreich auch plattdeutsche Jungen sein können. Rechts von ihm saßen die Jungen, links von ihm die Mädchen, und an einem Mitteltisch die überschüssigen Jungen und überschüssigen Mädchen in gemischter Ordnung. Vor ihm lagen drei Instrumente – und nun komme ich auf das, was ich oben versprochen habe nachzuweisen, daß in Stavenhagen wenigstens in einer Schule nach Methode geprügelt wurde – diese mehr oder weniger langen, hölzernen Instrumente hatten verschiedene Namen und Anwendung. Da war erstens der Gelbe, lang und dünne, er fand seine Anwendung bei Plaudern, Butterbrod- und Apfel-Essen und Klecksen im Schreibebuch; dann war da zweitens der Braune, kürzer und dicker, wurde verwandt bei notorischer Faulheit, bei Widerrede, oder wenn nachgewiesen wurde, daß ein Junge dem andern heimlich das Tintenfaß ausgesoffen hatte; und endlich war drittens da der Dachs, kurz, dick und schwer, von gewisser Aehnlichkeit mit einem eichenen Schemelbeine. zum Ruhme des Herrn Rektor muß ich gestehen, daß dieser letztere nur in den alleräußersten Fällen von Verstocktheit, Verruchtheit und offenbarer Widersetzlichkeit in Anwendung gebracht wurde; aber er war doch da und, wie das mecklenburgische Sprichwort sagt: ‘De Furcht wohrt de Haid’.’ – Mit dem armen Dachs nahm’s ein kläglich Ende. Ein schon längst verstorbener Bösewicht sollte wegen verschiedener Missethaten den Dachs schmecken; frech entriß er den Händen des Rektors den geschwungenen Dachs und schleuderte ihn in die Ecke; der Herr Rektor ward blaß; nach dieser gräßlichen Beleidigung seiner Autorität konnte er nicht weiter dociren; er schloß die Schule. Aber am folgenden Morgen wurde ein feierliches Vehmgericht über den Verbrecher gehalten; der primus scholae mußte als Ankläger vortreten, die erste Knabenbank wurde zu Vehmrichtern ernannt, und es wurde von diesem collegium abgestimmt, ob der Verbrecher noch länger die Schule besuchen dürfe, oder ob er cum infamia in perpetuum zu relegiren sei. Eine Stimme, die meines alten guten Freundes Karl Nahmacher, der schon seit Jahren seinen Sitz als ultimus der Bank beharrlich festgehalten hatte, und nun als der Letzte zur Abstimmung kam, rettete ihn; er blieb. – Ja, er blieb – aber in stiller Verachtung. Den andern Morgen jedoch war der Dachs verschwunden. Allerlei dunkle Gerüchte liefen in der Schule und auf der Straße um; Frau Rektorin habe die Unzweckmäßigkeit seiner früheren Verwendung eingesehen und ihn zweckmäßig zum Kaffeekochen verwandt; wir wissen’s aber besser. Ein ebenso großer Bösewicht, wie der vorher erwähnte, den ich jedoch ebenfalls nicht nennen werde, weil er von Jugend auf mein Freund gewesen ist, hatte ihn in ein Mauseloch gesteckt. Da wäre er nun wohl für immer in seiner Höhle geblieben, wär der alte, gute Herr Rektor nicht eines Tages gestorben, wäre das alte, gute Schulhaus nicht an meinen Freund Bunsen verkauft, und hätte dieser nicht eine neue Versohlung und Verdielung für gut befunden. Und da geschah es denn, daß eines schönen Tages der alte vergessene Dachs zum Vorschein kam und in seiner alten treuherzigen Weise die Zimmerleute fragte: "Gu’n Morgen ok! Kennt Ji mi woll noch?" Und siehe da! sie kannten ihn wieder, denn es waren Stavenhäger Kinder. – Er ist jetzt in meinem Besitz, er hat mir auf meiner Laufbahn als Schulmeister wesentlich weiter geholfen und wird von mir als Reliquie aus einer schönen Zeit hoch geschätzt. (Fritz Reuter: Meine Vaterstadt Stavenhagen)

20 April 2011

Wie der Kapitän auf seine Geliebte verzichtet, weil sein Nebenbuhler verspricht, sie in 25 Jahren zu heiraten

Fritz Reuter versteht sich darauf, Szenen humoristisch zuzuspitzen.
Was genau passiert ist, lässt sich heute nicht mehr konstruieren. Aber Reuter versteht es, glaubhaft zu machen, dass sein Zellengenosse in der Festungshaft tatsächlich auf seine Geliebte verzichtet, weil sein Nebenbuhler verspricht, sie in 25 Jahren zu heiraten. Wie das?
Es geht ihm um die Ernsthaftigkeit der Liebe des anderen, und die kann der andere in der vorgegebenen Situation in der Tat nur dadurch nachweisen, dass er verspricht, die Geliebte seines Rivalen in 25 Jahren zu heiraten. Bemerkenswert ist dabei auch, dass in diesem Text das Hochdeutsche auch dem Leser, der mit dem Platt Schwierigkeiten hat, seltsam merkwürdig und unangemessen erscheint.
Äwer as wi uns' Middageten (Mittagessen) vertehrt (verzehrt) hadden, treckte hei sick den Blagen (Blauen)  an, rückte de Vatermürder en beten vör den Speigel taurecht un säd: »Charles, ich habe einen schweren Gang vor mir, willst du mich begleiten?« – Ja, säd ick, wohen hei ok ümmer gahn wull, ick wull em ümmer tau Hand stahn; äwer nu wir de Dör unnen noch tauslaten. – »Wir gehen bloß runter zum Kopernikus«, säd hei un gung. – Leiwer Gott, dacht ick, wat dit woll ward! un folgt em.

As wi unnen dal kemen, was dat Krät grad dorbi un makte sick Koffe; de Kapteihn gung strack un stramm up em los, höll em de Hand hen un säd: »Kopernikus, wir sind sechs Jahre lang ehrliche Freunde gewesen, sind wir das noch?« – »Ja«, säd dat Ding un gaww em verlegen de Hand un stickte sick gräun dorbi an (färbte sich grün dabei). – »Kopernikus«, säd de Kapteihn wider un schüddelte em so recht truhartig (treuherzig) de Hand, »hast du etwas dagegen, daß Charles Zeuge unserer Unterredung wird? Ohne daß wir weitläufig darüber gesprochen hätten, weiß er, worum es sich handelt; er soll Richter sein zwischen mir und dir.« – Dor hest du en gauden Posten kregen! dacht ick bi mi, wo dit woll warden deiht? Un ick denk: Täuw'! denk ick, sallst dat Krät en beten weikmäudig (weichmütig) maken, de Kapteihn is't all, un tüschen weikmäudig Lüd' geiht allens glatter. Un ick gew em ok min Hand hen un kik em mit alle mägliche Weihleidigkeit in dat gräune Gesicht; dunn ritt sick dat Ding los un springt nah sinen Koffepott hen un röppt: de kakte em äwer! Un hei wull noch frischen Koffe upschüdden, un denn wullen wi hüt nahmiddag recht schön Koffe tausam drinken, un de Kapteihn süll ut 'ne lange irdne Pip Toback dortau roken.

Nu bidd ick einen üm Gottes willen! Um 'ne Pip Toback was doch de Kapteihn nich herkamen, un üm 'ne Tass' Koffe giwwt doch keiner 'ne Aurelia up! – De Kapteihn säd also ok sihr kolt: »Laß das! Ich will dich bloß fragen: Liebst du Aurelien?« – Süh so, nu satt dat Krätending dor un süll Hals gewen, un nu wull hei nich. – Äwer de Kapteihn was up den richtigen Weg, un hei let nich locker: »Ick frage dich«, säd hei, »liebst du Aurelien?« – »Ja«, säd endlich de Kopernikus. – Dat was äwer den Kapteihn nich naug, kunn em ok nich naug sin, denn wenn hei sick dormit begnäugt hadd, wir de Sak ut de Welt west, un up so'ne Wis' 'ne Sak ut de Welt tau bringen, dat is jo binah, as wenn't Kind in de Weig' ümbröcht ward; hei frog also noch indringlicher: »Liebst du Aurelien mit all der Innigkeit, mit der ich sie geliebt habe?« – Dat was nu 'ne dämliche Frag' von den Kapteihn, wo kunn de Kopernikus weiten, wo deip sei em satt; ick säd also ok as Richter in de Sak: De Frag' dürwt hei nich stellen, denn dordörch set'te hei den Kopernikus blot in Verlegenheit. Un ick denk noch so bi mi: na, dor hest du dinen Posten mal gaud verwacht! – Je ja, je ja! Dunn springt dat Ding von Kopernikus up mi los un fröggt, wat ick dormang tau reden hadd? Sei wullen ehr Sak allein utmaken; un de Kapteihn seggt, dorüm hadd hei mi nich mitnamen, dat ick sei utenanner bringen süll. – Na, dat treckt mi denn nu ok eklich an, un ick frog denn, wat sei sick stats mi nich leiwer den Erzbischoff raupen wullen, de wüßt jo allens taum Gauden tau kihren, oder ok Don Juannen, de wüßt jo mit Leiwsangelegenheiten am besten Bescheid. – Dat wullen sei äwer all beid' nich, un ich würd nu ok steinpöttig un set't mi dal un drunk Koffe un rokte Toback un denk: lat't Ding sinen Lop.

De Kapteihn hadd nu äwer in de drei Dag', de hei allein seten hadd, sick einen in allen Kanten fasten Plan utdacht, un hei was en tau gauden Militör, as dat hei sinen Find slippen laten süll, un wenn de Kopernikus Sprüng' nah rechtsch un linksch maken ded, gung hei em ümmer wedder drist tau Liw' mit de Frag': »Liebst du sie mit all der Innigkeit, mit der ich sie geliebt habe?« – Nu kunn de Kopernikus nich wider retürieren, hei müßte sick stellen: Dat wüßt hei nich, säd hei, wo wid de Kapteihn in de Leiw' herinne geraden wir, bet an den Hacken oder bet an dat Hart; hei wüßt blot, dat hei sülwen dat Mäten liden müggt un dat hei eben so gaud wir as jeder anner. – Dunn let de Kapteihn den Hall'schen Flügelmann von't tweite Glid los un let em schappieren un gung mit groten Schritten up un dal un säd: »Das war dein Glück! Die Antwort rettet dich! Hättest du diese Frage mit einem einfachen ›Ja‹ beantwortet; ich hätte dich für einen Lügner ansehen müssen, denn so wie ich sie geliebt habe, kannst du sie nicht lieben.« – »Nicht?« röp de Kopernikus un set'te so'n verwogen Gesicht up, as wull hei wedder mit fleigende Fahnen un Standarten in de Slacht rücken. »Herre Gott!« röp ick dormang, »nu makt äwer Freden! De Sak is jo nu vörbi, nu kamt her un drinkt Koffe!« – »Schweig, Charles!« röp de Kopernikus; »was hast du darin zu reden?« – »Ja, schweig Charles!« röp ok de Kapteihn, »nun kommt erst die Hauptfrage.« – Na, dachte ick, ditmal un nich wedder! Wo gahn sei mit ehren Richter in Leiwssaken üm! – »Kopernikus«, frog äwer mit einmal ruhig un kolt de Kapteihn un richtete sick steidel vör em in de Höcht, »willst du Aurelien heiraten?« – As nu äwer dit swore Geschütz von Frag' unverseihens achter'n Barg rute kamm un em in de Flanken fot, treckte de Kopernikus Fahnen un Standarten in un wull sick heimlich ut den Stohm maken, äwer de Kapteihn schot ümmer wedder mit de Frag' up em los: »Willst du sie heiraten?« – Na, ick was woll verdreitlich wegen de Behandlung, de sei mi as Richter hadden taukamen laten; äwer bi dese Frag' müßt ick doch nu ludhals' lachen: »Kapteihn«, säd ick, »dat is jo mines Wissens de allerletzte Frag', un de leggt einen jo irst de Preister an'n Altor vör.« – »So?« säd de Kapteihn un kek mi von baben dal an, »so? – Nu, dann laß dir sagen, ich stehe hier auch gleichsam als Priester, denn bevor ich an dies ernste Werk gegangen bin, habe ich mein Teuerstes als Opfer dargebracht. – Und dann laß dir sagen, daß diese Frage wohl am rechten Orte ist, denn der Kopernikus kann sie zu jeder Zeit beantworten; er ist homo sui juris, er ist majorenn, seine Eltern sind tot, er hat Vermögen und hat sein Auskultatorenexamen gemacht.« – »Un sall noch fiwuntwintig Johr sitten«, säd ick. – »Das geht dich nichts an«, säd de Kopernikus, »sorge du für dich selbst! Du hast selbst noch fünfundzwanzig Jahr.« – »Ja«, säd de Kapteihn, »du kannst nicht heiraten, denn du hast ja noch nicht das Auskultatorenexamen gemacht. Jeder Auskultator im preußischen Staat kann heiraten, das heißt, wenn er Vermögen hat; ich hab's nicht, aber Kopernikus hat es, und darum soll er heiraten – ich sage: er soll heiraten, und wär's auch erst nach fünfundzwanzig Jahren.« – Un hir fung taum irstenmal bi den ganzen Handel sick in den Kopernikus sine Bost wat von Begeisterung an tau regen un ganz gräun gaww hei den Kapteihn de Hand un röp: »Und ich will heiraten!« – Un de Kapteihn slot em in de Arm un küßt em baben up den Kopp, denn an den Mund kunn hei wegen den Kopernikus sine korte Verstiperung un wegen sine krumme Näs' nich gaud ankamen, un reckte den einen Arm in de ganze Welt un röp: »Und hiermit entsag' ich allen meinen Rechten!«

In desen Ogenblick müßt dat nu grad passieren, dat Aurelia an unse Kasematt vörbi gung, an'n Sünndagnahmiddag en beten spazieren. Snubbs wendte sick de Kapteihn af un gung hinnen nah de Kasematt rin; hei was en Mann von Ihr (Ehre) un von Wurd; de Kopernikus stellte sick an't Finster un kek sin niges (neues) Eigendaum nah, un ick satt dor as't föwt (fünftes) Rad an'n Wagen un hülp mi mit Koffedrinken ut de slimme Lag'; denn alle beid' hadden sei en Haß up mi smeten, as wir ick schuld an all de Qual; äwer so mag dat woll all de Richters gahn. – Ick wull nu doch äwer ok nich so von minen Posten afgahn, ahn dat ick mi wat marken laten ded, ick säd also: »Ja«, säd ick, »wir dat nu woll nich gaud, dat wi ehr« – un ick wis'te so äwer de Schuller ut dat Finster rute –, »dat wi ehr, minentwegen dörch de lütt Iding, tau weiten kamen leten, wat wi hüt hir äwer ehr utmakt hewwen, denn ji mägt nu seggen, wat ji willt, mit in de Geschicht rinne hüren deiht sei doch.« – Dunn fohrte de Kapteihn hinnen ut de Kasematt herute un säd, dorvon verstünn ick nicks, tau Kinnerkram un Aposteldräger wir de Sak nich anleggt, de Kopernikus müßte den negsten Sünndag en swarten Kledrock un witte Hanschen antrecken un müßte bi den Papa mit paßliche Würden üm de Dochter anhollen.
Nu smet sick äwer de Kopernikus up min Sid un säd: hei hadd äwer keinen swarten Kledrock. – Denn müßt hei sick einen von den Erzbischoff borgen, de hadd einen. – Ne, säd de Kopernikus, dorför bedankt hei sick, denn dorin würd hei utseihn as de Hiring in'n Rockluhr. »Ja«, säd ick, »un wat würd de General dortau seggen?« Dit verblüffte den Kapteihn, hei wüßt ogenschinlich keinen Rat wider! »Oh!« röp hei, »wenn ihr ahntet, was mir diese Tat gekostet hat, und sie soll an einem Leibrock und an einem General scheitern!« Dormit gung hei wedder in dat hindelst En'n von de Kasematt un ümmer up un dal (hin und her). – Nah'ne Wil kamm hei still nah uns ranner: »Charles«, säd hei, »komm!« un dorbi wischte hei sick de kollen Sweitdruppen von dat blasse Gesicht; ich klappte min Pip ut, un wi gungen nah baben (oben).

(Fritz Reuter: Ut mine Festungstid, 18. Kapitel)

18 April 2011

Ihr Haar ist goldener noch als der Sonnenstrahl

»Charles«, frog hei, un sine Ogen lücht'ten ordentlich, »hast du die junge Dame gesehn?« – »Ja«, säd ick, un't wir en rank un slank Mäten west. – »Hast du ihr Haar gesehen?« – »Ja«, säd ick, 't wir rod west. – »Rot? – Das nennst du rot? – Ich sage blond! – Ich will auch zugeben: hochblond! Und das ist eine Farbe, die zu allen Zeiten von Dichtern und Malern gepriesen ist. Nicht der Sonnenstrahl vergoldet das Haar, das Haar vergoldet den Sonnenstrahl.« – »Wat Dausend! Wat heit dit?« – »Hast du den Teint der Dame gesehn?« – »Ja«, säd ick, »sovel as dat in'n Vörbigahn un dörch en gräunen Sleuer mäglich wir.« – »Weiß wie Alabaster!« röp hei ut. – »Ja«, säd ick, »äwer sei hadd Sommersprutten.« – De Kapteihn kek mi an, tog mit de Schullern un gung up un dal, äwer nah en beten stellte hei sick vör mi hen: »Charles, willst du mich ärgern?« – »Ne«, säd ick, »doran hadd ick nich dacht.« – »Warum führst du denn gerade den Umstand gegen mich an, der sonst allgemein für den Beweis eines zarten Teints gilt?« – »Gegen em«, frog ick, »wo so? – Ick hadd jo nicks nich gegen em seggt; ick hadd ok nicks wider gegen dat Mäten, as dat sei in't Gesicht so bunt utseg as en Kuhnenei.« – »Solche Vergleiche verbitte ich mir«, säd hei un lep wedder hastig up un dal. – Dit würd ümmer schöner, un nahgradens markt ick, wo dat fuchten was; ick säd also, hei süll dat man sin laten, un't wir jo doch ümmer 'n hübsch Mäten. Dat geföll em, un hei würd mit einmal wedder de oll Kapteihn vull Füer un Fett, wenn't sine Inbillung angahn ded: »Charles«, röp hei, »hast du ihre Augen gesehn?« – »Ja«, säd ick, »sei hadd blag'.« – Dat was em nu äwer nich naug: blag' Ogen hadden vele, sei müßt nu doch noch wat vörut hewwen. – »Blau?« röp bei; »ja blau; aber was für ein Blau? Ein Blau, so warm, daß es ordentlich einen grünlichen Schein annimmt. Der klare, blaue Himmel nicht allein; auch das traute Grün der Erde spiegelt sich in diesem Auge!« – Nu müßt ick äwer lachen, gegen minen Willen lachen, un ick säd, dat hadd ick meindag' noch nicht hürt, dat gräune Ogen schön wiren, un't wir woll von den gräunen Sleuer herkamen, dat hei sei för gräun anseihn hadd. – Nu was äwer dat Kalw ganz un gor in't Og slagen; hei hadd ümmer ungeheuern Respekt vör de Frugenslüd' ehr Ogen, grad es de nimodschen Dichters, de reden ok man ümmer blot von de Ogen, un dat äwrige von den menschlichen Liw', dat bammelt man blot so dorbi. (Fritz Reuter: Ut mine Festungstid, Kapitel 15)
Zu 30 Jahren Festungshaft war er begnadigt worden. Obwohl er nachher nur 7 Jahre davon absitzen musste, blieb es für den mit 23 Jahren Verhafteten ein Trauma, auch noch nachdem er es sich mit einer Heiteren Episode aus der Haftzeit davon freizuschreiben versucht hatte. War doch sein Lebensplan, Jurist, gescheitert.
Erst als er mit Plattdeutsch die Sprache gefunden hat, in der er selbst das Harte humoristisch darstellen kann, gelingt die künstlerische Bewältigung.
Die Not, aus dem Leben gerissen zu sein, den Gedanken, eine Partnerin finden zu können, abschreiben zu müssen, die Sehnsucht nach ein bisschen Glück. Diese Gefühle betrachtet er von außen, als ob sie nicht seine wären, und macht aus dem Mitgefangenen einen lyrischen Troubadour.

16 April 2011

Graf Holk

Fontane erzählt oft stark aus der Perspektive der handelnden Personen mit stark zurücktretendem Erähler.
Umso mehr wunderte es mich, dass ich bei einer wiederholten Lektüre von Unwiederbringlich feststellte, wie deutlich herausgestellt wird, dass Graf Holk, Kammerherr einer dänischen Prinzessin, aus dessen Sicht die Handlung fast durchweg dargestellt wird, unfähig ist, den Eindruck, den er bei seiner Frau und bei der von ihm umworbenen Frau erweckt, realistisch einzuschätzen.
Obwohl er vorher beim Gedanken an eine Kapitänswitwe, die sein Interesse erregt hat, sich noch sagte "Eine schöne Person. Aber unheimlich. Ich darf ihrer in meinem Brief an Christine gar nicht erwähnen", schreibt er dann über sie an seine Frau:
Frau Kapitän Hansen ist eine schöne Frau, so schön, daß sie dem Kaiser von Siam vorgestellt wurde, bei welcher Gelegenheit sie zugleich der Gegenstand einer siamesischen Hofovation wurde. Sie hat eine statuarische Ruhe, rotblondes Haar (etwas wenig, aber sehr geschickt arrangiert) und natürlich den Teint, der solch rotblondes Haar zu begleiten pflegt. Ich würde sie Rubensch nennen, wenn nicht alles Rubensche doch aus gröberem Stoffe geschaffen wäre. Doch lassen wir Frau Kapitän Hansen. Du wirst lachen, und darfst es auch, über das Interesse, das aus dem Vergleich mit Rubens zu sprechen scheint. Und Rubens noch übertroffen!
Im selben Brief schildert er eine Hofdame der Prinzessin mit folgenden Worten:
An Stelle der Gräfin Frjis, die, während der letzten zehn Jahre, der Liebling der Prinzessin war, ist ein Fräulein von Rosenberg getreten. Ihre Mutter war eine Wrangel. Diese Rosenbergs stammen aus dem westpreußischen Städtchen Filehne, wurden erst unter Gustav III. baronisiert und haben keine Verwandtschaft weder mit den böhmischen noch mit den schlesischen Rosenbergs. Das Fräulein selbst – nur immer der älteste Sohn führt den Baronstitel – ist klug und espritvoll und beherrscht die Prinzessin, soweit sich Prinzessinnen beherrschen lassen. Unzweifelhaft, und dafür haben wir ihr alle zu danken, hat sie dem kleinen Nebenhof im Prinzessinnen-Palais den Charakter der Langeweile genommen, der früher der vorherrschende war. Ich konnte mich gestern, wo ich Dienst hatte, von diesem Wandel der Dinge überzeugen, mehr noch vorgestern, wo wir eine Wagenpartie nach Klampenborg und der Eremitage machten. Es war ein wundervoller Tag, ... (Unwiederbringlich, Kapitel 15)
Dann berichtet der Erzähler: Er "überflog das Geschriebene noch einmal. Einiges mit Zufriedenheit" und gleich darauf, dass ihn bei den Worten, die er über seine Frau geschrieben hatte, "eine leise Rührung" überkam, "von der er sich kaum Ursach und Rechenschaft zu geben vermochte. Hätt er es gekonnt, so hätt er gewußt, daß ihn sein guter Engel warne."
Bei der ersten Lektüre habe ich die epische Vorausdeutung gewiss wahrgenommen, aber die grobe Verkennung dessen, was er tat und was er zu tun bereit war, hat mir damals noch nicht so deutlich ins Auge gestochen.

09 April 2011

Fritz Reuters Festungszeit (Rückblick)

So! Säben Johr legen achter mi, säben swore Johr, un wenn ick ok up Stun'ns in'n ganzen lustig dorvon vertellt heww, sei legen mi dunn swor as Zentnerstein up't Hart; in dese Johren was nicks gescheihn, mi vörwarts tau helpen in de Welt, un wat sei mi mäglich nützt hewwen, dat lagg deip unnen in'n Harten begrawen unner Haß un Fluch un Grugel; ick müggt nich doran regen; 't was, as süll ick Gräwer upriten un süll minen Spaß mit Dodenknaken bedriwen. – Un wat lagg vör mi? – 'ne Haid mit Sand un Dannenbusch. – Weg'? – Oh, vele Weg' führten dor dörch, äwer gah man einer so'n Weg, hei sall woll mäud' warden. – Un wecker was de rechte? – Ick bün rechtsch gahn – nicks as Sand un Dannenbusch; ick bün linksch gahn – datsülwige. – Wo ick henkamm – keine Utsicht! Ok de Minschen wiren anners worden. – Männigein hett mi 'ne fründliche Hand henreckt; äwer in'n ganzen stimmte ick nich mihr mit ehr tausam. Mi was tau Maud', as wir ick en Bom, de kröppt wir, un üm mi rümmer stunnen de annern un gräunten un bläuhten un nemen mi Licht un Luft weg.

Dat Kröppen hadd ick mi woll noch gefallen laten, denn ick fäuhlte in mi noch 'ne düchtige Lust taum Driwen un Utslagen; äwer in de Tid wiren mi ok de Wörteln afsneden. – Min oll Vader was nah Däms henkamen und hadd mi besöcht; hei was desülwige olle gaude Vader von vördem; äwer in de säben Johr wiren mit mine Hoffnungen ok sine verdrögt; hei hadd sick gewennt, mi so antauseihn, as ick mi sülwst ansach – as en Unglück; hei hadd sick för de Taukunft en annern Tausnitt makt, un ick stunn nich mihr vöran in sin Rekenexempel. Wi wiren uns frömd worden; de Schuld lagg mihr an mi as an em; de Hauptschuld äwer lagg dor, wo mine säben Johr legen.

08 April 2011

Die Freundin ohne Vater - Identität?

Sie war 27, als sie aus der bayerischen Kleinstadt über Griechenland nach Israel zog und dort im Kibbuz arbeitete. "Menschen aus aller Herren Länder. Auch deutsch wird gesprochen. Spüre Ablehnung."
Dann lernt sie ihn kennen. Fast wortloses Einvernehmen mit ihm, dem Kibbuznik mit "seinen melancholischen Augen, in denen ich ukrainische Birkenwälder sehe".
Sie wird schwanger, fährt aber wie geplant zurück nach Deutschland. Obwohl sie angesichts des "Skandälchens" denkt: "Darf gar nicht an zu Hause denken."
Ihre Tochter hört über diese Zeit ihrer Mutter in Israel fast nichts. Selbst nach dem Tod der Mutter liest sie nicht ihr Tagebuch über diese Zeit. Sie war ein Tabuthema in der Familie. In einer Zeit, wo im ländlichen Bayern eine Alleinerziehende eine große Ausnahme war.
Die beste Freundin der Tochter störte das nicht. "Du warst eben immer die Freundin ohne Vater."

Die Geschichte der Tochter wird in der neusten Nummer von Chrismon erzählt. Wie die Tochter mit 30 Jahren ihrerseits nach Israel fährt, ist dort nachzulesen.
Sie führt das Israeltagebuch ihrer Mutter weiter. Ihr Bericht schließt: "Es war noch jede Menge Platz darin. Es ist jetzt mein Tagebuch."
Der Text hat mich angesprochen, auch wenn er in einer Zeitschriftennummer mit dem Thema Identität fast so kitschig wirkt, wie manche Symbolhandlung, die die 30jährige tut und - laut Bericht - danach wieder kitschig findet.
Vielleicht lag es daran, dass ich meinerseits vor rund 35 Jahren das Fünfjahrestagebuch meiner Mutter nach ihrem Tod weitergeführt habe und jetzt etwa in dem Alter bin, in dem meine Mutter starb.

Identität. Produkt von Genen, sozialer Enkulturation unter bestimmten Bedingungen, Sartreschen Existenzentscheidungen?
Es lohnt sich, "Blind Date mit meinem Vater" (S.44-48) zu lesen. Es steckt noch manches andere darin, was ich hier nicht aufgegriffen habe.

03 April 2011

Fritz Reuters Festungshaft 1833 - 1840

Fritz Reuter hat die sieben Jahre Festungshaft im Alter von 22 bis 30 Jahren, wo in einer Normalbiographie Ausbildung und eine gewisse Ungebundenheit zwischen der Bindung an die Herkunftsfamilie und der Gründung einer eigenen liegt, als traumatisierend erlebt. Die Begnadigung vom Todesurteil zu 30jähriger Festungshaft bedeutete für ihn das Ende aller bisherigen Lebenspläne. Was für eine Karriere kann sich ein angehender Jurist im Gefängnis versprechen?
Als er in der Freiheit nach einer Zeit als landwirtschaftlicher Volontär dann Lehrer wurde und sich an schriftstellerischen Arbeiten versuchte, hat er schon bald auch seine Festungszeit behandelt und bezeichnenderweise unter dem Titel "Eine heitere Episode aus trauriger Zeit" schon gleich humoristisch anzugehen versucht.
Doch die künstlerische Form, die ihm ermöglichte, zugleich den Gefährten und verständnisvollen Helfern dieser Jahre ein Denkmal zu setzen als auch die unbarmherzige Härte zu schildern, mit der der Staat die Mitgliedschaft in einer Burschenschaft bestrafte, die offen für Demokratie eintrat, fand er erst, als er sich die niederdeutsche Sprache als Literatursprache erarbeitet und mit Ut de Franzosentid ein Meisterwerk in dieser Sprache geschaffen hatte.
Ganz bewusst schildert er nicht die Festungshaft insgesamt, sondern greift Zeiten heraus, die ihm die doppelte Aufgabe ermöglichen, Dank abzustatten und die Entbehrungszeit ins Humoristische zu wenden.

Wer sich an die Lektüre dieses Werkes in mecklenburgischem Plattdeutsch machen will (Reuter schrieb nicht im Dialekt seiner Vaterstadt, sondern in einer von ihm geschaffenen mecklenburger Allgemeinsprache), kann - wenn Plattdeutsch ihm noch fremd ist -  mit kürzeren Texten anfangen, etwa mit dem Hochzeitsspiel Rieke und Dürth oder ein paar Abschnitten aus Ut mine Stromtid, denen Verständnishilfen beigegeben sind. Dann ist manche(r) wohl schon so weit sein, sich von selbst einlesen zu können. Doch bietet Gutenberg.de in der Internet-Ausgabe von De Reis nah Konstantinopel, 
eine weitere Lesehilfe. Denn hier sind alle grau unterlegten Passagen mit Übersetzungen versehen, die beim Überfahren mir der Maus angezeigt werden.
Nach solchem Einlesen hat man vielleicht gar keinen Gefallen mehr an den hochdeutschen Übersetzungen von Aus der Franzosenzeit, Aus meiner Festungszeit und Das Leben auf dem Lande, die es natürlich auch gibt.

02 April 2011

Wie ein Pfund Tabak die Gefängnisordnung verändert

Ein Schließer ist mit seinem Vorgesetzten, dem Inspektor, verfeindet. Der würde gern die Gefangenen menschlicher behandeln, doch er muss befürchten, dass der Schließer ihn bei dem scharfen Festungskommandanten anschwärzt, bei dem er mal als Bursche gearbeitet hat.
Doch Fritz Reuter findet eine Methode, den Schließer zu bestechen.

Min Toback stek em in de Näs': »Woll schönen Toback?« frog hei. – »Ih ja«, säd ick. »Will'n Sei em mal probieren?« – »Ne«, meinte hei, »wo denken Sei hen? Ick süll mi in so'ne Dörchstekerien inlaten?« – »Schön«, säd ick, »denn laten S't sin.«

Herr D....mann kamm wedder, hei hadd nicks bi mi tau dauhn: »Na, wo geiht't?« – »Oh, recht gaud.« – »De Toback smeckt Sei woll?« – »Ja, sihr gaud.« – »Na, wil Sei doch so fründlich wiren..., probieren will ick em doch mal.« – Herr D....mann stoppte sick 'ne Pip: »Schön! Würklich schön!« – »Na, denn nemen S' sick en Pund mit«, säd ick. – Ne, dat künn hei nich. 'ne Pip Toback, dat güng woll; äwer en Pund! Dat wir gegen sine Schülligkeit, dat künn hei nich dauhn. Wat ick von em denken ded? – Äwer as Herr D....mann ut mine Dör gung, hadd hei min Pund Toback in de Hand, un ick dacht wat von em. […]
(Fritz Reuter: Ut mine Festungstid, Kapitel 7)

Einige Dag' drup, so gegen Abend, hürte ick, dat bi minen Nahwer Gr. upslaten würd – dat geschach bi uns allen ümmer üm dese Tid, denn denn würd rein makt un frisch Water halt. Ick kloppte an mine Dör, un D....mann slot up, obschonst de Gefängnisknecht bi minen Fründ Gr. noch nich farig was; ick kamm rute un gung up Gr. tau un kunn doch en por Würd' mit em reden. As de Stuw' rein was, röp D....mann: »Herr Gr.!« un Gr. gung in sin Lock herin; äwer ick ok un set'te mi ahn wideres up dat Bedd. D....mann röp mi, ick süll rute kamen; ick äwer regte mi nich un meinte, hei künn mi jo bet Klock nägen bi minen Kammeraden sitten laten, denn kem hei jo doch noch mal wedder taum Tausluten för de Nacht. – Ne, dat künn hei nich, dat wir gegen de Husordnung, de Inspekter paßte em ümmer up den Deinst. – Ick säd, de Inspekter würd gewiß nich kamen, un säd, ick ded em ok mal wedder en Gefallen, indem ick nich ahn Absicht so'n beten stark mit den Tunpal up dat Pund Toback henwinkte. Un wat was dat En'n? – Herr D....mann slot uns beid tausamen in.

Dor seten wi nu un vertellten uns von ollen un nigen Tiden. Gr. gaww mi en Metz un allerlei Kleinigkeiten, de hei missen kunn, un't würd afmakt, ick süll bi de Kummandanten inkamen, dat wi tausamen wahnen wullen. Binah all de annern wahnten tau twei in ehr Stuwen, un't müggt uns jo ok woll glücken.

Äwer worüm vertell ick so'ne Kleinigkeiten? – Dorüm, wil ick nahwisen kann, dat min Pund Toback de ganze schöne, nah allen Kanten so faste Husordnung ümsmiten ded. – De Gefängnisknecht K. hadd seihn, dat D....mann sick arg gegen de Bestimmungen von den Grafen H. versünnigt hadd; hei würd jo dit glik an den Inspekter vertellen; de hadd nu den Slüter schön in de Fingern, dat hei em nich mihr hinnerrüggs bi den Kummandanten anpetzen kunn. Kort, de ganze, up gegensidige Furcht un Niderträchtigkeit von de Beamten gründte Uprechthollung von den Grafen H. sine scharpe Husordnung föll för ein Pund Toback. Un dat fratt mit de Wil so wid üm sick, dat ick, as noch lang' kein Johr vergahn was, de Slätel ut den Inspekter sine Stuw' herute halte un all de Gefängnissen upslot. – Doch dorüm geschach nicks Unrechts von uns – as denn äwerall in vir Johren äwer twintig bet dörtig junge Lüd' keine Klag' bi de Kummandantur vörkamen is, taum groten Arger von den irsten Kummandanten, de up öffentliche Parad' wütend tau den Inspekter seggt hewwen sall: »Wieder nichts zu melden? – Melden Sie was, und ich werde den Leuten zeigen, wie man mit Hochverrätern umgehen muß!« – Un all de erbärmlichen Quälerien, mit de wi schurigelt würden, wiren nich mal en Pund Toback wirt!

(Fritz Reuter: Ut mine Festungstid, Kapitel 8)

01 April 2011

Von minen Herrgott un minen Snider sin Makwark. - Das Machwerk meines Gottes und meines Schneiders

Wi führten tau'n Platzmajur, de up de Zitadell wahnen ded [wohnte]. Hei was vör mine Tiden Platzmajur tau S. west, von wo ick eigentlich herkamm, ick müßt em denn vertellen, woans dat dor utseg, un dorbi kek ick ut dat Finster, woans dat hir woll utseg. As hei dit sach, schüddelte hei den Kopp un säd: »Hier bleiben Sie nicht, Sie kommen in das Inquisitoriat

Dat was bös! 'ne Festung mag so slimm sin as sei will, einer hett doch Rum in de ollen Kasematten, wo doch notdürftige Bewegung mäglich is, einer kriggt doch af un an en Minschen tau seihn, un dat Ganze is doch nich utdrücklich dortau bugt, üm en Gefangenen nah alle Kanten tau schurigeln; äwer so'n apartig ingericht't Gefangenhus nimmt einen ok noch dat beten Luft un Licht un Bewegung un Ogenweid', wat einen von Rechts wegen taukümmt. Wi wiren tau Festungsstraf verurtelt; äwer wat kihrte sick de preußische Staat doran, wenn't in sinen Kram paßte, uns in en Zellengefängnis unnertaubringen.

Wi gungen nah dat Inquisitoriat un dor dörch mihrere Häw' bet nah den letzten Flügel, de mit sine Finstern grad nah Nurden lagg; hei was dreistöckig un hadd gegen twintig Zellen un drei lange Korridurs, de langs dat ganze Gebüd' lepen, un up jeden 'ne Schildwach.

As mi nu de Platzmajur in min niges [neues] Quartier afliwert hadd un gahn was, stunn ick in den Inspekter sine Stuw', un dese Herr un sin Handlanger, de Slüter [Schließer] D....mann, stunnen vör mi un keken mi an, un wil dat nich verbaden was, kek ick sei wedder an. – »Jetzt müßte ich Sie aber bitten...«, säd de Inspekter un höll in [hielt inne]. – »Wat?« frog ick. – »Es ist Vorschrift vom Kommandanten...«, stamerte hei wider. – Ick wüßt nich, wat hei von mi wull, un kek em un D....mannen an. – »Daß Sie sich nackt ausziehen«, säd de Slüter, un as ick em dorup ankek, wil dat noch nahrends [nirgends], sülwst in den Unnersäukungs-Arrest nich, von mi verlangt was, blänkerte den Kirl von sin dummdristes Gesicht so'n sures, fettes Grifflachen [Grinsen], as wir em dat Mul mit sur Gaus'smolt [Gänseschmalz] insmeert. – Wat Fettiges hett des' Ort äwerall un ok wat Sures; des' hadd ok noch wat Freches, wil hei wüßt, dat hei vördem bi den Herrn General Grafen H., den irsten Kummandanten, Uneformen putzt hadd un dat »allgemeine Ehrenzeichen« in't Knoplock drog, wat hei mal wegen sine Verdeinste üm den preuß'schen Staat un üm de Stäwel von den irsten Kummandanten kregen hadd.

Wat hülp dat all? – Ick müßt ehr wisen, woans ick erschaffen wir, un as sei minen Herrgott sin Makwark besichtigt hadden, fisentierten [visitierten] sei ok minen Snider sin, indem dat sei all mine Taschen in de Kledaschen [Kleidung] ümkihrten un de Näd unnersochten, ob ick dor nich Pistolen un Metzers un Dinger oder gor Geld in hadd.

As dit besorgt was, kunn ick mi wedder antrecken, un nu föllen sei äwer minen Kuffert [Koffer, Gepäck]  los. – 'ne olle eingehüsige, sülwerne Taschenklock, de all so lang' still stahn hadd, as ich satt, wil ick meindag' nich dat Geld taum Reparieren hadd upbringen kunnt, mi ok an de Tid up Stun'ns [bis jetzt] gor nicks gelegen was, würd tauirst [zuerst] mit Beslag beleggt. Dorup kamm en ollen Pipendeckel, so'n ollen Klemmdeckel, taum Vörschin. – »Ist das Silber?« frog de Inspekter. – »Ja«, säd ick, denn mi fohrte dat so dörch den Sinn, dat dese sülwerne Pipenbeslag en Glanz von Wollhabenheit up mi smiten [werfen, schmeißen]  kunn, un leigen [lügen] ded ick dorbi ok nich, denn hei was würklich von Sülwer, äwer man von Nisülwer. Un as sei mi nu noch 'ne lütte goldne Dauknadel afnamen hadden, de ick von min Swester taum Wihnachten kregen hadd, un min Schriw- un Teikengeschirr, un as sei dit allens sauber tau mine Personalakten leggt hadden, kunn ick jo nu mit den Slüter nah mine Nummer gahn. (Fritz Reuter: Ut mine Festungstid, Kapitel 7)