30 August 2012

Vom Zusammenhang von Mensch und Menschheit

Wenn ich dir sage, daß du ein Kind deines Volkes und daß du ein Kind des Menschengeschlecht bist, so ist dir dies Wort so geläufig, daß du wohl nicht mehr an die hohe Bedeutung denkst. Und doch ist dies Verhältnis das höchste irdische, in dem du stehst. Zu sehr werden wir von klein auf gewöhnt, nur die einzelnen, mit denen uns Natur und freie Wahl verbindet, in unser Herz zu schließen, und selten denken wir daran, daß unser Volk der Ahnherr ist, von dem die Eltern stammen, der uns Sprache, Recht, Sitte, Erwerb und jede Möglichkeit des Lebens, fast alles, was unser Schicksal bestimmt, unser Herz erhebt, geschaffen oder zugetragen hat. Freilich nicht unser Volk allein; denn auch die Völker der Erde stehen wie Geschwister nebeneinander, und ein Volk hilft Leben und Schicksal der andern bestimmen. Alle zusammen haben gelebt, gelitten und gearbeitet, damit du lebst, dich freust und schaffst.«
Ilse lächelte. »Auch der böse König Kambyses und seine Perser?«
»Auch sie,« versetzte der Professor, »denn das große Netz, in welchem dein Leben einer Masche gleicht, ist aus unendlich vielen Fäden zusammengewebt, und wenn einer gefehlt hätte, wäre das Gewebe unvollständig. Denke zuerst an Kleines. Der Tisch, an welchem du sitzest, die Nadel, welche du in der Hand hältst, die Ringe an Finger und Ohr verdankst du Erfindungen einer Zeit, aus welcher Kunde fehlt; damit dein Kleid gewebt werden konnte, ist der Webstuhl in einem unbekannten Volke erfunden, und ähnliche Palmenmuster, wie du trägst, sind in einer Fabrik der Phönizier erdacht worden.«
»Gut,« sagte Ilse, »das lasse ich mir gefallen, es ist ein hübscher Gedanke, daß die Vorzeit so artig für mein Behagen gesorgt hat.«
»Nicht dafür allein,« fuhr der Gelehrte fort, »auch was du weißt und was du glaubst, und vieles, was dein Herz beschäftigt, ist dir durch dein Volk aus eigener und fremder Habe überliefert. Jedes Wort, das du sprichst, ist durch Hunderte von Generationen fortgepflanzt und umgebildet worden, damit es den Klang und die Bedeutung bekam, welche du jetzt spielend gebrauchst. In diesem Sinne sind unsere Ahnen aus Asien ins Land gezogen, hat Armin mit den Römern für Erhaltung unserer Sprache gekämpft, damit du an Gabriel einen Befehl geben kannst, den ihr beide versteht. Für dich haben die Dichter gelebt, welche dir in der Jugendzeit des Hellenenvolkes den kräftigen Klang des epischen Verses erfanden, den ich so gern von deinen Lippen höre. Und ferner, damit du glauben kannst, wie du glaubst, war vor dreihundert Jahren in deinem Vaterlande der großartigste Kampf der Gedanken nötig, und wieder anderthalbtausend Jahre früher in einem kleinen Volke Asiens ein machtvolleres Ringen der Seele, und wieder fünfzig Generationen früher ehrwürdige Gebote unter den Zelten eines wandernden Wüstenvolkes. Das meiste, was du hast und bist, verdankst du einer Vergangenheit, die anfängt von dem ersten Menschenleben auf Erden. In diesem Sinne hat das ganze Menschengeschlecht gelebt, damit du leben kannst.«
Gustav Freytag: Die verlorene Handschrift, S.344-45

28 August 2012

Gustav Freytag über "Die verlorene Handschrift"


In dieser Erzählung schilderte ich Lebenskreise, welche mir seit meiner eigenen akademischen Zeit vertraut waren: die Wirtschaft auf dem Lande und die Universität. Möchte man den Schilderungen ansehen, daß ich hier recht mühelos und froh aus dem Vollen geschöpft habe. Bei den Gestalten der akademischen Welt würde man vergebens nach bestimmten Vorbildern suchen, denn Herr und Frau Struvelius, Raschke und andere sind Typen, denen wohl auf jeder deutschen Universität einzelne Persönlichkeiten entsprechen. [...]
Denn als wir einmal zu Leipzig, noch vor seiner Berufung nach Berlin, allein beieinander saßen, offenbarte er  Moritz Haupt mir im höchsten Vertrauen, daß in irgend einer westfälischen kleinen Stadt auf dem Boden eines alten Hauses die Reste einer Klosterbibliothek lägen. Es sei wohl möglich, daß darunter noch eine Handschrift verlorener Dekaden des Livius stecke. Der Herr dieser Schätze aber sei, wie er in Erfahrung gebracht, ein knurriger, ganz unzugänglicher Mann. Darauf machte ich ihm den Vorschlag, daß wir zusammen nach dem geheimnisvollen Hause reisen und den alten Herrn rühren, verführen, im Notfall unter den Tisch trinken wollten, um den Schatz zu heben. Weil er nun zu meiner Verführungskunst bei gutem Getränk einiges Zutrauen hatte, so erklärte er sich damit einverstanden, und wir kosteten das Vergnügen, den Livius für die Nachwelt noch dicker zu machen, als er ohnedies schon ist, recht gewissenhaft und ausführlich durch. Aus der Reise wurde nichts, aber die Erinnerung an jene beabsichtigte Fahrt hat der Handlung des Romans geholfen.
In Leipzig hatte ich kurze Zeit auf der letzten Straße am Rosental bei einem Hutmacher gewohnt, der in seiner Fabrik [623] Strohhüte verfertigte, neben ihm war zufällig ein anderes wohlbekanntes Geschäft, welches den Bedürfnissen des männlichen Geschlechts durch Filzhüte entgegenkam. Dieser Zufall veranlaßte die Erfindung der Familien Hummel und Hahn, doch auch hier sind weder die Charaktere noch die Familienfeindschaft der Wirklichkeit nachgeschrieben. Nur die Tatsache ist benützt, daß mein Hauswirt besondere Freude daran fand, seinen Hausgarten durch immer neue Erfindungen auszuschmücken: die weiße Muse, die Hängelampen und das Sommerhaus am Wege habe ich dem Gärtchen entnommen. Außerdem sind zwei Charaktere seines Haushalts, gerade die, welche wegen ihres mtythischen Charakters Anstoß erregt haben, genaue Kopien der Wirklichkeit, die Hunde Bräuhahn und Speihahn. Diese hatte mein Hauswirt irgend woher als Wächter seines Besitzes erstanden, sie erregten durch ihr köterhaftes Verhalten den Unwillen der ganzen Straße, bis sie einmal von einem erzürnten Nachbar vergiftet wurden, Bräuhahn starb, Speihahn blieb am Leben und wurde seit der Zeit ganz so struppig und menschenfeindlich, wie er im Roman abgeschildert ist, so daß ihn nach zahllosen Missetaten, die er verübt, sein Besitzer wieder auf das Land geben mußte.
(Gustav Freytag über seinen Roman "Die verlorene Handschrift", S.621-623)

27 August 2012

Bräuhahn und Speihahn

An einem der nächsten Abende stand Gabriel vor der Thür, sah auf den Himmel und wartete, ob eine kleine schwarze Wolke, welche dort oben langsam dahinschiffte, das Bild des Mondes verdecken würde. Gerade als dies Ereigniß eintrat und die Straße und die beiden Häuser im Dunkel lagen, fuhr ein Wagen vor das Haus und die Stimme des Hausbesitzers frug hinter dem Leder hervor: »Alles in Ordnung?«
»Alles in Ordnung,« erwiederte Gabriel und knöpfte den Schurz auf. Herr Hummel stieg schwerfällig herab, hinter ihm klang ein unwilliges Knurren. »Was steckt da in der Finsterniß?« frug Gabriel neugierig und griff in den Wagen, aber er zog schnell die Hand zurück: »Das Grobzeug will beißen.«
»Ja, das hoffe ich,« versetzte Herr Hummel, »es soll beißen. Ich bringe Wachhunde mit gegen die Glockenspieler.« Er zerrte am Strick zwei undeutliche Gestalten heraus, welche auf dem Boden mit heiserem Gekläff umherfuhren, Gabriels Beine bösartig umkreisten und den Strick wie eine Schlinge um ihn zogen. »Die Menge muß es bringen,« rief Gabriel, »zwei Stück!« Der Mond hatte die Wolke überwunden und beleuchtete hell die beiden Hunde. »Das sind seltsame Thiere, Herr Hummel, es ist eine schwierige Race. Zwei Köter,« fuhr er abschätzend fort, »kaum von Mittelgröße, es ist dickes Format und ihr Haar ist zottig, über die Schnauze hängen die Borsten wie ein Schnurrbart. Die Mutter war eine Pudelin, der Vater ein Affenpintsch, auch ein Mops muß mit in der Verwandtschaft gewesen sein und der Urgroßvater war ein Dachshund. Ein schöner Bau, Herr Hummel, so etwas ist selten. Wie sind Sie zu diesen Mondkälbern gekommen?«
»Das war ein eigener Zufall. Im Dorfe hatte ich für heut keinen Hund erhalten; als ich durch den Wald zurückfuhr, scheuten die Pferde und wollten nicht vorwärts. Während der Kutscher mit ihnen hantirte, sah ich auf einmal neben dem Wagen einen großen schwarzen Mann stehen, wie aus dem Boden heraufgeschossen. Er hielt die zwei Hunde am Stricke und lachte höhnisch über die Schelte des Kutschers. ›Was soll's?‹ rief ich ihn an, ›wohin führt ihr die Hunde?‹ ›Dem, der sie haben will,‹ rief der Schwarze.«
»Hebt sie in den Wagen,« sagte ich.
»Ich reiche nichts,« brummte der Fremde, »ihr müßt sie euch holen.« Ich stieg ab und frug: »Was verlangt ihr dafür?«
»Nichts!« sagte der Mann. Die Sache wurde mir bedenklich, aber ich dachte, man kann's doch probiren, ich trug die Burschen in den Wagen, sie waren lammfromm. »Wie heißen die Hunde?« rief ich aus dem Wagen.
»Bräuhahn und Gose,« sagte der Mann und lachte wie ein Teufel.
»Das sind keine Hundenamen, Herr Hummel,« warf Gabriel kopfschüttelnd ein.
»Das sagte auch ich dem Manne, und er versetzte: ›Getauft sind sie nicht.‹ ›Aber der Strick ist euer,‹ sagte ich, und denken Sie, Gabriel, dieser schwarze Kerl antwortete mir: ›Behaltet ihn, ihr könnt euch dran hängen.‹ Ich wollte ihm die Hunde wieder aus dem Wagen werfen, da war der Mann im Walde verschwunden wie ein Irrwisch.«
»Das ist eine niederträchtige Geschichte,« rief Gabriel bekümmert, »diese Hunde sind in keinem christlichen Hause gewachsen. Und wollen Sie wirklich solche Gespenster behalten?«
»Ich will's probiren,« sagte Herr Hummel. »Zuletzt ist ein Hund ein Hund.«
»Nehmen Sie sich in Acht, Herr Hummel, in den Thieren steckt etwas.«
»Dummes Zeug!«
»Sie sind scheusälig,« fuhr Gabriel fort und zählte an den Fingern: »sie haben keine menschlichen Hundenamen, sie sind angeboten ohne Geld, kein Mensch weiß, was diese Bestien fressen.«
»Auf den Appetit werden Sie nicht lange zu warten haben,« versetzte der Hausherr. Gabriel zog ein Stück Semmel aus der Tasche, die Hunde schnappten darnach. »In dieser Weise sind sie zuverlässig,« sagte er ein wenig beruhigt. »Aber wie soll man sie in Ihrem Hause rufen?«
»Der Bräuhahn mag bleiben, was er ist,« versetzte Herr Hummel, »aber in meiner Familie soll kein Hund Gose heißen. Ich leide dieses Getränk nicht.« Er sah feindselig auf das Nachbarhaus hinüber. »Andere Leute lassen sich das Zeug täglich über die Straße holen, das ist für mich kein Grund, ein solches Wort in meinem Haushalt zu dulden. Der Schwarze heißt von jetzt ab Bräuhahn und der Rothe Speihahn. Damit abgemacht.«
»Aber, Herr Hummel, das sind lauter injuriöse Namen,« rief Gabriel, »damit wird das Uebel ärger.«
»Das ist meine Sorge,« sagte Herr Hummel entschlossen. »Bei Nacht bleiben sie im Hofe, sie sollen das Haus bewachen.«
»Wenn sie nur leibhaftig aushalten,« wandte Gabriel ein, »die Art kommt und verschwindet wie sie will und nicht wie wir wollen.«
»Sie werden doch nicht des Teufels sein,« lachte Herr Hummel.
»Wer spricht vom Teufel?« versetzte Gabriel schnell. »Einen Teufel gibt es nicht, das leidet der Professor nimmer, aber von Hunden hat man Beispiele.«
(Gustav Freytag: Die verlorene Handschrift, 1. Teil, S.129-132)

26 August 2012

Bauerntochter und Professor


"Sie standen an einem Garbenhaufen. Ilse bog einige Aehrenbündel zum Sitz zurecht und sah über die Felder nach den fernen Bergen.
»So ist's mit uns gerade umgekehrt und anders, als man denken sollte,« begann sie nach einer Weile, »wir sind hier wie die Vögel, die Jahr aus, Jahr ein lustig mit den Flügeln schlagen, Sie aber denken und sorgen um andere Zeiten und andere Menschen, die lange vor uns waren; Ihnen ist das Fremde so vertraut, wie uns der Aufgang der Sonne und die Sternbilder. Und wie Ihnen wehmüthig ist, daß der Sommer endet, ebenso wird es mir schmerzlich, wenn ich einmal von vergangener Zeit höre und lese, und am traurigsten machen mich die Geschichtsbücher. So viel Unglück auf Erden, und gerade die Guten nehmen so oft ein Ende mit Leid. Ich werde dann vermessen und frage, warum hat der liebe Gott das so gewollt? Und es ist wohl recht thöricht, wenn ich das sage, ich lese deshalb nicht gern in der Geschichte.«
»Diese Stimmung begreife ich,« erwiederte der Professor. »Denn wo die Menschen ihren Willen durchzusetzen streben gegen ihr Volk und gegen ihre Zeit, werden sie am Ende fast immer als die Schwächeren widerlegt; auch was der Stärkste etwa siegreich durchsetzt, hat keinen ewigen Bestand. Und wie die Menschen und ihre Werke, vergehen auch die Völker. [...]

Viel Schwaches, viel Verdorbenes und Absterbendes umgibt uns, aber dazwischen wächst eine unendliche Fülle von junger Kraft herauf. Wurzeln und Stamm unseres Volkslebens sind gesund. Innigkeit in der Familie, Ehrfurcht vor Sitte und Recht, harte, aber tüchtige Arbeit, kräftige Rührigkeit auf jedem Gebiet. In vielen Tausenden das Bewußtsein, daß sie ihre Volkskraft steigern, in Millionen, die noch zurückgeblieben sind, die Empfindung, daß auch sie zu ringen haben nach unserer Bildung. Das ist uns Modernen Freude und Ehre, das hilft wacker und stolz machen. Und wir wissen wohl, die frohe Empfindung dieses Besitzes kann auch uns einmal getrübt werden, denn jeder Nation kommen zeitweise Störungen ihrer Entwicklung, aber das Gedeihen ist nicht zu ertöten und nicht auf die Dauer zurückzuhalten, solange diese letzten Bürgschaften der Kraft und Gesundheit vorhanden sind. Deshalb ist jetzt auch glücklich, wer den Beruf hat, längst Vergangenes zu durchsuchen, denn er blickt von der gesunden Luft der Höhe hinab in die dunkle Tiefe.«
Ilse sah hingerissen in das Antlitz des Mannes; er aber bog sich über die Garbe, welche zwischen ihm und ihr lehnte, und fuhr begeistert fort: »Jeder von uns holt aus dem Kreise seiner persönlichen Erfahrungen Urtheil und Stimmung, welche er bei Betrachtung großer Weltverhältnisse verwendet. Blicken Sie um sich her auf die lachende Sommerlandschaft, dort in der Ferne auf die thätigen Menschen, und was Ihrem Herzen näher liegt, auf Ihr eigenes Haus und den Kreis, in dem Sie aufgewachsen sind. So mild das Licht, so warm das Herz, verständig, gut und treu der Sinn der Menschen, die Sie umgeben. Und denken Sie, welchen Werth auch für mich hat, das zu sehen und an Ihrer Seite zu genießen. Und wenn ich über meinen Büchern recht innig empfinde, wie wacker und tüchtig das Leben meines Volkes ist, welches mich umgibt, so werde ich fortan auch Ihnen zu danken haben.« Er streckte seine Hand aus über die Garben, Ilse faßte sie, hielt sie mit beiden Händen fest, und eine warme Thräne fiel darauf. So sah sie mit feuchten Augen zu ihm hin, eine ganze Welt von Seligkeit lag in ihrem Antlitz. Allmählich ergoß sich ein helles Roth über ihre Wangen, sie stand auf, noch ein Blick voll hingebender Zärtlichkeit fiel auf ihn, dann schritt sie flüchtig von ihm abwärts, den Rain entlang. [...]
Der ihr so groß gegenüberstand, er hatte sich zu ihr hinabgeneigt, sie hatte seinen warmen Atem, den schnellen Druck seiner Hand gefühlt. Als sie dahinging durch das Feld, strömte ihr die Glut in die Wangen, und was sie umgab, Erde und Himmel, Flur und sonniger Waldessaum, das floß vor ihr in leuchtende Wolken zusammen. Mit beflügeltem Fuß eilte sie hinab in den Waldgrund, wo das Baumlaub sie umhüllte. Jetzt erst fühlte sie sich allein, und ohne es zu wissen, faßte sie einen schlanken Birkenstamm und schüttelte ihn mit voller Kraft, daß der Baum laut rauschte und seine Blätter auf sie herabstreute. Und sie hob die Hände zu dem goldenen Licht des Himmels und warf sich nieder auf den Moosgrund. In heftigen Atemzügen hob sich ihre Brust und die kräftigen Glieder zuckten von der inneren Erregung. Wie vom Himmel herab war die Leidenschaft in das junge Weib gesunken und faßte ihr Leib und Seele mit unwiderstehlicher Gewalt."
(Gustav Freytag: Die verlorene Handschrift, 1. Teil, S.156-164)

Ich stelle diese - stark gekürzte - Passage hier unkommentiert ein. Im Zusammenhang mit anderen Liebesszenen aus Erzählungen des 19. Jahrhunderts habe ich sie hier kommentiert.

16 August 2012

Never Let Me Go - Verlass mich nicht

Im Roman Never Let Me Go (auf Deutsch: Alles, was wir geben mussten) erweist sich der englische Autor japanischer Herkunft Kazuo Ishiguro als ein Meister in der Schilderung der Psyche von Kindern und Jugendlichen.
Ich mag es, wenn Autoren ihre Figuren lieben, weil das die beste Voraussetzung dafür ist, dass wir uns in sie einfühlen können. Für diesen Roman, eine Dystopie von einem England, in dem die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, indem man eine besondere Klasse von Menschen schafft, die entgegen Kants kategorischem Imperativ keinen Wert für sich haben sollen, sondern nur Mittel sein sollen, ist das besonders wichtig.
Wir lernen Menschen lieben, denen andere das Menschsein abgesprochen haben (vgl. Primo Levi: Ist das ein Mensch?).
Die Zentralszene, wo die Erzählerin ein Kissen im Arm hält und zu der Zeile "Oh baby, baby, never let me go" singt und von einer Erwachsenen ("Madame") von außen beobachtet wird, die darüber in Schluchzen ausbricht, ist von großer Aussagekraft.
Wenn ich dabei die Konnotation des sterbenden Jesus mit den Worten "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen" habe, so ist das vom Autor vermutlich nicht beabsichtigt. Aber aufgrund der Mehrdeutigkeit, die er der Zeile gibt, ist auch diese Mitbedeutung nicht ausgeschlossen. Dass nach nicht ganz unüblicher theologischer Auffassung Jesus seinerseits in dieser Situation als Instrument der Erlösungstat Gottes erscheint, erweitert das denkbare Bedeutungsspektrum.
Wie platt dagegen die deutsche Fassung des Titels "Alles, was wir geben mussten".*

*Die Übersetzung "Lass mich niemals los!" ist natürlich korrekter als die mit "Verlass mich nicht!", die ich um der Assoziation zur Kreuzesszene willen gewählt habe.

Susanne Mayer schreibt am Schluss ihrer Rezension des Romans: "Solche Bilder zu ertragen, muss man fast eine Figur aus einem Ishiguro-Roman sein, ergeben und ohne jeden Keim von Widerstand."

Ich denke eher: Wer das nur als literarische Dystopie liest und sich nicht empört über unsere Gesellschaft (Hessel: Empört Euch!"), die sich in mancherlei Hinsicht auf eine solche Gesellschaft zu bewegt (vgl. "Festung Europa"), dem fehlt etwas von der Moral der Hauptperson dieses Romans.

Primo Levi hat in der Einleitung zu seinem Buch über Auschwitz formuliert:
Denket, daß solches gewesen.
Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen.
Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzet
In einem Hause, wenn ihr geht auf euren Wegen,
Wenn ihr euch niederlegt and wenn ihr aufsteht;
             Ihr sollt sie einschärfen euern Kindern.
             Oder eure Wohnstatt soll zerbrechen,
             Krankheit soll euch niederringen,
             Eure Kinder sollen das Antlitz von euch wenden.

Im Blick auf Never Let Me Go müsste es freilich heißen: "Bedenkt, dass ihr auf solch eine Gesellschaft zugeht, wenn ihr die Entwicklung weiter laufen lasst!"

Meine persönliche Haltung zur Organspende habe ich hier formuliert.

Nach diesen allgemeinen Überlegungen etwas zum Inhalt:
Die Erzählerin, Kathy, hilft einem Jungen, Tommy, der in Hailsham, dem Internat, in dem sie leben, von allen Mitschülern gemobbt wird (auch wenn die Aussage einer Betreuerin für ihn vielleicht noch wichtiger ist.) Obwohl  er der einzige Junge ist, der ihr wichtig ist, und obwohl es ihr einen Stich gibt, als ihre beste Freundin, Ruth, sich mit ihm anfreundet, übernimmt sie es, als dies Verhältnis gestört ist, in Ruths Auftrag, es wieder anzuknüpfen. (In gewisser Hinsicht ähnelt das der Situation in Sense and Sensibility, wo Elinor dem von ihr geliebten Mann die Möglichkeit geben soll, die Frau zu heiraten, die er nicht liebt. Das heißt: Die liebende Frau wird aufgefordert, sich und ihren Geliebten unglücklich zu machen, und lässt sich darauf ein, weil sie glaubt, das sei das Moralischste.)
Ruth weiß freilich, dass Kathy Tommy besonders nahe steht und ihn besser versteht als alle anderen.
Dennoch hält Kathy sich zurück, als sie merkt, dass Tommy ihr mehr vertraut als Ruth, und verschweigt ihr gegenüber aus schlechtem Gewissen diese Vertrauensbeweise.
Dies wird sehr eindrücklich geschildert, ohne dass es thematisiert wird. Wieder spielt dabei der Song "never let me go" eine wichtige Rolle. Tommy hilft Kathy, die Kassette mit dem Song, die sie verloren hatte, wieder zu finden und zwar in Norfolk, das die Internatsschüler seit frühen Tagen mit einem Fundbüro assoziieren. So finden auch Kathy und Tommy ihr "verlorenes" Vertrauensverhältnis zueinander wieder.

Ein Zitat dazu:
That moment when we decided to go searching for my lost tape, it was like suddenly every cloud had blown away, and we had nothing but fun and laughter before us.
 Deshalb zögert Kathy sogar, als sie die Kassette findet, diese zu kaufen, um nicht die neue Gemeinsamkeit zu zerstören. Als schließlich Tommy ihr die Kassette kauft, bekommt der Song "Oh baby, baby, never let me go" seine ursprüngliche, nicht auf ein Baby gerichtete Bedeutung wieder: Geliebte, lass mich nicht von dir gehen.

Am Ende ihrer Internatszeit erfahren die Schüler, dass sie keine Eltern haben und nur geklont worden sind, um als Organspender zu dienen. Kathy arbeitet zunächst als Betreuer der Organspender und trifft dabei wieder mit Ruth zusammen. Sie versöhnen sich, und Ruth fordert sie auf, zusammen mit Tommy "Madame" (die Frau aus der Außenwelt von der ersten Song-Szene) aufzusuchen und für sich für eine Zeit des Aufschubs zu bitten, damit sie eine Zeit als Paar zusammenleben können.
Als ihnen das gelingt, erfahren sie, dass die menschliche Behandlung, die sie in Hailsham erfahren haben, nur dem politischen Einsatz einer Gruppe um "Madame" und ihre Schulleiterin zu verdanken war. Seit es aber einem Forscher gelungen ist, den Klonen eine höhere Intelligenz als Normalmenschen zu verleihen, hat die Gesellschaft jede Ausbildung der Klone verboten, weil befürchtet wird, dass die Klone die Herrschaft übernehmen könnten. Der Versuch, den Klonen zumindest zeitweise eine menschenwürdige Behandlung zuzugestehen, ist gescheitert.

Die Begegnung der beiden Klone mit den Betreuern, die sich für sie eingesetzt haben, wird wie ein Theaterstück gestaltet. Da aber weiterhin alles aus Kathys Sicht geschildert wird, erhält der Leser keinen Einblick darein, durch welche Kontrollmaßnahmen die Klone, die sich frei bewegen dürfen, gezwungen werden, sich immer neuen Organspenden zu unterwerfen. Die Kritik beschränkt sich somit ganz auf die Vorenthaltung der Menschenrechte, nicht auf den totalitären Charakter der Gesellschaft im einzelnen.

Am Ende des Romans fährt Kathy ein paar Wochen nach Tommys Tod wieder nach Norfolk und hält an einer Stelle, wo außer einem Stacheldraht und ein paar Bäumen sich nichts dem Wind und dem Müll, den er über die Felder treibt, in den Weg stellt.
I was thinking about the rubbish, the flapping plastic in the branches, the shore line of odd stuff caught along the fencing, and I half-closed my eyes and imagined this was the spot where everything I'd ever lost since my childhood had washed up, and I was now standing here in front of it, and if I waited long enough, a tiny figure would appear on the horizon across the field [...]  I just waited a bit, then turned back to the car, to drive off to whatever it was I was supposed to be.
Der Roman ist eine Dystopie, die unsere Empörung wachrufen soll, aber er schildert sie uns in einer Weise, dass wir uns selbst in ihr wiederfinden können, mit unseren Hoffnungen, unseren Enttäuschungen und der Art, wie wir damit umgehen.

Ich sehe eine große Ähnlichkeit von Anne Franks Versteck und dem Internat Hailsham. Die totalitäre Gesellschaft, vor der dieses Refugium schützen soll, wird freilich nicht gezeigt, Die Klone bewegen sich in der  sie unterdrückenden, nicht nur ausbeutenden, sondern regelrecht ausweidenden Gesellschaft wie in einem unsichtbaren Getto.
Die Nähe zur Behandlung von Asylbewerbern (keine Arbeitserlaubnis, Pflicht, sich in einem engen Bezirk aufzuhalten) und Gefangenen (Fußfesseln) ist erkennbar.

Trotz der deutlichen Gesellschaftskritik trifft m.E. folgende Charakteristik des Romans durch Susanne Meyer zu:
Da ist ein Klang von Stille. Mit den ersten Zeilen wird dieser Ton angeschlagen, wie in der Eröffnung einer Cellosonate, drängender Abstieg in gefasste Melancholie. Vorsichtig, zurückhaltend setzen sie ein, die Romane von Ishiguro, aber sie alle variieren ein einziges überwältigendes Thema – was der Mensch ist in seiner Ungeschütztheit, wie er sich darin bewähren kann, vor allem vor sich selbst.
Ich habe jetzt erstmals den Film zum Roman gesehen. Er scheint mir erstaunlich gelungen. Bei allen Kürzungen ist die Atmosphäre der verschiedenen Bereiche: Schule, Cottages, Kliniken, die bürgerliche Welt, (in der die, die für Menschlichkeit kämpfen, vereinzelt sind) durch Farben und Bilder erstaunlich genau evoziert. Die schauspielerische Leistung ist auch sehr eindrucksvoll.
Bild wird auch der oben zitierte Schluss des Romans:
I was thinking about the rubbish, the flapping plastic in the branches [...] I just waited a bit, then turned back to the car, to drive off to whatever it was I was supposed to be.
Sie tut das, was die Gesellschaft von ihr erwartet. Darin unterscheidet sie sich nicht von uns und von den Menschen in einem totalitären Regime. Zwar gibt es Ausnahmen ...
(28.7.13)

Empfehlen kann ich auch Ishiguros neusten Roman: Klara und die Sonne, wo eine künstliche Intelligenz eine ähnliche Rolle spielt wie Cathy. Der Schluss endet wir in "Alles, was wir geben mussten", nur dass Klara wirklich nur ein Ding ist. Ein Ding, das die wichtige Aufgabe erfüllt hat, einen Menschen ins Leben zu begleiten.

Es tut genau das, was wir Menschen tun sollten: Es fühlt sich in einen Menschen ein und versucht, ihm das zu geben, was er braucht.

Das Ding kann selbstlos sein ohne Tragik. Die Art, wie wir KI schaffen und benutzen, bleibt weit dahinter zurück.

11 August 2012

Jane Austen: Northanger Abbey

"Sally, or rather Sarah (for what young lady of common gentility will reach the age of sixteen without altering her name as far as she can?) [...]
a fine Sunday in Bath empties every house of its inhabitants, and all the world appears on such an occasion to walk about and tell their acquaintance what a charming day it is. As soon as divine service was over, the Thorpes and Allens eagerly joined each other; and after staying long enough in the pump-room to discover that the crowd was insupportable, and that there was not a genteel face to be seen, which everybody discovers every Sunday throughout the season [...] "
Jane Austen: Northanger Abbey (Originaltext, auch gelesen)

Ja, es ist wieder einmal eine Liebesgeschichte, aber Austens Abstand zu ihrer Heldin ist ungewöhnlich groß. Und ihr Spott, der sich sonst nur über Einzelpersonen ergießt, trifft diesmal das von ihr ungeliebte Bath.

06 August 2012

Aus dem Regen in die Traufe

"Aus dem Regen in die Traufe" ist der zweite Teil der Doppelerzählung "Die Heiterethei und ihr Widerspiel".
Auch hier geht es um einen Mann, dem zum perfekten Ehemann noch einiges fehlt, um eine junge Frau, die ihm helfen will, und um Druck, der eine von beiden Personen ausgeübt wird. Und doch ist es eine ganz andere Geschichte, eben ein Widerspiel, das die ungewöhnliche Rolle, die die Heiterethei in ihrem Umfeld spielt, noch einmal besonders deutlich werden lässt. Denn hier scheinen die Frauen nur Herrschaft oder blinde Bewunderung zu kennen. Dass man lieben und durch konstruktive Kritik zur Besserung anhalten kann, ist für die Hauptpersonen undenkbar.

In Luckenbach, fast am Ende des Städtchens, steht ein kleines Haus. Luckenbach hat ganz ansehnliche Häuser; die meisten prangen mit zwei Fensterreihen, ja das Rathaus hat ihrer drei. Man trifft da Leute genug, die ein ganzes Haus besitzen; häufiger aber findet es sich, daß ein und dasselbe Haus zwei Eigentümer hat. Einem gehört dann das Parterre, dem andern das obere Stockwerk. In Keller und Boden sind Scheidungen angebracht; es ist ganz genau im Kaufbriefe beschrieben, welchen Raum der eine, welchen der andere Eigentümer zur Benutzung ansprechen darf. Und das ist gut. Entstehen doch trotzdem nur zu oft vorübergehende Reibungen, ja dauernde Feindschaften zwischen den zwei Besitzern, die zuletzt an dem Besitztum kleben bleiben, so daß der neue Käufer der einen Hälfte auch in die alte Feindschaft eintritt. Ich habe noch ein Haus in Luckenbach gesehen, das den Haß seiner beiden Besitzer offen auf der Stirne trug. Der eine hatte seine Hälfte außen rot malen lassen, sogleich strich der andere die seine grün an.
 Unter solchem forterbenden Fluche litt das Häuschen nicht, das ich meine. Es hatte zwar zwei Fensterreihen übereinander und war unten und oben bewohnt, und wär es zur Feindschaft zwischen den Bewohnern gekommen, so könnt es eine gefährlichere werden, als irgendwo. Denn die Bewohner der untern Hälfte waren beständig unter Waffen und trugen nicht einmal eine Scheide darum. Sie konnten sie nicht aus den Händen legen; das ging sehr natürlich zu: sie hatten keine Hände. Sie trugen sie auf dem Kopfe; kurz gesagt, es war eine Ziege und eine Kuh. Sie standen so nah beisammen, wie man nur so friedliebende Geschöpfe stellen darf, als die beiden sich immer gezeigt. Und hätte man sie auch weiter auseinander stellen wollen, es hätte an Raum dazu gefehlt. Neben dem Stalle war ein Behälter, ursprünglich wohl zu einem anderen Zwecke angebracht, als dem er jetzt diente. Das konnte man deutlich sehen, wenn die Türe nach dem Stalle zu aufging; und eine andere hatte das Gemach nicht. Es war ganz ausgefüllt von einem schmalen Bette. Wer das Bett machen wollte, mußte das von außen; und wer sich in das Bett legen wollte, konnte die Tür nicht eher schließen, bis er darin lag. Ein dicker Mann, der sich darin auf die Seite wenden wollte, hätte die Tür erst öffnen müssen, um den Bauch, der sonst nicht Platz hatte, in den Stall hinaushängen zu lassen. Die das Gemach jetzt inne hatte, brauchte das nicht. Es war bei aller jugendlichen Fülle ein zierlich Mädchen; sie durfte auch nicht einen Zoll länger sein, als sie war; sonst hätte sie nicht ausgestreckt in dem Bett liegen können. Im unteren Stock gab es bedeutend mehr Raum; der Baumeister war oben sparsamer damit umgegangen. Hätte man, was unten der Hausraum zu groß war und um was die gerade, ohne Gelenke emporführende Treppe und das Gewinkel darum herum, sich zu lang und breit machte, zusammennehmen können, es hätte noch ein Stübchen abgegeben. Die Decke des Stalles war unmittelbar der Fußboden der Wohnstuben oben, und das war nicht übel, besonders für Leute, die, wie Frau Bügel, leicht kalte Füße bekommen.

 Die Frau Bügel sah nach der »Brücke«, dem Sitz des Schneidermeisters und seiner Gesellen, wenn er welche hat; und sie sagte wohl zum hundertsten Mal diesen Abend: »wo der Jung' bleibt! der Sapperlot!« Dann fiel ihr Auge wohl, auf dem Weg von der Brücke zum nahen Fenster, an ein Ausklopfstöckchen von spanischem Rohr, das quer über zwei Holznägeln an der Fensterwand lag, just so hoch, daß eine Frau von der Höhe der Frau Bügel keinen Schemel unter den Füßen brauchte, ihn aber auch nicht erlangen konnte, ohne sich einigermaßen zu dehnen. »Wo der Jung' bleibt!«

 An der anderen Seite des Tisches saß ein Mädchen, das auch ohne den Zug von Herzensgüte in ihrem Gesicht hübsch erschienen wäre. Sie sah aus, als wünsche sie nichts sehnlicher, als daß jemand irgendeinen Dienst von ihr verlange, je schwerer, desto besser. Ihrer Art zu sitzen sogar merkte man den Diensteifer an. Sie saß nur auf der äußersten Kante, ewig im Begriffe, vor Bereitwilligkeit vom Stuhle zu fallen; die halbgeöffneten Lippen hatten ein unausgesprochenes ewiges »Gleich« zwischen sich; und das stehende Lächeln um das runde Näschen versicherte unaufhörlich: man solle doch sagen, was man von ihr wünsche; es sei ihr ja eine Lust, es auszurichten; sie tu es ja ganz gewiß von Herzen gern. So war es, wenn die Frau Bügel sagte: »wo der Jung' nur bleibt!« als wollte sie vor Eile gleich vom Stuhl herab zum Fenster hinausfallen, und da sie nichts weiter tun konnte, stand sie wenigstens für einen Augenblick auf. Fiel ihr dann ein Stäubchen auf einem Möbel oder sonst etwas in die Augen, was hinwegzutun oder zurechtzurücken war, so ließ sie ihren Diensteifer einstweilen daran aus, eh' sie zu ihrer Arbeit zurückkehrte. Es waren ein Paar Socken, die sie ausbesserte; sie hielt sie mit einer Art andächtiger Schonung in ihren kleinen Händen. Die Socken waren klein, wie diese Hände. Sie mußte den Knaben sehr liebhaben, dem sie gehörten, man sah es in ihrem Blicke, an jeder Bewegung. Es war etwas Mütterliches darin, das ihr sehr gut stand. Daß sie aber keine Mutter war, sah man mit dem ersten Blicke auf die frische, zierliche Gestalt und das mädchenhafte Wesen. [...]
Otto Ludwig: Aus dem Regen in die Traufe

03 August 2012

Die Heiterethei


Es geht um sozialen Druck, darum wie eine Hysterie auch die Widerstandsfähigsten dazu bringt, sich irrational zu verhalten, um Ausgrenzung bis zur Vernichtung einer ökonomischen Existenz, und doch ist es eine ermunternde Geschichte voller Heiterkeit. Geschuldet ist das der Heiterethei, der sympathischsten Figur, die Otto Ludwig je gelungen ist.

"... alle Welt weiß es, wie's mit dem Wetter ist zum Gründer Markt. Und wenn er beginnt so blau und golden, wie es der Farbenkasten des Frühlings nur hergeben will, wie ein Tag vor sechzig Jahren; denn damals war Alles besser, selbst das Wetter; frage nur die Reicker Wirtin, wer's nicht glauben will. Kaum ist's Mittag, da steigt's von allen Seiten auf; da hebt's und drängt's, bis es einen neuen Himmel gewölbt hat unter dem alten. [...]
Der Mond stellte sich auf die Zehen und sah zwischen ihnen hindurch auf die nasse Straße herab. Die hielt ihm tausend Spiegel vor und er sah wohlgefällig, um wie viel schöner und vollwangiger er nun seit gestern wieder geworden war. [...]
Der alte Benediktus – nur Diktes genannt – blieb vor einem Häuschen stehen, nahm das Nachtwächterhorn an die Lippen und blies gerade nach dem Häuschen zu den schönsten Ton, der darin war. Ob ihm das Häuschen so gefiel, daß er beim Tuten und Stundenrufen allemal nach ihm hinsah? Hübsch genug sah es aus, zumal, wenn, wie eben heute, der Mond darauf schien, – am hübschesten aber, wenn der große Holunderbusch, der das Häuschen unter seinem Arm hatte wie einen Hut, oder unter seinem Flügel wie ein Küchlein, zugleich in voller Blüte stand. Und den Grasmücken und Finken ging es bei Tage wie dem alten Diktes bei Nacht. Der alte Holunder hatte keinen geraden Wipfel mehr, so oft hatten die kleinen Tagediebe singend sich darauf geschaukelt. Das schmale Weglein, das vom Schloßberge jäh genug herabkommt, tut auf der kleinen Wiese dabei, als müßt' es vor jedem Büschchen wieder ein Stückchen umkehren. Man sieht, ihm ist's nur darum, nicht zu schnell vorbeizukommen, und kaum zwei Schritte unter dem Häuschen, da wird's gar aus mit ihm vor Vergnügen, da hört's ganz auf. [...]
Ich bin gesund und stark, und sie sollen mich nicht umsonst die Heiterethei heißen in der Stadt. Mag heiraten, wer will, und sich krank sorgen, wer will, ich nicht. Und so ist's, und nu ist's fertig!« [...]" Otto Ludwig: Die Heiterethei

01 August 2012

Lenau: Zigeuner und Albigenser

Auch wenn wir Lenau nicht kennen, kennen wir "Drei Zigeuner fand ich einmal..."
(Melodie + Text) (Text im Volksliederarchiv!) (Kunstloser Gesang - Die Gelegenheit, bei denen die Sängerin das Lied nach ihren Angaben gesungen hat, sind typisch für das Singen von Volksliedern.) (Im Gegensatz: Alexandra: Zigeunerjunge, anspruchsloser Text gekonnt gesungen und mit einer charakteristischen Stimme - ansprechend, aber gewiss keine Kunst, die Jahrhunderte überdauern wird.)

Auch wenn wir Lenau kennen, kennen wir die Albigenser meist nur mit Namen. Daher hier zur Anregung der Beschäftigung mit dieser Dichtung ein kurzes Zitat:
»Jüngst hielt der Böse Rath mit seinen Söhnen
Und also ließ er seine Stimme tönen:
Der Teufel mag sich immer mühn und plagen;
Wenn seine Saaten schon zur Ernte reifen,
Und drüber lustig seine Lerchen pfeifen,
Wird ihm die Sense aus der Hand geschlagen;
Die Garbe fällt in frommer Schnitter Hände,**
Des Teufels Thun wird Gottesdienst am Ende. [...]
** "Der päpstliche Gesandte Abt Arnaud-Amaury soll den Kreuzfahrern auf die Frage, wie sie denn die Ketzer von den normalen Bewohnern unterscheiden sollten, geantwortet haben: Tötet sie alle! Gott kennt die Seinen schon" (Albigenserkreuzzug)
Aus dem Abschnitt "Das Vorgemach", S.821 (vor dem Audienzzimmer des Papstes)

Zum historischen Kontext



Im Abschnitt "Das Vogelnest" geht es zunächst nur um Kunst; doch dann wird auch hier ein Bezug auf die Grauen des Kreuzzuges gefunden (S.836-839):


An spitzgebognen Fenstern ist zu schauen
Laubwerk und manche Blum in Stein gehauen;
Vor allen Bildern zierlich, wahr und lebend
Ein steinern Vogelnest am Aste schwebend.
Der Jungen Schnäblein heischend aufgerissen,
Die Mutter sie zu atzen hold beflissen,
Sie wärmend mit den aufgespreizten Schwingen;
Die Kleinen werden fliegen bald und singen.


Ich stand gefesselt von des Meisters Macht
Und sann gerührt, was er sich wohl gedacht.
Hat er im Bild die Kirche still verehrt.
Wie sie getreu die Kinder schützt und nährt?
Wollt er vielleicht die Mönche traulich necken
Mit einem Bild der Liebe, Sehnsucht wecken? –
Da kam ein Hauch vom Bildner mir gesendet:
Sein klagendes Gewissen hats vollendet.


Es hat ein Mönch gelebt in jenen Tagen,
Wo glauben hieß, den Zweifelnden erschlagen;
Er aber war noch einer von den alten,
Von jenen frommen, rührenden Gestalten.
[...]


In Schreck und Mitleid zitterte sein Herz,
Frohlockten die Kreuzpilger mit der Kunde,
Wie überall die Ketzer gehn zu Grunde,
Wie jetzt die Welt so voll von Haß und Schmerz.
[...]


Die Kreuzgeschmückten brachen und zerstörten
So manche Burg; der Freiheit kühne Fechter
Zu Tausenden verbrannten, und sie hörten
Im Tode noch der Feinde Lustgelächter.
Den Mönch erfaßt ein schauderndes Erstaunen
Bei solchen Taten, mörderischen Launen.
Ein banges Grübeln quält ihn zu ergründen:
›Ist, was ich seh, des Frevels ganze Völle?
O Mensch, wo steht die Grenze deiner Sünden?
Kommt, wer sie sucht, bis in das Herz der Hölle?‹


Die Sünde tobt in jauchzenden Gewittern,
Und vor sich selbst muß dieser Fromme zittern;
Der Name Mensch, aus welchem kein Erlösen,
Scheint ihm ein tiefer Abgrund alles Bösen,
Er lauscht in seine Brust, ob nicht verstohlen
Hier gleiche Ungeheuer Atem holen?


Mit alten Tagen geht er zu Gerichte,
Und vorwurfsvoll erschreckt ihn die Geschichte,
Wie er ein Knabe einst den Wald durchzogen
Und sah ein Vöglein heim ins Nest geflogen.


An hohen Zweigen hing die Frühlingsbrut,
Das grüne Laub hielt sie in dunkler Hut;
Doch strich der Wind, den grünen Schleier hebend,
Der Knabe sah das Nest am Wipfel schwebend.


Da hob er einen Stein und warf empor,
Zerstört hinfiel die Brut, und ihn ergriff,
Daß er es heut noch hört, der Klagepfiff,
Womit im Wald die Mutter sich verlor.


Wars nicht derselbe Drang, nur noch im kleinen,
Der dort ein Nest, hier Burgen wirft mit Steinen?
Der düstre Groll, der gern den Bau vernichtet,
Wo sich ein Glück auf Erden eingerichtet?
So klagt der Mönch und kann sichs nicht vergeben,
Daß er den Vöglein brach ihr junges Leben.
Und das Zerstörte wieder aufzubauen,
Hat er das Nest im Felsen ausgehauen.
Oft sah man ihn zu seinem Bilde kehren,
Um seine stille Wehmut dran zu nähren.


Den Anstoß zu Lenaus Gedicht gab das steinerne Vogelnest in Bad Wimpfen, über das Carl Gibson hier schreibt. Ein Bild dieser Plastik habe ich nicht gefunden, so kann ich nur auf die zwei steinernen Vogelnester in der Dankeskirche in Bad Nauheim hinweisen.