06 Juni 2015

Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse

"Ich behaupte, ein angehender Dichter oder Maler – ein Musiker, das ist freilich eine andere Sache – dürfe nirgend anders wohnen als hier! Und fragst du auch, wo die frischesten, originellsten Schöpfungen in allen Künsten entstanden sind, so wird meistens die Antwort sein: in einer Dachstube! – In einer Dachstube im Wineoffice Court war es, wo Oliver Goldsmith, von seiner Wirtin wegen der rückständigen Miete eingesperrt, dem Dr. Johnson unter alten Papieren, abgetragenen Röcken, geleerten Madeiraflaschen und Plunder aller Art ein besudeltes Manuskript hervorsuchte mit der Überschrift: Der Landprediger von Wakefield. In einer Dachstube schrieb Jean Jacques Rousseau seine glühendsten, erschütterndsten Bücher. In einer Dachstube lernte Jean Paul den Armenadvokat Siebenkäs zeichnen und das Schulmeisterlein Wuz und das Leben Fibels! – – Die Sperlingsgasse ist ein kurzer, enger Durchgang, der die Kronenstraße mit einem Ufer des Flusses verknüpft, welcher in vielen Armen und Kanälen die große Stadt durchwindet. Sie ist bevölkert und lebendig genug, einen mit nervösem Kopfweh Behafteten wahnsinnig zu machen und ihn im Irrenhause enden zu lassen; mir aber ist sie seit vielen Jahren eine unschätzbare Bühne des Weltlebens, wo Krieg und Friede, Elend und Glück, Hunger und Überfluß, alle Antinomien des Daseins sich widerspiegeln."

"Ich lebe durch kurze Jahre von schmerzlich süßem Glück; ich sehe während dieser Jahre eine feine blondlockige Gestalt lächelnd, wie unser guter Genius, Franz und mich umschweben und ihre schützende Hand ausstrecken über seine leicht auflodernde Wildheit und meine hinbrütende Traurigkeit; – ich sehe bald ein kleines Kind – Elise genannt in den Blättern dieser Chronik – des Abends aus den Armen der Mutter in die des Vaters und aus den Armen des Vaters in die des Freundes übergehen, mit großen, verwunderten Augen zu uns aufschauend – – – Plötzlich hört der Regen auf, an die Fenster zu schlagen; ich schrecke empor – es ist späte Nacht. Einen letzten Blick werfe ich noch in die Gasse hinunter. Sie ist dunkel und öde; der unzureichende Schein der einen Gaslaterne spiegelt sich in den Sümpfen des Pflasters; in den Rinnsteinen wider. Eine verhüllte Gestalt schleicht langsam und vorsichtig dicht an den Häusern hin. Von Zeit zu Zeit blickt sie sich um. Geht sie zu einem Verbrechen oder geht sie, ein gutes Werk zu tun? Eine andere Gestalt kommt um die Ecke; – ein leiser Pfiff – »Du hast mich lange warten lassen, Riekchen!« »Ich konnte nicht eher, die Mutter ist erst eben eingeschlafen« … Ein in der Ferne rollender Wagen macht das übrige unhörbar. Die Figuren treten aus dem Schatten; ich sehe Ballputz unter den dunkelen Mänteln. Sie verschwinden um die Ecke, und ich schließe das Fenster. So endet das erste Blatt der Chronik, die wie die Geschichte der Menschheit, wie die Geschichte des einzelnen beginnt mit – einem Traume. [...]"
»Ein Leben, das gern auf Irrwegen geht, ist stets eigentümlich!« sagte er. »Übrigens wird jeder Mensch mit irgendeiner Eigentümlichkeit geboren, die, wenn man sie gewähren läßt – was gewöhnlich nicht geschieht –, sich durch das ganze Leben zu ranken vermag, hier Blüten treibend, dort Stacheln ansetzend, dort – von außen gestochen – Galläpfel. [...]
Es war eine prächtige Zeit, und – das Latein war durchaus keine so böse Krankheit wie das Scharlachfriesel – ich hatte diese Vorstellung aus dem Walde mitgebracht –, sondern höchstens ein leichter Schnupfen, der bald wieder auszuschwitzen war. [...]
»Halte Sie das Maul, Frau!« schnauzt Stulpnase, worauf die Dicke ein Gesicht macht, wie es einst jedes brave korinthische Weib geschnitten haben muß, als es das Wort des Apostels Paulus hörte: Mulier taceat in ecclesia. [...]
Ich hab’s mir wohl gedacht, als ich diese Bogen falzte, und ich hab’s auch wohl mit aufgeschrieben, daß ihr Inhalt nicht viel Zusammenhang haben würde. Ich weile in der Minute und springe über Jahre fort; ich male Bilder und bringe keine Handlung; ich breche ab, ohne den alten Ton ausklingen zu lassen: ich will nicht lehren, sondern ich will vergessen, ich – schreibe keinen Roman! Heute werfe ich zum erstenmal einen prüfenden Blick zurück und muß selber lächeln. Alter Kopf, was machst du? Was werden die vernünftigen Leute sagen, wenn diese Blätter einmal das Unglück haben sollten, hinauszugeraten unter sie? Doch – einerlei! Laß sie sprechen, was sie wollen: ich segne doch die Stunde, wo ich den Entschluß faßte, diese Blätter zu bekritzeln, mit einem Fuß in der Gegenwart und Wirklichkeit, mit dem andern im Traum und in der Vergangenheit! – Wieviel trübe, einsame Stunden sind mir dadurch nicht vorübergeschlüpft sonnig und hell, ein Bild das andere nachziehend, dieses festgehalten, jenes entgleitend: ein buntes, freundliches Wechselspiel! So schreibe ich weiter. [...]
Er ist, wie es sich fast von selbst versteht, der Sohn eines Schulmeisters, der wiederum der Sohn eines Schulmeisters war; denn wenn es einen Stand gibt, der sich durch Generationen fortpflanzt, so ist es das deutsche Volkslehrertum. Da bringt der Vater vom Lande einen seiner gewöhnlich sehr zahlreichen Söhne in die Stadt mit einer Bibel, einem Gesangbuch und vor allem einem Choralbuch als Bibliothek. Der Junge ist der Stolz seines Vaters. Wer hat ein größeres Talent, die Orgel zu spielen? Wer hat eine bessere Stimme – wenn sie auch gerade sich setzt? [...]
Die Geschichte eines Hauses ist die Geschichte seiner Bewohner, die Geschichte seiner Bewohner ist die Geschichte der Zeit, in welcher sie lebten und leben, die Geschichte der Zeiten ist die Geschichte der Menschheit, und die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte – Gottes! [...]
sie hatte keine Bekanntinnen, keine Freundin; [...]
Es ist gar kein übler Monat, dieser Februar, man muß ihn nur zu nehmen wissen! – Da ist erstlich die ungeheuere Merkwürdigkeit der fehlenden Tage. Wie habe ich mir einst, vor langen Jahren, den Kopf über ihr Verbleiben zerbrochen! Jeder andere Monat paßte aufs Haar mit Einunddreißig auf den Knöchel der Hand, mit Dreißig in das Grübchen, und nur dieser eine Februar – ‘s war zu merkwürdig! – [...]
Eine kleine, runde … (Au, mein Ohr! Hör einmal, Nannette, das ist das Ohr, in welches es bei mir ›hineingeht‹, was wird das für eine Ehe abgeben, wenn du mir das abkneifst! Nannette, ich würde in deiner Stelle mal das andere, zu welchem es ›herausgeht‹, nehmen!) Dame trat mir entgegen: ›Der Vater ist nicht zu Haus, mein Herr!‹ – – – Ich antwortete nicht, sondern nahm ihr das Licht aus der Hand – die kleine runde Dame erschrak ebenfalls gar sehr – und hielt es so, daß mir der Schein voll ins Gesicht fiel. ›Herr Gott, der Vetter Heinrich!‹ rief die kleine, rrr … Dame. (Nannette, sag mal, ich glaube, ich habe dir in dem Augenblick einen Kuß gegeben?) [...]
Ich habe eine neue Seite meines Lebens aufgeschlagen; und wer hat diese vita nuova bewirkt? Der edle Polizeikommissar Stulpnase nebst seinen Myrmidonen und – meine kleine Beatrice, genannt Nannette Pümpel! Gesegnet sei das Haus Pümpel et Comp. bis ins tausendste Glied!! – [...]
Das Kind stöhnt in seinem unruhigen Schlaf; die Hand des Todes drückt schwer und schwerer auf das kleine unwissende Herz, dem sich gleich ein Geheimnis enthüllen wird, vor welchem alle Weisheit der Erde ratlos steht. [...]
Ich glaube an keine Offenbarung als an die, welche wir im Auge des geliebten Wesens lesen; sie allein ist wahr, sie allein ist untrüglich; in dem Auge der Liebe allein schauen wir Gott »von Angesicht zu Angesicht«. Die Zunge ist schwach und des Menschen Sprache unvollkommen; die Schrift ist noch schwächer und unvollkommener, und ein Blatt Papier zum Urquell der Erkenntnis des ewigen Geistes machen zu wollen, ist ein arm töricht Beginnen. [...]
»Gott, wo bleibt mein Tänzer! Der abscheuliche Mensch wird mich doch nicht ‘sitzen’ lassen?!« »Auf keinen Fall, mein Fräulein!« sagt der Auskultator Krippenstapel, sein ambrosisches Haupt über die Schulter der erschrockenen Sprecherin streckend und etwas von »nur Personalarrest« murmelnd. [...]
Prr – davon sind sie: »Mutwillige Sommervögel [...]

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