18 Oktober 2012

Zwei Prozesse

Fortsetzung von Zunftzopf: Das Ehepaar Schulz führt zur Wahrung seiner Rechte auf weitere Ausübung des bisherigen Broterwerbs zwei Prozesse.

Das Stadtgericht hatte, gegen sonstige Gewohnheit, in dem Processe gegen den Horndrechsler rasch gearbeitet. Schon nach Verlauf eines halben Jahres war eine Entscheidung erfolgt, welche den Klägern den Beweis auferlegte, daß ihnen seit undenklicher Zeit die Befugniß zustehe, ausschließlich der Holzdrechsler, Horndrechslerwaaren anzufertigen und zu verkaufen. Da keine von beiden Parteien gegen dieses Beweisurtheil Rechtsmittel eingewendet hatte, wurde zur Beweisaufnahme geschritten. Es wurden von beiden Seiten eine Menge Zeugen und Gegenzeugen vernommen. Endlich kam ein Erkenntniß, welches den klägerischen Beweis für nothdürftig geführt erkannte und den Klägern einen Erfüllungseid auferlegte.
Hiergegen appellirte der Holzdrechsler, und er erhielt von der Justizkanzlei ein reformatorisches Erkenntniß, der Beweis sei gänzlich verfehlt, die Kläger wurden zurückgewiesen. Nun brachten Kläger die Sache an den höchsten Gerichtshof, verbanden mit der Appellation zugleich das beneficium novorum, indem sie eine alte Urkunde von dem lüneburgischen Herzog Georg Ludwig vorlegten, die zu Gunsten der Horndrechsler allenfalls interpretirt werden konnte. Nach zwei Jahren stellte das Oberappellationsgericht in Celle das erste Stadtgerichtserkenntniß wieder her, verurtheilte auch, wenn Kläger den Erfüllungseid leisteten, den Beklagten in die Kosten, mit Ausnahme derjenigen der Appellationsinstanz, welche compensirt wurden.
Der Eid wurde abgeleistet.
Das war ein harter Schlag für die Schulz'sche Familie. Die Proceßkosten, die der Besagte seinen Gegnern für zwei Instanzen bezahlen mußte, beliefen sich auf mehrere hundert Thaler. In seiner Kasse waren kaum so viel Groschen. Es war ein schlechter Trost, daß der Advocat meinte, bis die Liquidation der Kosten erfolgt und diese festgestellt sei, möchte wol immer noch ein halbes Jahr hingehen, und dann könne er die Sache leicht noch ein halbes Jahr, und wenn man die Kosten einer Instanz anwenden wolle, noch länger hinausziehen. Vielleicht, hatte er gesagt, sei der Proceß mit den Schneidern dann gewonnen. Das war in der That die letzte Hoffnung der armen Familie; sie erhielt dann einen Theil der seit Jahren aufgewandten Proceßkosten erstattet.
Dieser Schneiderproceß lag zur Entscheidung in einer Supplicationsinstanz bei irgendeiner unbekannten Juristenfacultät. Die Justizkanzlei zu Hannover, in der moderne Ansichten vertreten waren, hatte auch hier in der Appellationsinstanz zu Gunsten der Beklagten entschieden, dem Schneideramte den Beweis auferlegt, daß die Schneideramtsmeister in Heustedt das ausschließliche Recht hätten, Damenkleidungen anzufertigen, der Beklagten den Einredenbeweis, daß keiner der heustedter Schneider fähig sei, ein Damenkleid ordentlich anzufertigen. Der Rechtsbeistand Schulz' zweifelte nicht, daß der erste Beweis nicht werde geführt werden, und daß es der Beklagten ein Leichtes sein werde, den zweiten Beweis zu führen. Die Schneider verzweifelten selbst daran, den Proceß zu gewinnen, der einen des Processirens werthen Gegenstand nicht mehr hatte, da Marie die Schneiderei aufgegeben; es handelte sich nur um die Kosten.
Georg meinte indeß, auf den Gewinn eines Processes zu hoffen, das sei dasselbe, als seine Hoffnung auf den Gewinn einer Quaterne zu setzen; er dachte Tag und Nacht darüber nach, auf welche Weise es ihm möglich sein würde, den Betrag der Proceßkosten geliehen zu bekommen. Jemand um die kleinste Gefälligkeit anzusprechen, war ihm von Jugend an schwer geworden, es beleidigte das seinen Stolz.
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 7. Kapitel

Frau Marie bittet vergeblich um Geld. Man muss schließlich von einem Juden leihen. Als auch der zweite Prozess verloren geht und man auch diese Prozesskosten übernehmen muss, bleibt nichts anderes übrig, als das Haus zu verkaufen. So sieht der Jude Hirsch eine Chance auf Grundbesitz.


Moses Hirsch blieb Höchstbietender, indem er noch 50 Thaler weniger bot, als seine Hypothek betrug. Er erhielt den Zuschlag. Aber Juden durften damals und bis in die Mitte unsers Jahrhunderts kein Grundeigenthum erwerben. Unter besondern Umständen wurde davon indeß eine Ausnahme gemacht. Moses Hirsch reiste selbst nach Hannover, um eine solche für sich zu erwirken. Er machte dort großes Geschrei, daß er genöthigt gewesen, zur Rettung seines Kapitals und der Hypothek zu kaufen das Haus, daß er schon jetzt 50 Thaler verliere, noch viel mehr verlieren würde, wenn der weniger Bietende das Haus erhielte. Dieses Geschrei wirkte indeß wol weniger als die thätige Fürsprache seines Vetters, des Hofagenten Markus Meier. Moses Hirsch bekam die Dispensation vom Gesetze, ward so der erste jüdische Grundbesitzer in Heustedt und mußte demzufolge auch Bürger werden, das Schutzjudenverhältniß hörte damit auf. Von da an pflegte er seinen Kindern, und in spätern Jahren noch seinen Enkeln täglich von früh bis abends einzupredigen: »So ich bin geworden in Heustedt der erste Grundbesitzer und Börger vom Stamme Israels, sollen bei dem Gotte meiner Väter und dem Lichte auf dem Grabe meiner Mutter werden meine Kindeskinder die ersten au Gut und Habe von den Börgern Heustedts.«
Aber Moses Hirsch war gewissermaßen großmüthig und gutmüthig. Er hätte das Recht gehabt, wegen der 50 Thaler, um die er bei der Subhastation zu kurz gekommen, sich an das Mobiliarvermögen Schulz' zu halten, er hätte die Kuh und das Hausgeräth verkaufen lassen können. Er verzichtete darauf, er machte einen Strich durch die Obligation, hatte er doch das Ziel erreicht, das er seit dreißig Jahren beständig vor Augen gehabt, das ihm bei seinem anfänglichen Schacher mit alten Kleidern und Fellen, dann bei seinem Viehhandel, dann bei dem Wollhandel und Négocegeschäft beständig vor Augen gestanden: er war Bürger und Hausbesitzer.
Es traf sich, daß damals der alte Spritzenmeister, als dessen Substitut Georg schon seit Jahren fungirt hatte, starb. Derselbe hatte eine Officialwohnung neben dem Spritzenhause, freilich in Klein-Paris. Der Drechsler wurde von dem Magistrat als Spritzenmeister gewählt, ihm die Wohnung nebst Garten und eine Moorwiese zur Kuhweide überwiesen, dafür mußte er Spritzen und Schläuche in Ordnung halten, einschmieren, lüften, beim Feuer das Rohr führen u. s. w.
Georg konnte sein Unglück nicht verschmerzen, obwol er jetzt viel sorgenfreier lebte wie zuvor. Er hatte sich eine Werkstatt eingerichtet, Marie hatte das Haus so schön ausgeziert, als nur möglich war. Der Garten hinter dem Hause war bedeutend größer als der beim eigenen Hause, hatte Aepfel-, Birnen- und Zwetschenbäume, ein Umstand, der die beiden Jungen ungemein glücklich machte.
Wenn bei der trüben Stimmung, in welcher Georg dahinlebte, eine zufällige Veranlassung sich fand, daß ihm Marie etwas wider seinen Sinn machte oder sprach, namentlich die Erziehung der Jungen betreffend, welche sie allzu gern in die Rectorschule geschickt hätte, so kam es wol zu Ehestandszänkereien, und der Mann war ungerecht genug, seiner Marie Vorwürfe zu machen, wie sie einst ihm von der Mutter eingegeben: »Hättest du nicht immer so hoch hinaus gewollt, hättest du mich nicht beredet, einen Laden einzurichten, hättest du durch dein ganzes Wesen und Betragen nicht den Neid und die Eifersucht der Heustedter erregt, mich nicht zu den Processen verleitet, wir brauchten jetzt nicht in diesem Banditenwinkel zu wohnen. Nun willst du mit den Jungen auch wieder hoch hinaus. Der Heinrich sitzt beständig hinter den Büchern, statt mit Hand anzulegen, oder läuft in die Oststadt mit Forstschreibers Karl, daraus wird nimmer etwas Gutes.«
Wenn die Frau dann aber antwortete: »Georg, habe ich das um dich verdient? Habe ich nicht Vater und Vaterstadt, das goldene Mainz, verlassen, bin ich meiner Religion nicht entfremdet deinetwegen? Willst du mich durch deine Lieblosigkeit nun noch zu dem Glauben zwingen, daß mich die Strafe des Himmels schon hier verfolgt, weil ich dich lieber gehabt als meinen Glauben? weil ich die Gebote meiner Kirche misachtet, und mich der Absolution unwürdig gemacht habe, wie der Priester sagt?« dann bat der Mann um Verzeihung, und man versöhnte sich.
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 7. Kapitel

Aus der Sicht von 1870 erscheinen Zunftzwang und die Unfreiheit von Juden als lange überholt. Mit seiner Erinnerung an die alten Verhältnsse im Königreich Hannover kann Oppermann begründen, dass dies Königreich kein Recht auf Fortbestand mehr habe. 



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