06 August 2012

Aus dem Regen in die Traufe

"Aus dem Regen in die Traufe" ist der zweite Teil der Doppelerzählung "Die Heiterethei und ihr Widerspiel".
Auch hier geht es um einen Mann, dem zum perfekten Ehemann noch einiges fehlt, um eine junge Frau, die ihm helfen will, und um Druck, der eine von beiden Personen ausgeübt wird. Und doch ist es eine ganz andere Geschichte, eben ein Widerspiel, das die ungewöhnliche Rolle, die die Heiterethei in ihrem Umfeld spielt, noch einmal besonders deutlich werden lässt. Denn hier scheinen die Frauen nur Herrschaft oder blinde Bewunderung zu kennen. Dass man lieben und durch konstruktive Kritik zur Besserung anhalten kann, ist für die Hauptpersonen undenkbar.

In Luckenbach, fast am Ende des Städtchens, steht ein kleines Haus. Luckenbach hat ganz ansehnliche Häuser; die meisten prangen mit zwei Fensterreihen, ja das Rathaus hat ihrer drei. Man trifft da Leute genug, die ein ganzes Haus besitzen; häufiger aber findet es sich, daß ein und dasselbe Haus zwei Eigentümer hat. Einem gehört dann das Parterre, dem andern das obere Stockwerk. In Keller und Boden sind Scheidungen angebracht; es ist ganz genau im Kaufbriefe beschrieben, welchen Raum der eine, welchen der andere Eigentümer zur Benutzung ansprechen darf. Und das ist gut. Entstehen doch trotzdem nur zu oft vorübergehende Reibungen, ja dauernde Feindschaften zwischen den zwei Besitzern, die zuletzt an dem Besitztum kleben bleiben, so daß der neue Käufer der einen Hälfte auch in die alte Feindschaft eintritt. Ich habe noch ein Haus in Luckenbach gesehen, das den Haß seiner beiden Besitzer offen auf der Stirne trug. Der eine hatte seine Hälfte außen rot malen lassen, sogleich strich der andere die seine grün an.
 Unter solchem forterbenden Fluche litt das Häuschen nicht, das ich meine. Es hatte zwar zwei Fensterreihen übereinander und war unten und oben bewohnt, und wär es zur Feindschaft zwischen den Bewohnern gekommen, so könnt es eine gefährlichere werden, als irgendwo. Denn die Bewohner der untern Hälfte waren beständig unter Waffen und trugen nicht einmal eine Scheide darum. Sie konnten sie nicht aus den Händen legen; das ging sehr natürlich zu: sie hatten keine Hände. Sie trugen sie auf dem Kopfe; kurz gesagt, es war eine Ziege und eine Kuh. Sie standen so nah beisammen, wie man nur so friedliebende Geschöpfe stellen darf, als die beiden sich immer gezeigt. Und hätte man sie auch weiter auseinander stellen wollen, es hätte an Raum dazu gefehlt. Neben dem Stalle war ein Behälter, ursprünglich wohl zu einem anderen Zwecke angebracht, als dem er jetzt diente. Das konnte man deutlich sehen, wenn die Türe nach dem Stalle zu aufging; und eine andere hatte das Gemach nicht. Es war ganz ausgefüllt von einem schmalen Bette. Wer das Bett machen wollte, mußte das von außen; und wer sich in das Bett legen wollte, konnte die Tür nicht eher schließen, bis er darin lag. Ein dicker Mann, der sich darin auf die Seite wenden wollte, hätte die Tür erst öffnen müssen, um den Bauch, der sonst nicht Platz hatte, in den Stall hinaushängen zu lassen. Die das Gemach jetzt inne hatte, brauchte das nicht. Es war bei aller jugendlichen Fülle ein zierlich Mädchen; sie durfte auch nicht einen Zoll länger sein, als sie war; sonst hätte sie nicht ausgestreckt in dem Bett liegen können. Im unteren Stock gab es bedeutend mehr Raum; der Baumeister war oben sparsamer damit umgegangen. Hätte man, was unten der Hausraum zu groß war und um was die gerade, ohne Gelenke emporführende Treppe und das Gewinkel darum herum, sich zu lang und breit machte, zusammennehmen können, es hätte noch ein Stübchen abgegeben. Die Decke des Stalles war unmittelbar der Fußboden der Wohnstuben oben, und das war nicht übel, besonders für Leute, die, wie Frau Bügel, leicht kalte Füße bekommen.

 Die Frau Bügel sah nach der »Brücke«, dem Sitz des Schneidermeisters und seiner Gesellen, wenn er welche hat; und sie sagte wohl zum hundertsten Mal diesen Abend: »wo der Jung' bleibt! der Sapperlot!« Dann fiel ihr Auge wohl, auf dem Weg von der Brücke zum nahen Fenster, an ein Ausklopfstöckchen von spanischem Rohr, das quer über zwei Holznägeln an der Fensterwand lag, just so hoch, daß eine Frau von der Höhe der Frau Bügel keinen Schemel unter den Füßen brauchte, ihn aber auch nicht erlangen konnte, ohne sich einigermaßen zu dehnen. »Wo der Jung' bleibt!«

 An der anderen Seite des Tisches saß ein Mädchen, das auch ohne den Zug von Herzensgüte in ihrem Gesicht hübsch erschienen wäre. Sie sah aus, als wünsche sie nichts sehnlicher, als daß jemand irgendeinen Dienst von ihr verlange, je schwerer, desto besser. Ihrer Art zu sitzen sogar merkte man den Diensteifer an. Sie saß nur auf der äußersten Kante, ewig im Begriffe, vor Bereitwilligkeit vom Stuhle zu fallen; die halbgeöffneten Lippen hatten ein unausgesprochenes ewiges »Gleich« zwischen sich; und das stehende Lächeln um das runde Näschen versicherte unaufhörlich: man solle doch sagen, was man von ihr wünsche; es sei ihr ja eine Lust, es auszurichten; sie tu es ja ganz gewiß von Herzen gern. So war es, wenn die Frau Bügel sagte: »wo der Jung' nur bleibt!« als wollte sie vor Eile gleich vom Stuhl herab zum Fenster hinausfallen, und da sie nichts weiter tun konnte, stand sie wenigstens für einen Augenblick auf. Fiel ihr dann ein Stäubchen auf einem Möbel oder sonst etwas in die Augen, was hinwegzutun oder zurechtzurücken war, so ließ sie ihren Diensteifer einstweilen daran aus, eh' sie zu ihrer Arbeit zurückkehrte. Es waren ein Paar Socken, die sie ausbesserte; sie hielt sie mit einer Art andächtiger Schonung in ihren kleinen Händen. Die Socken waren klein, wie diese Hände. Sie mußte den Knaben sehr liebhaben, dem sie gehörten, man sah es in ihrem Blicke, an jeder Bewegung. Es war etwas Mütterliches darin, das ihr sehr gut stand. Daß sie aber keine Mutter war, sah man mit dem ersten Blicke auf die frische, zierliche Gestalt und das mädchenhafte Wesen. [...]
Otto Ludwig: Aus dem Regen in die Traufe

Keine Kommentare: