31 Juli 2014

Das Buch der von Neil Young Getöteten

Christoph Bartmann von der SZ findet in dem Buch, "was wir alle aus unserem musikalischen Leben kennen: unsere hilflose, aber fiebrige Begeisterung von einem Stück, das uns in Flammenschrift irgend etwas fürs Leben bedeuten will."

Ich sehe in Navid Kermanis Buch die Erklärung dafür, weshalb die Verbindung von Form und Gefühl uns mehr anspricht als Schilderung und Argument, auch wenn es für unterschiedliche Menschen ganz unterschiedliche Formen und nicht fassbare Gefühle sind, die die Wünschelrute sind, die uns mitschwingen lässt. 

Und Navid Kermani kommt mir noch näher dadurch, wie er die Faszination von Neil Young erklärt. 

Ich bin sicher, dass ich mit Neil Youngs Grunge nichts anfangen werde, aber Kermani hat mir geholfen, eine Seite von mir besser zu verstehen. Das Zauberwort ist getroffen.

Das mag schon der Anfang gewesen sein: Das Baby, das mir anvertraut ist, schreit und lässt sich nicht beruhigen. Eine Erfahrung der Hilflosigkeit, die viele teilen und für die man die Zauberformel sucht.

Bei Kermani ist es Neil Young. Was war es doch bei Wilhelm Busch? 

Mehr zum Buch:
Perlentaucher
Suhrkamp

29 Juli 2014

Dichter und ihre Gesellen

Baron Fortunat, die Hauptfigur aus Eichendorffs Roman "Dichter und ihre Gesellen", plant eine Reise nach Italien und besucht auf der Reise seinen Studienkollegen Walter, der inzwischen Richter geworden ist. Walter erinnert sich an die Italienreisepläne aus der Studien zeit und bezeichnet sie als "schöne Jugendträume".
[Meine 1. Lektüre: März/April 1966]
»Das verhüte Gott!« versetzte Fortunat lebhaft, »warum denn Träume? Die Ahnung war es, der erste Schauer des schönen, überreichen Lebens, das gewißlich mit aller seiner geahnten und ungeahnten herrlichen Gewalt über uns kommen wird, wenn wir nur fröhlich standhalten. Wo wären wir denn aufgewacht von den sogenannten Träumen? Was hätte sich denn seitdem verändert? Aurora scheint noch so jung über die Berge wie damals, die Erde blüht alljährlich wieder bis ins fernste, tiefste Tal – warum sollte denn unsere unsterbliche Seele, die alle den Plunder überdauert, allein alt werden? Was hindert denn zum Exempel dich, alle den Ballast von Vor-, Neben- und Rücksichten frisch wegzuwerfen, und frei mit mir in das offene Meer zu stechen? – Reise mit, alter Kumpan!« [...]
Amtspflichten lässt Fortunat nicht gelten:
Das nennt man Pflichttreue; als hätte der Mensch nicht auch die höhere Pflicht, sich auf Erden auszumausern und die schäbigen Flügel zu putzen zum letzten, großen Fluge nach dem Himmelreich, das eben auch nicht wie ein Wirtshaus an der breiten Landstraße liegt, sondern treu und ernstlich und mit ganzer, ungeteilter Seele erstürmt sein will. [...]
Walter aber fing nun an, einige Lieblingsstellen aus Victors Werken zu rezitieren, was Fortunaten immer störte, weil ein gutes Gedicht keine Stellen, sondern eben nur das ganze gute Gedicht gibt, gleichwie eine abgeschlagene Nase oder ein Paar abgerissene Ohren der Mediceischen Venus für Kenner recht gut, aber sonst ganz nichtswürdig sind. [...]
Bei dem schönsten Frühlingswetter zogen die beiden Freunde, auf ihren Pferden fröhlich von den alten Zeiten miteinander schwatzend, in das morgenrote Land hinein. [...]


Walter schwor endlich, nicht einen Schritt mehr weiterzugehen, er band sein Pferd an und setzte sich maulend daneben. Fortunat hatte sich gleichfalls auf den Rasen hingestreckt, während sein Gefährte nun allerlei Reden über unzeitige Romantik und verlorene Zeit verlauten ließ. Fortunat antwortete nicht darauf, und da es gar nicht enden wollte, zog er seinen Mantel über den Kopf und schlummerte bald vor Ermüdung ein.
Als er wieder aufwachte, war Walter unterdes vor Ärger fest eingeschlafen. Er sah freudig rings um sich her, die tiefe Einsamkeit, die unbekannte Gegend, der Schlafende und die Pferde im Mondschein, alles war ihm so neu und wunderbar; er ging unter den Bäumen auf und nieder und sang halb für sich:
Wie schön, hier zu verträumen
Die Nacht im stillen Wald,
Wenn in den dunklen Bäumen
Das alte Märchen hallt.
Die Berg im Mondesschimmer
Wie in Gedanken stehn,
Und durch verworrne Trümmer
Die Quellen klagend gehn.
Denn müd ging auf den Matten
Die Schönheit nun zur Ruh,
Es deckt mit kühlen Schatten
Die Nacht das Liebchen zu.
Das ist das irre Klagen
In stiller Waldespracht,
Die Nachtigallen schlagen
Von ihr die ganze Nacht.
Die Stern gehn auf und nieder –
Wann kommst du, Morgenwind,
Und hebst die Schatten wieder
Von dem verträumten Kind?
Schon rührt sich's in den Bäumen,
Die Lerche weckt sie bald –
So will treu verträumen
Die Nacht im stillen Wald.
Und wie er aufblickte, hörte er wirklich schon den Klang einer früherwachten Lerche durch den Himmel schweifen. »Frisch auf!« rief er fröhlich Waltern zu, »frisch auf, ich wittre Morgenluft!« Walter erhob sich taumelnd und konnte sich lange nicht in dem wunderlichen Schlafsaal zurechtfinden. Der kurze Schlummer hatte ihn neu gestärkt und verwandelt, er schämte sich seines gestrigen Mißmuts, und bald saßen die beiden Freunde wieder rüstig zu Pferde, um, wo möglich, noch vor Tagesanbruch aus dem Labyrinth der Wälder herauszukommen.

Nach einem kurzen Ritt hatten sie die Freude, unerwartet wieder einen ordentlichen Weg zu erreichen. »Land! Land!« rief endlich Walter vergnügt aus, »dorthin zu liegt Hohenstein!«
[...] schwangen sich von den steinernen Sphinxen, die den Eingang bewachten, über das Gitter in den Garten hinein. Da war noch alles still und duftig, einzelne Marmorbilder tauchten eben erst aus den lauen Wellen der Nacht empor. [...]
Walter ist freilich nicht auf Abenteuer aus, sondern sucht Kontakt zur Amtmannstochter Florentine. Fortunat freilich nutzt jede Gelegenheit, wo sich ihm ansprechende Eindrücke bieten:
 [...] Blumenbeete erblickte, von denen dunkelglühende Päonien und prächtige Kaiserkronen glänzten. Es war, als hätte ein wunderbarer Zauberer über Nacht seine bunten Signaturen über das Grün gezogen und säße nun selber eingeschlummert in dem Labyrinth beim Rauschen der Wasserkünste und träumte von der alten Zeit, die er in seine stillen Kreise gebannt. [...]
an den Statuen hingen Mieder, Poschen und Schleier umher, [...]
Aber nun erschallte ein lauter Schrei, und aus allen Hecken, in Taft und Seide rauschend, fuhren erschrocken fliehende Mädchengestalten durchs Grüne, als hätte der Wind Aprikosenblüten umhergestreut. [...]
Doch zweifelt er gelegentlich an dem ständigen Unterwegssein:
O glückselige, bangsame Einsamkeit, dachte Fortunat, wer es wie Walter über sich gewönne, sich ganz darin zu versenken! [...] Unsere Jungens wissen schon jetzt mehr, als wir jemals erfahren haben, und recken und sehnen sich aus allen Gelenken heraus, während wir in unserer lustigen und gesunden Jugendzeit ohne besondere Sehnsucht hinreichend dumme Streiche machten und erst die fatalen Lümmeljahre überstehen mußten. [...]
Doch wenn Walter sich in diesem Sinne äußert, muss Fortunat doch die Position der Jungen verteidigen:
»Es geht doch nichts übers Reisen«, rief sie fröhlich aus, »wenn ich so manchmal im Sommer recht früh erwache und höre unten aus den Dörfern die Hähne krähen oder ein Posthorn von fern über den Garten herüber, da wünsch' ich mir oft, ich wäre ein Mann und könnte auch so mit in die Welt hinaus.« – »Ich meine«, fiel hier Walter etwas grämlich ein, »man müsse erst sich selbst und die kleine Welt um sich herum recht verstehen gelernt haben, ehe man sich weiter umsieht, und das Reisen zieme überhaupt nur dem reiferen Alter.« – Fortunaten ärgerte der Schulmeisterton. – »Gerade umgekehrt«, rief er aus, »nur die Jugend versteht recht aus Herzensgrunde die Schönheit der Welt mit ihren morgenroten Gipfeln und kühlen Abgründen und funkelnden Auen im Grün, und malt es alles fresko nach, daß das Alter einst sich daran erfrische, wenn draußen die Blätter fallen und die sinkende Herbstsonne die Schildereien noch einmal wunderbar beleuchtet. Während dein sogennantes reifes Alter vom Schifflein sorgsam die Tiefe mit dem Senkblei mißt, sitzt die Jugend über Bord geneigt, und sieht ihr eignes weinbekränztes Haupt in der klaren Flut und hört die Glocken der versunkenen Stadt aus der Tiefe heraufklingen. Ja, glaubt nur, die Welt ist wie eine eigensinnige Schöne, die nur in jungen Augen sich mit ihrem fröhlichsten Schmucke spiegeln mag, für Klugheit und Kenntnisse gibt sie nur Brot, für Liebe und rechte Freude an ihr aber wieder Freude und Liebe.« [...]
 (Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen)

Die Fortsetzung findet sich hier.

26 Juli 2014

Die Insel Felsenburg: Das Geständnis des Kapitäns Lemelie

Wer sich schon als Jugendlicher bei Karl May gewundert hat, weshalb die Gegner Old Shatterhands immer just dann ihre Pläne besprachen, wenn er gekommen war, sie zu belauschen, und wer nicht einsehen wollte, weshalb sie sich die Mühe machten, ihm ihre Übeltaten, ob geschehen oder erst geplant, in aller Ausführlichkeit darlegten, wenn er in ihrer Gewalt war, der wird Karl May Abbitte leisten müssen, wenn er diese "Beichte" eines Menschen gelesen hat, der sich nach Schnabels Darstellung dem Teufel verschrieben hat  und keinerlei Reue darüber empfindet?
Warum spricht er von seinen Kindern als Huren-Kindern, warum spricht er von "genothzüchtigt" und "abscheuliche[r] Blutschande", wo er doch angeblich bedenkenlos seiner Lust nachgegeben hatte? Woher nimmt er den Atem zu einem solch ausführlichen Geständnis, warum verschweigt er den Namen des "allervornehmsten" Geschlechts, das ihm doch sein Selbstbewusstsein gegeben haben muss?
Das bleiben unbeantwortete Fragen an Johann Gottfried Schnabels Motivierungskunst.

Sobald man sich die Frage nach der Motivation für einen so ausführlichen Bericht Lemelies stellt, legen sich freilich drei Möglichkeiten nahe:
1. Lemelie will sich seine Taten von der Seele reden, ohne sie wirklich zu bereuen. Dann müsste er sie freilich beschönigen und Concordia gegenüber den Eindruck zu erwecken versuchen, dass alle seine Taten nur auf ihre unwiderstehliche Attraktivität zurückzuführen seien.
2. Er will Vergebung finden. Dann müsste er bereuen oder doch wenigstens Reue vortäuschen.
3. Die nächstliegende Motivierung liegt freilich darin, dass der Erzähler Albert den Verdacht fürchten muss, ein Mann, der sich gegen zwei Rivalen um die Gunst der schönen Concordia durchsetzt, noch dazu auch gegen den ihr angetrauten Gatten, könnte sich dabei unehrenhaft verhalten haben, und wenn nicht, dann sei Concordias Tugendhaftigkeit doch nicht so über jeden Zweifel erhaben,  wie ein Mann es sich damals von seiner Frau wünschte. - Den Weg kann der Erzähler freilich nicht gehen. Denn den Eindruck, der Patriarch dieser Gemeinschaft auf der Insel der Glückseligen könne ein gemeiner Lügner und Heuchler sein, will er ja gerade vermeiden. Folgen wir also dem Bericht Lemelies und versuchen wir, uns unseren eigenen Vers darauf zu machen. 


"Wisset sagte er, daß ich aus einem der allervornehmsten Geschlechte in Franckreich entsprossen bin, welches ich, indem es mich als einen rechten Greuel der Tugenden erzeuget, nicht einmal nahmhafft machen will. Ich habe in meinem 18den Jahre meine leibliche Schwester genothzüchtiget, und nachhero, da es ihr gefiel, in die 3. Jahr Blut-Schande mit derselben getrieben. Zwey Huren-Kinder, die binnen der Zeit von ihr kamen, habe ich ermordet, und in Schmeltz-Tiegeln als eine besondere kostbare Massam zu Asche verbrannt. Mein Vater und Mutter entdeckten mit der Zeit unsere abscheuliche Blutschande, liessen sich auch angelegen seyn, eine fernere Untersuchung unsers Lebens anzustellen, doch weil ich alles bey Zeiten erfuhr, wurden sie beyde in einer Nacht durch beygebrachtes Gifft in die andere Welt geschickt. Hierauff wolten meine Schwester und ich als Ehe-Leute, unter verwechselten Nahmen, nach Spanien oder Engelland gehen, allein eine andere wollüstige Hure zohe meine gestilleten Begierden vollends von der Schwester ab, und auf sich, weßwegen meine um Ehre, Gut und Gewissen betrogene Schwester, sich nebst ihrer dritten von mir tragenden Leibes-Frucht selbst ermordete, denen Gerichten aber ein[213] offenhertziges Bekänntniß, meiner und ihrer Schand und Mordthaten, schrifftlich hinterließ, ich aber hatte kaum Zeit, mich, nebst meiner neu erwehlten Hure, und etlichen kostbaren Sachen, unter verstellter Kleidung und Nahmen, aus dem Lande zu machen. – – Hier wolte dem Bösewicht auch seine eigene schändliche Zunge den Dienst versagen, weßwegen ich, selbige zu stärcken, ihm noch einen Becher Palmen-Safft reichen muste, worauff er seine Rede also fortsetzte:
Ich weiß und mercke sagte er, daß ich nicht eher sterben kan, biß ich auch den sterblichen Menschen den meisten Theil meiner schändlichen Lebens-Geschicht offenbaret habe, wisset demnach, daß ich in Engelland, als wohin ich mit meiner Hure geflüchtet war, nicht allein diese, wegen ihrer Untreue, sondern nebst derselben 19. Seelen allein durch Gifft hingerichtet habe.
Indessen aber hatte mich doch am Englischen Hofe, auf eine ziemliche Stuffe der Glückseligkeit gebracht, allein mein Ehrgeitz und ausschweiffende Wollust stürtzten den auf üblen Grunde ruhenden Bau, meiner zeitlichen Wohlfarth gar bald darnieder, so daß ich unter abermals verwechselten Nahmen und in verstelleter Kleidung, als ein Boots-Knecht, sehr arm und elend aus Engelland abseegeln muste.
Ein gantz besonderes Glücke führete mich endlich auf ein Holländisches Caper-Schiff, und machte nach und nach aus mir einen ziemlich erfahrnen See-Mann, allein wie ich mich durch Gifft-mischen, Meuchel-Mord, Verrätherey und andere[214] Rancke mit der Zeit biß zu dem Posten eines Capitains erhoben, ist wegen der kurtzen Frist, die ich noch zu leben habe, unmöglich zu erzehlen. Der letztere Sturm, dergleichen ich noch niemals, ihr aber nebst mir ausgestanden, hätte mich bey nahe zur Erkäntniß meiner Sünden gebracht, allein der Satan, dem ich mich bereits vor etlichen Jahren mit Leib und Seele verschrieben, hat mich durchaus nicht dahin gelangen lassen, im Gegentheil mein Hertze mit immerwährenden Boßheiten angefüllet. – – Er forderte hierbey nochmals einen Trunck Palmen-Safft, tranck, sahe hierauff die Concordia mit starren Augen an, und sagte: Bejammerns-würdige Concordia! Nehmet den Himmel zu einem Artzte an, indem ich eure noch nicht einmal verblutete Hertzens-Wunde von neuen aufreisse, und bekenne: daß ich gleich in der ersten Minute, da eure Schönheit mir in die Augen gefallen, die verzweiffeltesten Anschläge gefasset, eurer Person und Liebe theilhafftig zu werden. Mehr als 8. mal habe ich noch auf dem Schiffe Gelegenheit gesucht, euren seeligen Gemahl mit Giffte hinzurichten: doch da er ohne eure Gesellschafft selten gegessen oder getruncken hat, euer Leben aber, mir allzukostbar war, sind meine Anstalten jederzeit vergeblich gewesen. Oeffentlich habe niemals mit ihm anzubinden getrauet, weil ich wol gemerckt, daß er mir an Hertzhafftigkeit überlegen, und ihn hinterlistiger Weise zu ermorden, wolte auch lange Zeit nicht angehen, da ich befürchten muste, daß ihr deßwegen einen tödtlichen Haß auf mich werffen möchtet. Endlich aber gab mir der Teuffel und meine verfluchte[215] Begierde, bey ersehener Gelegenheit die Gedancken ein, euren seeligen Mann von der Klippe herunter zu stürtzen. – – – Concordia wolte bey Anhörung dieser Beichte ohnmächtig werden, jedoch der wenige Rest einer bey sich habenden, balsamischen Artzeney, stärckte sie, nebst meinem zwar ängstlichen doch kräfftigen Zureden, dermassen, daß sie das Ende dieser jämmerlichen und erschrecklichen Geschicht, mit ziemlicher Gelassenheit vollends abwarten konte.
Lemelie fuhr demnach im reden also fort: Euer Ehe-Mann, Concordia! kam, indem er ein schönes Morgen-Lied sang, die Klippe hinauff gestiegen, und erblickte mich Seitwarts mit der Flinte im Anschlage liegen. Er erschrack hefftig, ohngeacht ich nicht auf ihn, sondern nach einem gegen mir über sitzenden Vogel zielete, dem er mit seiner Ankunfft verjagte. Wiewohl mir nun der Teuffel gleich in die Ohren bließ, diese schöne Gelegenheit, ihn umzubringen, nicht vorbey streichen zu lassen, so war doch ich noch listiger, als hitzig, warff meine Flinte zur Erden, eilete und umarmete den van Leuven, und sagte: Mein edler Freund, ich spüre daß ihr vielleicht einen bösen Verdacht habt, als ob ich nach eurem Leben stünde; Allein entweder lasset selbigen fahren, oder erschiesset mich auf der Stelle, denn was ist mir mein verdrießliches Leben ohne eure Freundschafft auf dieser einsamen Insul sonsten nütze. Van Leuven umarmete und küssete mich hierauff gleichfalls, versicherte mich seiner aufrichtigen und getreuen Freundschafft, setzte auch viele gute Vermahnungen hinzu, vermöge deren ich mich in Zukunfft[216] tugendhaffter und Gottesfürchtiger aufführen möchte. Ich schwur ihm alles zu, was er vermuthlich gern von mir hören und haben wolte, weßwegen wir dem äuserlichen Ansehen nach, auf einmal die allerbesten Freunde wurden, unter den vertraulichsten Gesprächen aber lockte ich ihn unvermerckt auf den obersten Gipffel des Felsens, und zwar unter dem Vorwande, als ob ich ein von ferne kommendes Schiff wahrnähme, da nun der höchsterfreute van Leuven, um selbiges zu sehen, auf die von mir angemerckte gefährlichste Stelle kam, stürtzte ich ihn mit einem eintzigen stosse, und zwar an einem solchen Orthe hinab, wo ich wuste, daß er augenblicklich zerschmettern muste. Nachdem ich seines Todes völlig versichert war, gieng ich mit zittern zurücke, weil mir die Worte seines gesungenen Morgen Liedes:


Nimmstu mich, GOTT in deine Hände,
So muß gewiß mein Lebens Ende
Den Meinen auch zum Trost gedeyhn,
Es mag gleich schnell und kläglich seyn.


gar nicht aus den Gedancken fallen wolten, biß der Teuffel und meine unzüchtigen Begierden mir von neuen einen Muth und, wegen meines künfftigen Verhaltens, ferner Lehren einbliesen. Jedoch, sprach er mit seufftzender und heiserer Stimme: mein Gottes-und Ehrvergessenes Aufführen kan euch alles dessen nachdrücklicher und besser überzeugen, als mein beschwerliches Reden. Und Mons. Albert, euch war der Todt ebenfalls schon vorlangst geschworen, insoweit ihr euch als einen Verhinderer meines Vergnügens angeben, und mir nicht als einem[217] Befehlshaber gehorchen würdet, jedoch das Verhängniß hat ein anders beschlossen, indem ihr mich wiewol wieder euren willen tödtlich verwundet habt. Ach machet derowegen meiner zeitlichen Marter ein Ende, rächet eure Freunde und euch selbst, und verschaffet mich durch den letzten Todes-Stich nur bald in das vor meine arme Seele bestimmte Quartier zu allen Teuffeln, denn bey GOTT ist vor dergleichen Sünder, wie ich bin, weder Gnade noch Barmhertzigkeit zu hoffen.
Hiermit blieb er stille liegen. Concordia aber und ich setzten allen unseren anderweitigen Jammer bey Seite, und suchten des Lemelie Seele durch die trostreichsten Sprüche aus des Teufels Rachen zu reissen. Allein, seine Ohren waren verstopfft, und ehe wir uns dessen versahen, stach er sich, mit einem bey sich annoch verborgen gehaltenen Messer, in etlichen Stichen das Hertze selbst vollends ab, und bließ unter gräßlichen Brüllen seine ohnfehlbar ewig verdammte Seele aus. Concordia und ich wusten vor Furcht, Schrecken und überhäuffter Betrübniß nicht, was wir anfänglich reden oder thun solten, doch, nachdem wir ein paar Stunden vorbey streichen lassen, und unsere Sinnen wieder in einige Ordnung gebracht hatten, schleppte ich den schändlichen Cörper bey den Beinen an seinen Ort, und begrub ihn als ein Vieh, weil er sich im Leben noch viel ärger als ein Vieh aufgeführet hatte.
Das war also eine zwar kurtze, doch mehr als Erstaunens-würdige Nachricht von dem schändlichen Leben, Tode und Begräbniß eines solchen[218]Menschen, der der Erden eine verfluchte unnütze Last, dem Teuffel aber eine desto nützlichere Creatur gewesen. Welcher Mensch, der nur ein Füncklein Tugend in seiner Seelen heget, wird nicht über dergleichen Abschaum aller Laster erstaunen, und dessen durchteuffeltes Gemüthe verfluchen? Ich vor meine Person hatte recht vom Glücke zu sagen, daß ich seinen Mord-Streichen, noch so zu sagen, mit blauen Augen entkommen war, wiewohl ich an meinen empfangenen Wunden, die, wegen der sauren Arbeit bey dem Begräbnisse dieses Höllenbrandes, starck erhitzt wurden, nachhero Angst und Schmertzen genung auszustehen hatte."
(Schnabel: Insel Felsenburg 1. Buch, S.212-219)

25 Juli 2014

Ahnung und Gegenwart: Leontin. Friedrich, das Schloss der Gräfin und die Residenz

Wie glücklich, sagte Leontin, als alles verschwunden war, könnte der Student sein, so frank und frei mit seiner Liebsten durch die Welt zu ziehn! wenn er nur Talent fürs Glück hätte, aber er hat eine einförmige Niedergeschlagenheit in sich, die er nicht niederschlagen kann, und die ihn durchs Leben nur so hinschleppt. Sie setzten sich nun auf dem schönen grünen Platze um einen Tisch zusammen, der Fluß flog lustig an ihnen vorüber, die Herbstsonne wärmte sehr angenehm. [...]
Alle Figuren dieses Schauspiels sind übrigens auch von meiner Bekanntschaft, ich möchte aber nur wissen, was sie seit der Zeit, daß ich sie nicht gesehen, angefangen haben, denn wie ich soeben höre, hat sich seitdem auch nicht das mindeste in ihnen verändert. Diese Leute schreiten fleißig von einem Meßkataloge zum andern mit der Zeit fort, aber man spürt nicht, daß die Zeit auch nur um einen Zoll durch sie weiter fortrückte.
Friedrich, der Leontin ruhig und mit Vergnügen angehört hatte, sagte: »So habe ich dich am liebsten, so bist du in deinem eigentlichen Leben. Du siehst so frisch in die Welt hinein, daß alles unter deinen Augen bunt und lebendig wird.« »Jawohl«, antwortete Leontin, »so buntscheckig, daß ich manchmal selber zum Narren darüber werden könnte.«
Die Sonne fing indes schon an, sich zu senken, und sowohl Friedrich als Leontin gedachten ihrer Weiterreise und versprachen einander, nächstens in der Residenz sich wieder zu treffen. Herr Faber bat Friedrich, ihn der Gräfin Romana bestens zu empfehlen. »Die Gräfin«, sagte er, »hat schöne Talente und sich durch mehrere Arbeiten, die ich kenne, als Dichterin erwiesen. Nur macht sie sich freilich alles etwas gar zu leicht.« Leontin, den immer sogleich ein seltsamer Humor befiel, wenn er die Gräfin nennen hörte, sang lustig:



»Lustig auf den Kopf, mein Liebchen,

Stell dich, in die Luft die Bein!

Heisa! ich will sein dein Bübchen,

Heute nacht soll Hochzeit sein!



Wenn du Shakespeare kannst vertragen,
O du liebe Unschuld du!
Wirst du mich wohl auch ertragen
Und noch jedermann dazu. –«

Er sprach noch allerhand wild und unzüchtig von der Gräfin und trug Friedrich noch einen zügellosen Gruß an sie auf, als sie endlich von entgegengesetzten Seiten auseinanderritten.

Friedrich wußte nicht, was  er aus diesen wilden Reden machen sollte. Sie ärgerten ihn, denn er hielt die Gräfin hoch, und konnte sich dabei der Besorgnis nicht enthalten, daß Leontins lebhafter Geist in solcher Art von Renommisterei am Ende sich selber aufreiben werde. In solchen Gedanken war er einige Zeit fortgeritten, als er bei einer Biegung um eine Feldecke plötzlich das Schloß der Gräfin vor sich sah. Es stand wie eine Zauberei hoch über einem weiten, unbeschreiblichen Chaos von Gärten, Weinbergen, Bäumen und Flüssen, der Schloßberg selber war ein großer Garten, wo unzählige Wasserkünste aus dem Grün hervorsprangen. Die Sonne ging eben hinter dem Berge unter und bedeckte das prächtige Bild mit Glanz und Schimmer, so daß man nichts deutlich unterscheiden konnte. [...]
Die Musik war durchaus wunderbar, unbegreiflich und oft beinahe wild, aber es war eine unwiderstehliche Gewalt in ihrem Zusammenklange. Der weite, stille Kreis von Strömen, Seen, Wäldern und Bergen, die in großen, halbkenntlichen Massen übereinanderruhen, rauschten dabei feenhaft zwischen die hinausschiffenden Töne hinein. [...] die Residenz lag mit ihren Feuersäulen wie ein brennender Wald im Morgenglanze vor ihm. [...]
Er fand einen zahlreichen und glänzenden Zirkel. Die vielen Lichter, die prächtigen Kleider, der glatte Fußboden, die zierlichen Reden, die hin und wieder flogen, alles glänzte.

(Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, 13. Kapitel)

22 Juli 2014

Insel Felsenburg: Zeichen von fremdem Leben auf der Insel

Allein ich habe Zeit meines Lebens keine ängstlichere Nacht als diese gehabt. Denn etwa um Mitternacht, da ich selbst nicht wußte ob ich schlief oder wachte, erschien mir ein langer Mann, dessen weißer Bart fast bis auf die Knie reichte, mit einem langen Kleide von rauchen Tierhäuten angetan, der auch dergleichen Mütze auf dem Haupte, in der Hand aber eine große Lampe mit vier Dachten hatte, dergleichen zuweilen in den Schiffslaternen zu brennen pflegen. Dieses Schreckensbild trat gleich unten zu meinen Füßen, und hielt mir folgenden Sermon, von welchen ich noch bis diese Stunde, wie ich glaube, kein Wort vergessen habe: ›Verwegner Jüngling! was wilstu dich unterstehen diejenige Wohnung zu verschütten, woran ich viele Jahre gearbeitet, ehe sie zu meiner Bequemlichkeit gut genung war. Meinestu etwa das Verhängnis habe dich von ohngefähr in den Graben gestoßen, und vor die Tür meiner Höhle geführet? Nein keineswegs! Denn weil ich mit meinen Händen acht Personen auf dieser Insul aus christlicher Liebe begraben habe, so bistu auserkoren meinem vermoderten Körper eben dergleichen Liebesdienst zu erweisen. Schreite derowegen ohne alle Bekümmernis gleich morgenden Tages zur Sache, und durchsuche diejenige Höhle ohne Scheu, welche du gestern mit Grausen verlassen hast, woferne dir anders deine zeitliche Glückseligkeit lieb ist. Wisse auch, daß der Himmel etwas Besonderes mit dir vorhat. Deine Glückseligkeit aber wird sich nicht eher anheben, bis du zwei besondere Unglücksfälle erlitten, und diesem deinen Schlafgesellen, zur bestimmten Zeit den Lohn seiner Sünden gegeben hast. Merke wohl was ich dir gesagt habe, erfülle mein Begehren, und empfange dieses Zeichen, um zu wissen, daß du nicht geträumt hast.‹ [...]
Ankommender Freund! wer du auch bist Wenn dich vielleicht das wunderliche Schicksal in diese wunderbare Behausung wunderbarerweise führen wird, so erstaune nicht allzusehr über die unvermutete Erblickung meines Gerippes, sondern gedenke, daß du nach dem Fall der ersten Eltern eben dem Schicksal, und eben der Sterblichkeit unterworfen bist. Im übrigen laß das Überbleibsel meines Leibes nicht unbegraben liegen, denn weil ich gestorben bin, habe ich mich Verstorbenen nicht selbst begraben können. Einen Christen wo du anders ein Christ, oder zum wenigsten ein Mensch bist, stehet zu einen Christen ehrlich zur Erde zu bestatten, Da ich mich in meinem ganzen Leben bestrebt, daß ich an Christum gläubte, Christo lebte, und endlich Christo stürbe. Du wirst vor deine geringe Arbeit eine große Belohnung erhalten. Denn wenn dir das Glücke, dasjenige, was es mir seit vielen Jahren her verweigert hat, widerfahren lässet, nämlich, daß du dich wieder zu der abgesonderten Gesellschaft der Menschen gesellen könntest; So wirstu dir eine kostbare Belohnung zu versprechen, und dieselbe aus dieser Höhle mit hinwegzunehmen haben. Wenn du aber so, wie ich, gezwungen bist, in dieser Einsamkeit als ein Einsiedler dem Tode entgegenzusehen; so werden doch einige merkwürdige Schriften, die in meinem in Stein gehauenen Sessel verborgen liegen, dir vielleicht erfreulich und nützlich sein. Wohlan! Nimm dieselben mit dankbaren Herzen an, der gütige Himmel mache dich beglückt, und zwar glücklicher als mich, wiewohl ich mich niemals vor recht unglücklich geschätzt habe. Lebe wohl ankommender Freund! Lebe wohl, höre meine Bitte, begrabe mich, Und glaube, daß Gott, welchem ich gedienet, geben wird: Daß du wohl lebest. Die Zeilen auf der kleinen Tafel, bedeuten in teutscher Sprache soviel: Ich bin geboren den 9. Aug. 1475. Auf diese Insul gekommen, den 14. Nov. 1514. Ich empfinde, daß ich altershalber in kurzer Zeit sterben werde, ohngeacht ich weder Krankheit noch einige Schmerzen empfinde. Dieses habe ich geschrieben am 27. Jun. 1606. Ich lebe zwar noch, bin aber dem Tode sehr nahe, d. 28. 29. und 30. Jun. und noch d. 1. Jul. 2. 3. 4. [...]

(vollständiger Text)

Der Stechlin und sächsische Schuhzwecken

Ob Fontane im Leben wirklich das Plaudertalent leichter geistvoller Unterhaltung hatte, kann man dahingestellt sein lassen; seine Figuren haben es gewiss, und er versteht es, sich als Erzähler dazu in leichte ironische Distanz zu setzen. So wie im Stechlin, wo Hauptmann Czako vom Regiment Alexander auf die "pummelige" Stiftsdame von  Schmargendorf trifft.

»Wie glücklich ich bin, Herr Hauptmann«, sagte die Schmargendorf, »Ihre Partnerin zu sein, jetzt schon hier und dann später bei Tisch.«
Czako verneigte sich.
»Und merkwürdig«, fuhr sie fort, »daß gerade das Regiment Alexander immer so vergnügte Herren hat; einen Namensvetter von Ihnen, oder vielleicht war es auch Ihr älterer Herr Bruder, den hab ich noch von einer Einquartierung in der Priegnitz her ganz deutlich in Erinnerung, trotzdem es schon an die zwanzig Jahre ist oder mehr. Denn ich war damals noch blutjung und tanzte mit Ihrem Herrn Vetter einen richtigen Radowa, der um jene Zeit noch in Mode war, aber schon nicht mehr so recht. Und ich hab auch noch den Namenszug und einen kleinen Vers von ihm in meinem Album. ›Jegor von Baczko, Secondelieutenant im Regiment Alexander.‹ Ja, Herr von Baczko, so kommt man wieder zusammen. Oder doch wenigstens mit einem Herren gleichen Namens.«
Czako schwieg und nickte nur, weil er Richtigstellungen überhaupt nicht liebte; Woldemar aber, der jedes Wort gehört und in bezug auf solche Dinge kleinlicher als sein Freund, der Hauptmann, dachte, wollte durchaus Remedur schaffen und bat, das Fräulein darauf aufmerksam machen zu dürfen, daß der Herr, der den Vorzug habe, sie zu führen, nicht ein Herr von Baczko, sondern ein Herr von Czako sei.
Die kleine Rundliche geriet in eine momentane Verlegenheit, Czako selbst aber kam ihr mit großer Courtoisie zu Hilfe.
»Lieber Stechlin«, begann er, »ich beschwöre Sie um sechsundsechzig Schock sächsische Schuhzwecken, kommen Sie doch nicht mit solchen Kleinigkeiten, die man jetzt, glaub ich, Velleitäten nennt. Wenigstens habe ich das Wort immer so übersetzt.[92]
Czako, Baczko, Baczko, Czako – wie kann man davon soviel Aufhebens machen. Name, wie Sie wissen, ist Schall und Rauch, siehe Goethe, und Sie werden sich doch nicht in Widerspruch mit dem bringen wollen. Dazu reicht es denn doch am Ende nicht aus.«
»Hihi.«
»Außerdem, ein Mann wie Sie, der es trotz seines Liberalismus fertigbringt, immer seinen Adel bis wenigstens dritten Kreuzzug zurückzuführen, ein Mann wie Sie sollte mir doch diese kleine Verwechslung ehrlich gönnen. Denn dieser mir in den Schoß gefallene ›Baczko‹... Gott sei Dank, daß auch unsereinem noch was in den Schoß fallen kann...«
»Hihi.«
»Denn dieser mir in den Schoß gefallene Baczko ist doch einfach eine Rang- und Standeserhöhung, ein richtiges Avancement. Die Baczkos reichen mindestens bis Hus oder Ziska und, wenn es vielleicht Ungarn sind, bis auf die Hunyadis zurück, während der erste wirkliche Czako noch keine zweihundert Jahre alt ist. Und von diesem ersten wirklichen Czako stammen wir doch natürlich ab. Erwägen Sie, bevor es nicht einen wirklichen Czako gab, also einen steifen grauen Filzhut, mit Leder oder Blech beschlagen, eher kann es auch keinen ›von Czako‹ gegeben haben; der Adel schreibt sich immer von solchen Dingen seiner Umgebung oder seines Metiers oder seiner Beschäftigung her. Wenn ich wirklich noch mal Lust verspüren sollte, mich standesgemäß zu verheiraten, so scheitre ich vielleicht an der Jugendlichkeit meines Adels und werde mich dann dieser Stunde wehmütig freundlich erinnern, die mich, wenn auch nur durch eine Namensverwechslung, auf einen kurzen Augenblick zu erhöhen trachtete.«
Theodor Fontane: Der Stechin, Kloster Wuz

21 Juli 2014

Insel Felsenburg: Bericht des Herrn der Insel

»Ich Albertus Julius, bin anno 1628 den 8. Januar von meiner Mutter Maria Elisabetha Schlüterin zur Welt geboren worden. Mein Vater, Stephanus Julius, war der unglückseligste Etatsbediente eines gewissen Prinzen in Teutschland, indem er in damaliger heftiger Kriegsunruhe seines Herren Feinden in die Hände fiel, und weil er seinem Fürsten, vielweniger aber seinem Gott ungetreu werden wollte, so wurde ihm unter dem Vorwande, als ob er, in seinen Briefen an den Fürsten, den Respekt gegen andere Potentaten beiseit gesetzt, der Kopf ganz heimlicher und desto mehr unschuldiger Weise vor die Füße gelegt, mithin meine Mutter zu einer armen Wittbe, zwei Kinder aber zu elenden Waisen gemacht. Ich ging dazumal in mein sechstes, mein Bruder Johann Balthasar aber, in sein viertes Jahr, weiln wir aber unsern Vater, der beständig bei dem Prinzen in Campagne gewesen, ohnedem sehr wenig zu Hause gesehen hatten, so war unser Leidwesen, damaliger Kindheit nach, nicht also beschaffen, als es der jämmerlich starke Verlust, den wir nachhero erstlich empfinden lerneten, erforderte, obschon unsere Mutter ihre Wangen Tag und Nacht mit Tränen benetzte. [...]
»Wir hielten eine dermaßen glückliche Fahrt, dergleichen sich wenig Seefahrer zur selben Zeit, getan zu haben, rühmten. Indem das Vorgebürge der guten Hoffnung sich allbereit von ferne erblicken ließ, ehe wir noch das allergeringste von Regen, Sturm, und Ungewitter erfahren hatten. Der Kapitän des Schiffs machte uns Hoffnung, daß wir aufs längste in drei oder vier Tagen daselbst anländen, und etliche Tage auf dem Lande ausruhen würden. Allein die Rechnung war ohne den Wirt gemacht, und das Verhängnis hatte ganz ein anderes über uns beschlossen,  [...]
Immittelst ist es etwas Nachdenkliches, daß dazumal auf dieser Insul unter uns vier Personen, die drei Hauptsekten des christlichen Glaubens anzutreffen waren, weil Mons. van Leuven, und seine Frau der reformierten, ich Albert Julius, als ein geborner Sachse, der damals sogenannten lutherischen, und Lemelie, als ein Franzose, der römischen Religion des Pabsts beipflichteten. Die beiden Eheleute und ich konnten uns im Beten und Singen ganz schön vereinigen, indem sie beide ziemlich gut teutsch verstunden und redeten; Lemelie aber, der doch fast alle Sprachen, außer den gelehrten Hauptsprachen, verstehen und ziemlich wohl reden konnte, hielt seinen Gottesdienst von uns abgesondert, in selbst erwählter Einsamkeit, worinnen derselbe bestanden, weiß ich nicht, denn solange wir mit ihm umgegangen, hat er wenig Gottgefälliges an sich merken lassen. [...]

Insel Felsenburg: Die Ankunft auf der Insel

Ich wußte mich vor Freuden fast nicht zu lassen, als ich diesen vor meine Person so glücklichen Ort nur von ferne erblickte, ohngeacht ich nichts wahrnehmen konnte, als einen ungeheuern aufgetürmten Steinklumpen, welcher auch, je näher wir demselben kamen, desto fürchterlicher schien, doch weil mir der Kapitän ingeheim allbereits eine gar zu schöne Beschreibung darvon gemacht hatte, bedünktenIch wußte mich vor Freuden fast nicht zu lassen, als ich diesen vor meine Person so glücklichen Ort nur von ferne erblickte, ohngeacht ich nichts wahrnehmen konnte, als einen ungeheuern aufgetürmten Steinklumpen, welcher auch, je näher wir demselben kamen, desto fürchterlicher schien, doch weil mir der Kapitän ingeheim allbereits eine gar zu schöne Beschreibung darvon gemacht hatte, bedünkten [...]
Es war am 12. Novemb. 1725 allbereit nach Untergang der Sonnen, da wir in behöriger Weite vor dem Felsen die Anker sinken ließen, weil sich der Kapitän vor den ihm ganz wohlbekannten Sandbänken hütete. Sobald dieses geschehen, ließ er kurz aufeinander drei Kanonschüsse tun, und bald hernach drei Raketen steigen. Nach Verlauf einer Vierteilsstunde mußten abermals drei Kanonen abgefeuert, und bei jedem zwei Raketen gezündet werden, da denn alsofort von dem Felsen mit dreien Kanonenschüssen geantwortet wurde, worbei zugleich drei Raketen gegen unser Schiff zugezogen kamen, welches bei denen, so keinen Bescheid von der Sache hatten, eine ungemeine Verwunderung verursachte. Der Kapitän aber ließ noch sechs Schüsse tun, und bis gegen Mitternacht alle Viertelstunden eine Rakete steigen, auch Lustkugeln und Wasserkegel in die See spielen, da denn unsern Raketen allezeit andere von dem Felsen entgegenkamen, um Mitternacht aber von beiden Seiten mit drei Kanonenschüssen beschlossen wurde. [...]
Der Kapitän, so die drei Angekommenen sehr wohl kennete, umarmete und küssete einen nach dem andern, worauf er nach kurzgefasseten Gruße sogleich fragte: Ob der Altvater annoch gesund lebte? Sie beantworteten dieses mit ja, und baten, er möchte doch alsofort nebst uns allen zu ihm hinaufsteigen. Allein der Kapitän versetzte: »Meine liebsten Freunde! ich will die bei mir habenden Leute nicht zur Nachtszeit in diesen Lustgarten der Welt führen, sondern erwarten, bis morgen, so Gott will, die Sonne zu unsern frohen Einzuge leuchtet, und uns denselben in seiner natürlichen Schönheit zeiget. Erlaubet uns solches«, fuhr er fort, »und empfanget zuvörderst diesen Euren Blutsfreund Eberhard Julium, welchen ich aus Teutschland mit anhero geführet habe.« Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als sie vor Freuden in die Höhe sprungen, und einer nach dem andern mich umfingen und küsseten. [...]
Sobald wir aber dem Allmächtigen unser erstes Opfer auf dieser Insul gebracht, setzten wir die Füße weiter, nach dem, auf einem grünen Hügel, fast mitten in der Insul liegenden Hause zu, worinnen Albertus Julius, als Stammvater und Oberhaupt aller Einwohner, sozusagen, residierte. Es ist unmöglich dem geneigten Leser auf einmal alles ausführlich zu beschreiben, was vor Annehmlichkeiten uns um und um in die Augen fielen, derowegen habe einen kleinen Grundriß der Insul beifügen wollen, welchen diejenigen, so die Geometrie und Reißkunst besser als ich verstehen, passieren zu lassen, gebeten werden, denn ich ihn nicht gemacht habe, etwa eine eingebildete Geschicklichkeit zu zeigen, sondern nur dem kurieusen Leser eine desto bessere Idee von der ganzen Landschaft zu machen. Jedoch ich wende mich ohne weitläuftige Entschuldigungen zu meiner Geschichtserzählung, und gebe dem geneigten Leser zu vernehmen: daß wir fast eine Meilwegs lang zwischen einer Allee, von den ansehnlichsten und fruchtbarsten Bäumen, die recht nach der Schnur gesetzt waren, fortgingen, welche sich unten an dem ziemlich hoch erhabenen Hügel endigte, worauf des Alberti Schloß stund. Doch etwa dreißig Schritte lang vor dem Ausgange der Allee, waren die Bäume dermaßen zusammengezogen, daß sie oben ein rechtes europäisches Kirchengewölbe formierten, und anstatt der schönsten Sommerlaube dieneten. [...]
Ich wüßte nicht Worte genung zu ersinnen, wenn ich die zärtliche Bewillkommung, und das innige Vergnügen des Albert Julii und der Seinigen vorstellen sollte. Mich drückte der ehrliche Alte aus getreuem Herzen dermaßen fest an seine Brust, daß ich die Regungen des aufrichtigen Geblüts sattsam spürte, und eine lange Weile in seinen Armen eingeschlossen bleiben mußte. Hierauf stellete er mich als ein Kind zwischen seinen Schoß, und ließ alle Gegenwärtigen, sowohl klein als groß herzurufen, welche mit Freuden kamen und den Bewillkommungskuß auf meinen Mund und Hand drückten. [...]
Von dar ließ sich Albert Julius auf einem Tragsessel in seinen angelegten großen Garten tragen, wohin wir ingesamt nachfolgeten, und uns über dessen annehmliche, nützliche und künstliche Anlegung nicht wenig verwunderten. Denn diesen Garten, der ohngefähr eine vierteils teutsche Meile lang, auch ebenso breit war, hatte er durch einen Kreuzweg in vier gleiche Teile abgeteilet, in dem ersten Quartier nach Osten zu, waren die auserlesensten fruchtbaren Bäume, von mehr als hundert Sorten, das zweite Quartier gegen Süden, hegte vielerlei schöne Weinstöcke, welche teils rote, grüne, blaue, weiße und anders gefärbte extraordinär große Trauben und Beeren trugen. Das dritte Quartier, nach Norden zu, zeigte unzählige Sorten von Blumengewächsen, und in dem vierten Quartiere, dessen Ecke auf Westen stieß, waren die allernützlichsten und delikatesten Küchenkräuter und Wurzeln zu finden. [...]
Wir hatten schon gezweifelt, daß wir binnen vier bis fünf Tagen alle Sachen heraufzubringen vermögend sein würden, und sonderlich stelleten wir uns das Aufreißen der großen Packe und Schlagfässer sehr mühsam vor, wußten aber nicht, daß die Einwohner der Insul, an einem verborgenen Orte der hohen Felsen, zwei vortrefflich starke Winden hatten, durch deren Force wohl ein ganzer Frachtwagen auf einmal hätte hinaufgezogen werden können. [...]
Andere, da sie merkten, daß wir unsere Sachen gern vollends hinauf in des Alberti Wohnhaus geschafft haben möchten; brachten sofort ganz bequeme Rollwagen herbei, luden auf, was wir zeigten, spanneten zahmgemachte Affen und Hirsche vor, diese zohen es mit Lust den Hügel hinauf, ließen auch nicht eher ab, bis alles unter des Alberti Dach gebracht war. [...]
Nachmittags wurde abermals ordentlicher Gottesdienst und Katechismusexamen gehalten, welches über vier Stunden lang währete, und hätten, nebst Herrn M. Schmeltzern, wir Einkömmlinge nimmermehr vermeinet dieses Orts Menschen anzutreffen, welche in den Glaubensartikuln so trefflich wohl unterrichtet wären, wie sich doch zu unseren größten Vergnügen sowohl junge als Alte finden ließen. [...]

(vollständiger Text)

Insel Felsenburg: Bericht des Kapitäns

»Ich bin kein Mann aus vornehmen Geschlechte, sondern eines Posamentiers oder Bortenwürkers Sohn, aus einer mittelmäßigen Stadt, in der Mark Brandenburg, mein Vater hatte zu seinem nicht allzu überflüssigen Vermögen, acht lebendige Kinder, nämlich drei Töchter und fünf Söhne, unter welchen ich der jüngste, ihm auch, weil er schon ziemlich bei Jahren, der liebste war. Meine vier Brüder lerneten, nach ihren Belieben, Handwerke, ich aber, weil ich eine besondere Liebe zu den Büchern zeigte, wurde fleißig zur Schule und Privatinformation gehalten, und brachte es soweit, daß in meinem neunzehnten Jahre auf die Universität nach Frankfurt an der Oder ziehen konnte. Ich wollte Jura, mußte aber, auf expressen Befehl meines Vaters, Medicinam, studieren, ohne Zweifel, weil nicht mehr als zwei allbereit sehr alte Medici, oder deutlicher zu sagen, privilegierte Lieferanten des Todes in unserer Stadt waren, die vielleicht ein mehreres an den Verstorbenen, als glücklich kurierten Patienten verdient haben mochten. [...]
Ich machte gute Progressen in meinen Studieren, weiln alle Quartale nur 30 T1. zu vertun bekam, also wenig Debauchen machen durfte, sondern fein zu Hause bleiben und fleißig sein mußte. Doch mein Zustand auf Universitäten wollte sich zu verbessern Miene machen, denn da ich nach anderthalbjährigen Absein die Pfingstferien bei meinen Eltern zelebrierte, fand ich Gelegenheit, bei meinem, zu hoffen habenden Hrn. Schwiegervater mich dermaßen zu insinuieren, daß er als ein Mann, der in der Stadt etwas zu sprechen hatte, ein jährliches Stipendium von 60 Tlr. vor mich herausbrachte, welche ich nebst meinen väterlichen 30 Tlr. auf einem Brette bezahlt, in Empfang nahm, und mit viel freudigern Herzen wieder nach Frankfurt eilete, als vor wenig Wochen davon abgereiset war. Nunmehro meinete ich keine Not zu leiden, führete mich demnach auch einmal als ein rechtschaffener Pursch auf, und gab einen Schmaus vor zwölf bis sechzehn meiner besten Freunde, wurde hierauf von ein und andern wieder zum Schmause invitiert, und lernete recht pursicos leben, das ist, fressen, saufen, speien, schreien, wetzen und dergleichen. Aber! Aber! meine Schmauserei bekam mir wie dem Hunde das Gras, denn als ich einsmals des Nachts ziemlich besoffen nach Hause ging, und zugleich mein Mütlein, mit dem Degen in der Faust, an den unschuldigen Steinen kühlete, kam mir ohnversehens ein eingebildeter Eisenfresser mit den tröstlichen Worten auf den Hals: ›Bärenhäuter steh!‹ Ich weiß nicht was ich nüchterner Weise getan hätte, wenn ich Gelegenheit gesehen, mit guter Manier zu entwischen, so aber hatte ich mit dem vielen getrunkenen Weine doppelte Courage, eingeschlungen, setzte mich also, weil mir der Paß zu Flucht ohnedem verhauen war, in Positur, gegen meinen Feind offensive zu agieren, und legte denselben, nach kurzen Chargieren, mit einem fatalen Stoße zu Boden. Er rief mit schwacher Stimme: ›Bärenhäuter, du hast dich gehalten als ein resoluter Kerl, mir aber kostet es das Leben, Gott sei meiner armen Seele gnädig.‹ Im Augenblicke schien ich ganz wieder nüchtern zu sein, rufte auch niemanden, der mich nach Hause begleiten sollte, sondern schlich viel hurtiger davon, als der Fuchs vom Hühnerhause. Dennoch war es, ich weiß nicht quo fato, herausgekommen, daß ich der Täter sei; es wurde auch stark nach mir gefragt und gesucht, doch meine besten Freunde hatten mich, nebst allen meinen Sachen, dermaßen künstlich versteckt, daß mich in acht Tagen niemand finden, vielweniger glauben konnte, daß ich noch in loco vorhanden sei. Nach Verfluß solcher ängstlichen acht Tage, wurde ich ebenso künstlich zum Tore hinaus praktizieret, ein anderer guter Freund kam mit einem Wagen hintendrein, nahm mich unterweges, dem Scheine nach, aus Barmherzigkeit, zu sich auf den Wagen, und brachte meinen zitternden Körper glücklich über die Grenze, an einen solchen Ort, wo ich weiter sonderlich nichts wegen des Nachsetzens zu befürchten hatte. [...]
reisete in Gottes Namen nach Amsterdam, allwo ich auf dem Schiffe, der Holländische Löwe genannt, meinen Gedanken nach, den kostbarsten Dienst bekam, weiln jährlich auf 600 holländische Gulden Besoldung sichern Etat machen konnte. Mein Vermögen, welches ich ohne meines vorigen Patrons Schaden zusammengescharret, belief sich auf 800 holländ. Fl. selbiges legte meistens an lauter solche Waren, womit man sich auf der Reise nach Ostindien öfters zehn- bis zwanzigfachen Profit machen kann, fing also an ein rechter, wiewohl annoch ganz kleiner, Kaufmann zu werden. Inmittelst führte ich mich sowohl auf dem Schiffe, als auch an andern Orten, dermaßen sparsam und heimlich auf, daß ein jeder glauben mußte: ich hätte nicht zehn Fl. in meinem ganzen Leben, an meiner Herzhaftigkeit und freien Wesen aber hatte niemand das Geringste auszusetzen; weil ich mir von keinem, er mochte sein wer er wollte, auf dem Munde trommeln ließ. Auf dem Cap de bonne esperence, allwo wir genötiget waren, etliche Wochen zu verweilen, hatte ich eine verzweifelte Renkontre, und zwar durch folgende Veranlassung. Ich ging eines Tages von dem Kap zum Zeitvertreib etwas tiefer ins Land hinein, um mit meiner mitgenommenen Flinte ein anständiges Stückgen Wildpret zu schießen, und geriet von ohngefähr an ein, nach dasiger Art ganz zierlich erbautes Lusthaus, so mit feinen Gärten und Weinbergen umgeben war, es schien mir würdig genung zu sein, solches von außen ringsherum zu betrachten, gelangete also an eine halb offenstehende kleine Gartentür, trat hinein und sahe ein gewiß recht schön gebildet, und wohl gekleidetes Frauenzimmer, nach dem Klange einer kleinen Trommel, die ein anderes Frauenzimmer ziemlich taktmäßig spielete, recht zierlich tanzen. Ich merkte daß sie meiner gewahr wurde, jedennoch ließ sie sich gar nicht stören, sondern tanzte noch eine gute Zeit fort, endlich aber, da sie aufgehöret und einer alten Frauen etwas ins Ohr gesagt hatte; kam die letztere auf mich zu, und sagte auf ziemlich gut Holländisch: ›Wohl mein Herr! Ihr habt ohne gebetene Erlaubnis Euch die Freiheit genommen, meiner gnädigen Frauen im Tanze zuzusehen, derowegen verlangt sie zu wissen, wer Ihr seid, nächst dem, daß Ihr deroselben den Tanz bezahlen sollet.‹ [...]
›Madame‹, versetzte ich, ›wenn nur auf diesem Kap noch mehr so schönes Frauenzimmer wie Ihr seid, anzutreffen wäre, so kann ich Euch versichern, daß auch viel junge Europäer hierbleiben würden.‹ ›Was?‹ fragte sie, ›saget Ihr, daß ich schöne sei, und Euch gefalle?‹ ›Ich müßte‹ war meine Antwort: ›keine gesunde Augen und Verstand haben, wenn ich nicht gestünde, daß mir Eure Schönheit recht im Herzen wohlgefällt.‹ ›Wie kann ich dieses glauben?‹ replizierte sie, ›Ihr sagt, daß ich schöne sei, Euch im Herzen wohlgefalle, und küsset mich nicht einmal? da Ihr doch alleine bei mir seid, und Euch vor niemand zu fürchten habt.‹ Ihre artige lispelnde wiewohl unvollkommene holländis. Sprache kam mir so lieblich, der Inhalt der Rede aber, nebst denen charmanten Mienen, dermaßen entzückend vor, daß anstatt der Antwort mir die Kühnheit nahm, einen feurigen Kuß auf ihre purpurroten und zierlich aufgeworfenen Lippen zu drücken, anstatt dieses zu verwehren, bezahlete sie meinen Kuß, mit zehn bis zwölf andern, weil ich nun nichts schuldig bleiben wollte, wechselten wir eine gute Zeit miteinander ab, bis endlich beide Mäuler ganz ermüdet aufeinander liegen blieben, worbei sie mich so heftig an ihre Brust drückte, daß mir fast der Atem hätte vergehen mögen. [...]
Nächst diesen klagte sie über ihres Liebhabers wunderliche Conduite, sonderlich aber über seine zwar willigen, doch ohnmächtigen Liebesdienste, und wünschte aus einfältigen treuem Herzen, daß ich bei ihr an seiner Stelle sein möchte. Sobald ich meine Brünette aus diesem Tone reden hörete, war ich gleich bereit, derselben meine sowohl willigen als kräftigen Bedienungen anzutragen, und vermeinete gleich stante pede meinen erwünschten, wiewohl strafbarn Zweck zu erlangen, jedoch die Heidin war in diesem Stücke noch tugendhafter als ich, indem sie sich scheute, dergleichen auf eine so liederliche Art, und an einem solchen Orte, wo es fast so gut als unter freien Himmel war, vorzunehmen, inmittelst führeten wir beiderseits starke handgreifliche Diskurse, wobei ich vollends so hitzig verliebt wurde, daß beinahe resolviert war, nach und nach Gewalt zu brauchen, alleine, die nicht weniger erhitzte Brünette wußte mich dennoch mit so artigen Liebkosungen zu bändigen, daß ich endlich Raison annahm; weil sie mir teuer versprach, morgende Nacht in ihrem Schlafgemache alles dasjenige, was ich jetzo verlangete, auf eine weit angenehmere und sicherere Art zu vergönnen. [...]
Immittelst hatten wir uns in solchen andächtigen Gesprächen dermaßen vertieft, daß an gar nichts anders gedacht wurde, erschraken also desto heftiger, als der Signor Canengo ganz unvermutet zur Laubhütte, und zwar mit funkelnden Augen eintrat. Er sagte anfänglich kein Wort, gab aber der armen Alten eine dermaßen tüchtige Ohrfeige, daß sie zur Tür hinausflog, und sich etliche Mal überpurzelte. Meine schöne Brünette legte sich zu meiner größten Gemütskränkung vor diesen alten Maulesel auf die Erde, und kroch ihm mit niedergeschlagenem Gesichte als ein Hund entgegen. Doch er war so complaisant, sie aufzuheben und zu küssen. Endlich kam die Reihe an mich, er fragte mit einer imperieusen Miene: Wer mich hieher gebracht, und was ich allhier zu suchen hätte? ›Signor‹ gab ich zur Antwort, ›niemand anders, als das Glücke hat mich von ohngefähr hieher geführet, indem ich ausgegangen, ein und andere kurieuse europäische Waren an den Mann zu bringen.‹ ›Und etwa‹ setzte er selbst hinzu, ›andern ihre Mätressen zu verführen?‹ Ich gab ihm mit einer negligenten Miene zur Antwort: daß dieses eben meine Sache nicht sei. Demnach fragte er die Dame, ob sie die auf dem Tische annoch ausgelegten Waren schon bezahlt hätte? Und da diese mit nein geantwortet, griff er in seine Tasche, legte mir sechs Dukaten auf den Tisch, und zwar mit diesen Worten: ›Nehmet diese doppelte Bezahlung, und packet Euch zum Teufel, lasset Euch auch nimmermehr bei dieser Dame wieder antreffen, wo Euch anders Euer Leben lieb ist.‹ [...]
Er sahe mich trefflich über die Achsel an, die Koller aber lief Fingers dicke auf, er legte die Hand an den Degen, und stieß die heftigsten Schimpfworte gegen mich aus. Meine Courage kriegte hierbei die Sporen, wir zohen fast zu gleicher Zeit vom Leder, und tummelten uns vor der Hütte weidlich miteinander herum, doch mit dem Unterschiede, daß ich ihm mit einem kräftigen Hiebe den rechten Arm lähmete, und deren noch zweie auf dem Schädel versetzte. Ich tat einen Blick nach der Dame, welche in Ohnmacht gesunken war, da ich aber vermerkte, daß Canengo sich absentierte, und in hottentottischer Sprache vielleicht Hülfe schrie, nahm ich meine im Grase verdeckt liegende Flinte, warf noch ein paar Laufkugeln hinein, und eilete durch eine gemachte Öffnung der Palisaden, womit der Garten umsetzt war, des Weges nach meinem Quartiere zu. [...]
Anfangs lief ich ziemlich hurtig, hernachmals aber tat meine ordentlichen Schritte, wurde aber gar bald inne: daß mich zwei Hottentotten, die so geschwinde als Windspiele laufen konnten, verfolgten, der vorderste war kaum so nahe kommen, daß er sich seiner angebornen Geschicklichkeit gegen mich gebrauchen konnte, als er mit seiner Zagaye, welches ein mit Eisen beschlagener, vorn sehr spitziger Wurfspieß ist, nach mir schoß, zu großen Glück aber, indem ich eine hurtige Wendung machte, nur allein meine Rockfalten durchwarf. Weil der Spieß in meinen Kleidern hangen blieb, mochte er glauben, mich getroffen zu haben, blieb derowegen sowohl als ich stillestehen, und sahe sich nach seinen Kameraden um, welcher mit eben dergleichen Gewehr herzueilete. Doch da allbereit wußte, wie akkurat diese Unfläter treffen können, wollte dessen Annäherung nicht erwarten, sondern gab Feuer, und traf beide in einer Linie so glücklich, daß sie zu Boden fielen, und wunderliche Kolleraturen auf dem Erdboden machten. Ich gab meiner Flinte eine frische Ladung und sahe ganz von weiten noch zwei kommen. Ohne Not standzuhalten, wäre ein großer Frevel gewesen, derowegen verfolgte, unter sehr öftern Zurücksehen, den Weg nach meinem Quartiere, gelangete auch, ohne fernern unglücklichen Zufall, eine Stunde vor Abends daselbst an. Ohne Zweifel hatten meine zwei letztern Verfolger, bei dem traurigen Verhängnisse ihrer Vorläufer, einen Ekel geschöpft, mir weiter nachzueilen. [...]
Es wurde noch selbigen Tages, des redlichen Kapitäns Mutmaßungen gemäß, nicht ein geringes Lärmen wegen dieser Affäre, man hatte mich als den Täter dermaßen akkurat beschrieben, daß niemand zweifelte, Monsieur Wolfgang sei derjenige, welcher den Signor Canengo, als er von ihm bei seiner Mätresse erwischt worden, zuschanden gehauen, zweien Hottentotten tödliche Pillen eingegeben, und welchen der Gouverneur zur exemplarischen Bestrafung per force ausgeliefert haben wollte. Jedoch der redliche Kapitän vermittelte die Sache dergestalt glücklich, daß wir einige Tage hernach ohne die geringste Hindernis von dem Kap absegeln, und unsere Straße nach Ostindien fortsetzen konnten. Ich weiß ganz gewiß, daß er dem Gouverneur meiner Freiheit und Sicherheit wegen ein ansehnliches Präsent gemacht, allein, er hat gegen mich niemals etwas davon gedacht, vielweniger mir einen Stüver Unkosten abgefordert, im Gegenteil, wie ich ferner erzählen werde, jederzeit die größte Konsideration vor mich gehabt. [...]