02 September 2012

Blütenlese aus der "Verlorenen Handschrift"


Die Fremden erzählten von ihrer Stadt und Neuigkeiten aus der Welt, dann wurde, wie Männern ziemt, auch über Politik gesprochen, und Ilse freute sich, daß ihr Vater und die Fremden sich darin vortrefflich verstanden.
[...] es tat dem Landwirt doch sehr wohl, daß er dem Gelehrten auf dessen eigenem Gebiet Bescheid sagen konnte.
»Was macht Flavia?« fragte sie die Magd, welche den Besuch erwartend an der Pforte stand. »Munter,« antwortete Susanne, »und der Kleine auch.« »Es ist die gelbe Kuh und ein junges Ochsenkalb,« erklärte der Pastor dem Professor, während Ilse mit der Magd in den engen Hofraum trat. »Ich sehe nicht gern, wenn die Leute dem Vieh christliche Namen geben, da muß unser Latein aushelfen.«
»Unser Herr Professor steht im Konversationslexikon!« schrien die Kinder.
Es waren kurze Augenblicke, aber zwischen Blitz und Schlag loderte die Glut in ihm zu hellen Flammen auf. Die neben ihm stand im Wetterschein, von blendendem Licht umgossen, sie war es, die er sich forderte für sein Leben.
Wie künstliches Feuer, welches unerwartet aufsprühend einzelne Stellen der dunkeln Landschaft mit buntem Schein erleuchtet, gab ihr seine Rede bald hier bald dort einen fesselnden Blick auf fremdes Leben.
Es war eine Zeit der reinen Begeisterung, eines selbstlosen Entzückens, das der Mann nicht kennt und das nur dem Weibe wird, einem reinen, unwissenden Herzen, dem plötzlich bei gereifter Kraft das Größte des Erdenlebens die empfängliche Seele einnimmt [...] 
(Gustav Freytag: Die verlorene Handschrift)

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