30 November 2015

Keltische Märchen und Sagen

Das Märchen heißt "Der Winter und der Zaunkönig" und handelt von Winter, Zaunkönig, Adler und Prinz sowie von der Schwester des Adlers, die den Prinzen ihr Treue bis in den Tod schwören lässt, ihn aber dann doch nicht heiraten will und ihm einen halben Ring und ein Taschentuch gibt. Der Zaunkönig jubelt über den Sieg, als seine Partei verloren hat.
Genügend eigentümlich? Dann lesen Sie es nach.
Bils, der schlaue Dieb ist ebenfalls ein Märchen aus der Bretagne.

zu finden in: Frederik Hetmann: "Keltische Märchen" Fischer TB 1593 Copyright 1975, S.134ff.

Mehr keltische Märchen im Netz findet man in der Märchenwirkstatt

und im Buch Frederik Hetmann: "Irische Märchen" Fischer TB 1225 Copyright 1971

Irische Sagen in:
"Keltische Sagen aus Irland" herausgegeben und übersetzt von Martin Löpelmann, erschienen 1944 in Brünn, 1977 bei Eugen Diederichs in München, 1988 in einer Neuausgabe bei Eugen Diederichs in München. 522 Seiten

Ergänzend:
Kelten
Keltische Mythologie
Irische Mythologie
Mythologischer Zyklus
Historischer Zyklus
Liste inselkeltischer Mythen und Sagen
Irische Elfenmärchen
Liste keltischer Götter und Sagengestalten
Keltische Gottheiten
Keltische Religion
Keltischer Kesselkult
Keltische Frauen



29 November 2015

Was man den Brüdern Grimm vielleicht nicht zugetraut hätte

Sie haben auch irische Elfenmärchen herausgegeben. Mich beeindrucken diese Erzählungen nicht nur durch die uns ungewohnten Namen, sondern auch durch einen originellen Erzählton oder - um es mit den Brüdern Grimm zu sagen - "sie haben einen eigentümlichen Beigeschmack, der nicht ohne Reiz ist"

Hier ein Beispiel:


Die beiden Gevatterinnen

(Siehe auch die Anmerkungen)
Zu Minane bei Tracton, das etwa fünf Stunden südlich von Cork liegt, lebte ein junges Ehepaar, namens Mac Daniel, und sie hatten ein so schönes, wohlaussehendes Kind, daß die Elfen Lust bekamen, es zu sich zu holen und einen Wechselbalg an seine Stelle zu legen. Doch Frau Mac Daniel hatte eine Gevatterin, namens Norah Buckeley, und die ging gerade bei dem Hause, worin die beiden lebten (es war eben neu mit Schiefern gedeckt und hatte ein neues Schild erhalten) in der Abenddämmerung vorbei. »Es ist zu spät«, dachte sie, »um einzutreten und mich nach der Gevatterin Befinden zu erkundigen.« Sie hatte noch eine gute Stunde zu gehen, überdies bemerkte sie, daß die Elfen ausgezogen waren, denn den Weg von Carrigaline war vor ihr ein Wirbel von Staub nach dem andern aufgestiegen; das sicherste Zeichen von einem Aufbruch und Umzug des stillen Volkes, und es tat ihr in den Beinen weh, sich so oft neigen zu müssen.
Indessen als Norah vor dem Hause ihrer Gevatterin war, blieb sie einen Augenblick stehen und sprach vor sich hin:
»Gott laß es ihr wohl ergehen!« Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, so sah sie, daß sich eins von den Fenstern öffnete und das schöne Kind ihrer Gevatterin eilig herausgereicht wurde; sie konnte, und wenn es ihr Leben gekostet hätte, nicht sagen, wie oder von wem. Sie ließ sich aber nicht abhalten, herbei zu gehen und das Kind in Empfang zu nehmen. Sie wickelte es aufs beste in ihren Mantel und eilte damit nach Haus.
Am folgenden Morgen machte sie sich auf, um nach ihrer Gevatterin zu sehen, die klagte und jammerte über die Veränderung ihres Kindes, die ganze Nacht sei sie von seinem Geschrei aufgeweckt worden und es mit nichts in der Welt zu beruhigen gewesen.
»Ich will Euch sagen, was Ihr mit dem Balg anfangen müßt«, sagte Norah, »streicht ihn erst mit einer Rute, dann tragt ihn hinaus auf den Kreuzweg und laßt ihn da in dem Graben liegen, wo ihn holen kann, wer Lust hat. Wißt, ich habe Euer leibliches Kind gesund und wohl daheim bei mir, in der letzten Nacht ist es mir aus Euerm Fenster herausgereicht worden.«
Als die Mutter das hörte, geriet sie ins größte Erstaunen und ging hinaus, eine Rute zu holen. Kaum aber kehrte sich die Gevatterin um und schaute umher, so war der Elfe fort und weder sie noch des Kindes Mutter sahen ihn wieder, noch konnten sie erfahren, auf welche wunderbare Weise er verschwunden war.
Die Frau Mac Daniel lief in aller Eile in das Haus ihrer Gevatterin, fand da ihr eigenes Kind, nahm es mit sich nach Haus und es ist zu dieser Zeit ein feiner junger Mann. 

24 November 2015

Die Ringparabel

So sehr ich mich als - inzwischen weniger aktiver - Wikipedianer oft über die Wikipedia und den dort - manchmal recht rüden - Umgangsstil (dort schreiben eben vornehmlich junge Männer) ärgere, so sehr freue ich mich auch immer wieder darüber, was diese Gemeinschaftsarbeit hervorbringt. So z.B. diesen Text, von dem ich keinen klar erkennbaren Hauptautor herausgefunden habe. Dabei habe ich daraus mal wieder einiges gelernt, was ich trotz jahrzehntelangen Umgangs mit "Nathans" und Boccaccios Ringparabel noch nicht wusste:

"Diese Parabel von den drei Ringen gilt als ein Schlüsseltext der Aufklärung und als pointierte Formulierung der Toleranzidee. Sie findet sich bereits in der 73. Novelle des Il Novellino (13. Jahrhundert) und in der dritten Erzählung des Ersten Tages von Giovanni Boccaccios Decamerone.[4] Zu den Vorlagen für Lessing zählen auch Jans des Enikels Erzählung von Saladins Tisch (13. Jahrhundert) und die Erzählung Vom dreifachen Lauf der Welt in den Gesta Romanorum. Bis ins 11. Jahrhundert lässt sich der Stoff von den drei ununterscheidbaren Ringen zurückverfolgen. Erfunden wurde er wahrscheinlich auf der Iberischen Halbinsel von sephardischen Juden.[5]
Bei Boccaccio, Lessings Hauptquelle, geht es um einen Vater, der einen kostbaren Ring, sein wertvollstes Juwel, an denjenigen unter seinen Söhnen weitergibt, den er am meisten liebt und den er damit zum Erben einsetzt. So verfahren auch seine Nachkommen. Als Generationen später jedoch ein Vater seine drei Söhne alle gleich liebt, lässt er ohne deren Wissen zwei weitere Ringe anfertigen, sodass der Vater „kaum“ und die Söhne gar nicht mehr entscheiden können, welcher Ring der ursprüngliche ist.
Diese Handlung findet sich auch, in leicht veränderter Form, in der Schlüsselszene Lessings wieder: Saladin lässt Nathan zu sich rufen und legt ihm die Frage vor, welche der drei monotheistischen Religionen er für die wahre halte. Nathan erkennt sofort die ihm gestellte Falle: Erklärt er seine Religion zur „einzig wahren“, muss Saladin das als Majestätsbeleidigung auffassen, schmeichelt er hingegen dem (muslimischen) Sultan, muss er sich fragen lassen, warum er noch Jude sei. Um einer klaren Antwort auszuweichen („Nicht die Kinder bloß, speist man mit Märchen ab“[6]), antwortet er mit einem Gleichnis: Ein Mann besitzt ein wertvolles Familienerbstück, einen Ring, der die Eigenschaft hat, seinen Träger „vor Gott und den Menschen angenehm“ zu machen, wenn der Besitzer ihn „in dieser Zuversicht“ trägt. Dieser Ring wurde über viele Generationen vom Vater an jenen Sohn vererbt, den er am meisten liebte. Doch eines Tages tritt der Fall ein, dass ein Vater drei Söhne hat und keinen von ihnen bevorzugen will. Deshalb lässt er sich von einem Künstler exakte Duplikate des Ringes herstellen, vererbt jedem seiner Söhne einen der Ringe und versichert jedem, sein Ring sei der echte.
Nach dem Tode des Vaters ziehen die Söhne vor Gericht, um klären zu lassen, welcher von den drei Ringen der echte sei. Der Richter aber ist außerstande, dies zu ermitteln. So erinnert er die drei Männer daran, dass der echte Ring die Eigenschaft habe, den Träger bei allen anderen Menschen beliebt zu machen; wenn aber dieser Effekt bei keinem der drei eingetreten sei, dann könne das wohl nur heißen, dass der echte Ring verloren gegangen sei. (Auf die Frage, wann dies geschehen sein könnte, geht der Richter nicht explizit ein; auch der Ring des Vaters kann schon unecht gewesen sein). Der Richter gibt den Söhnen den Rat, jeder von ihnen solle daran glauben, dass sein Ring der echte sei. Ihr Vater habe alle drei gleich gern gehabt und es deshalb nicht ertragen können, einen von ihnen zu begünstigen und die beiden anderen zu kränken, so wie es die Tradition eigentlich erfordert hätte. Wenn einer der Ringe der echte sei, dann werde sich dies in der Zukunft an der ihm nachgesagten Wirkung zeigen. Jeder Ringträger solle sich also bemühen, diese Wirkung für sich herbeizuführen.

Lessings Weiterführung der Boccaccio-Geschichte

Im Unterschied zu Boccaccios Erzählung ist der Ring, von dem Nathan berichtet, nicht bloß „wunderschön und kostbar“, sondern er enthält einen Opal, dem in der Literatur auch Heilkraft zugewiesen wurde und der „als Symbol für die Gnade Gottes“ diente, „wenn ein Mensch, der frei von Schuld ist, ihn trägt“[7]. Seine Wirkung tritt jedoch nur ein, wenn der Träger an sie glaubt – die Mitwirkung des Besitzers also ist entscheidend. Der Vater kann die drei Ringe nicht nur kaum, sondern wirklich gar nicht mehr unterscheiden, was ihn jedoch nicht hindert, „froh und freudig“ zu sein; er ist geradezu erleichtert in der illusionären Hoffnung, auf diese Weise alle Söhne zufriedenstellen zu können.
Zum eigentlichen Hauptteil der Erzählung wird bei Lessing die Zeit, nachdem die Söhne das Erbe angetreten haben. Der Streit der Söhne wird anschaulicher ausgemalt, um das Problem zu verdeutlichen. Ein Richter wird eingeführt, den es bei Boccaccio noch nicht gibt. Er bezieht sich auf die Wunderwirkung des echten Ringes und leitet daraus eine Aufgabe für die Besitzer ab. Sie wird entweder die Lösung bringen oder zeigen, dass die Besitzer in Bigotterie befangen waren. Als weiteres Ergebnis der Probezeit ist auch die Erkenntnis denkbar, dass alle drei Steine unecht sind und der wahre erste verlorengegangen ist.
Es wird betont, dass die Ringe und ihre Steine als solche, das heißt ohne eigenes Bemühen ihrer Besitzer, nichts bewirken und dass der Vater alle drei Söhne gleich liebte und alle drei Ringe für gleich wertvoll hielt. Des Richters Urteil, der echte Stein sei derzeit nicht erkennbar, und die sich daraus ergebende Aufgabe, jeder Sohn solle im Sinne seines Steines leben, verbietet Bigotterie, Intoleranz und Missionierung.

Interpretation

Die Parabel kann dahingehend verstanden werden, dass der Vater für den liebenden Gott, die drei Ringe für die drei monotheistischen  Religionen  (JudentumChristentum und Islam), die drei Söhne für deren Anhänger und der Richter, dem der Streitfall vorgetragen wird, für Nathan selbst stehen. Eine Aussage der Parabel wäre demnach, dass Gott die Menschen gleichermaßen liebe, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, da alle drei Religionen sein Werk und alle Menschen seine Kinder seien. Nicht schlüssig zu erklären ist nach dieser Interpretation allerdings, wie man es sich vorzustellen hat, dass Gott seinen Ring von seinem Vater geerbt haben soll (der Ring wurde bereits über Generationen hinweg weiter vererbt). Am Ende der Parabel spricht Nathan von einem anderen Richter, vor den der erste die Kinder und Kindeskinder der drei Brüder laden wird: „So lad ich über tausend tausend Jahre / sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird / ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen / als ich; und sprechen. (...)“ Diese tausend mal tausend, also eine Million Jahre, verweisen auf einen endzeitlichen Richter, in dem wiederum Gott zu sehen ist, der die endgültige Entscheidung fällt. So steht Gott als Vater und als Richter am Anfang und am Ende der Parabel – man kann auch sagen: am Anfang und am Ende der Welt, nach jüdisch-christlicher Auffassung. Die Frage, woher er selbst den „echten“ Ring hat, erübrigt sich dann.
Entscheidend sei, dass die Menschen sich nicht darauf versteifen, die „einzig wahre Religion“ zu „besitzen“, da sie das fanatisch und wenig liebenswert mache. Zwar sei es nur natürlich, dass jeder seine eigene Religion vorziehe, denn wer werde schon seinen Eltern vorwerfen, ihn zu einem „Irrglauben“ erzogen zu haben?[8]. Diese Bevorzugung dürfe jedoch nicht dazu verführen, den eigenen Glauben als allein selig machenden auch allen anderen gegenüber geltend machen zu wollen, da jede authentische Religion letztlich ihren Ursprung in Gott habe. Weil das Maß der Echtheit des ersten Ringes darin zu sehen sei, inwieweit er „beliebt vor Gott und Menschen“ mache, sei jeder Ring echt, der dies erfülle, und jeder unecht, der dies nicht erfülle. Da die Brüder sich untereinander misstrauen, könne keiner ihrer Ringe der echte sein. Die Gültigkeit jeder Religion sei demnach darin zu sehen, in welchem Maß sie zukünftig in der Lage ist, Liebe zu stiften.
Die Frage, welcher Ring der echte sei, müsse deshalb zurückgestellt werden, da keine der drei Religionen die Menschen so veredele, wie es der Fall sein müsste, wenn der echte Ring (die echte Religion) nicht verloren gegangen wäre, was nach Aussagen des Richters als Möglichkeit in Betracht gezogen werden müsse. Mit seiner Antwort weist also Nathan letztlich Saladins Frage nach der „einzig wahren Religion“ zurück.
Über Lessings Intention, die dieser mit dem Schreiben seiner Variante der Ringparabel verbunden habe, schreibt der katholische Theologe Rudolf Laufen: „Die Ringparabel freilich, die ursprünglich einmal anstößig und provokant war, aber längst ‚zu einem relativ harmlosen Bildungsgut herabgekommen‘ ist und heute eher der unverbindlichen ‚feiertäglichen moralischen Selbstbestätigung‘ bildungsbürgerlicher Kreise dient, ist die Summe von Lessings Religionstheologie nicht! Eher gibt sie einen Rat für eine friedlich-tolerante Koexistenz, für einen Modus Vivendi der positiven Religionen, solange sie noch existieren.“[9]  [...] Die (auch in Laufens Urteil zum Ausdruck kommende) Ansicht, Lessing meine, dass die traditionelle Religion (die „positiven Religionen“) nur die instrumentelle Funktion habe, sich überflüssig zu machen, indem sie einer Sittlichkeit zur Selbständigkeit verhelfe, die sich zukünftig nicht mehr religiös begründe, „greift“ nach Ansicht Axel Schmitts „viel zu kurz“.[11] Einer „Fixierung des Gültigen“ (auch in seinen eigenen Ansichten) habe Lessing, dessen Lebenswerk eine Art „work in progress“ sei, sich stets entzogen.
Seite „Nathan der Weise“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 21. November 2015, 20:00 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Nathan_der_Weise&oldid=148267483 (Abgerufen: 24. November 2015, 07:27 UTC)

Die Anmerkung Nr.9 führt nicht mehr auf den Text von Laufen. Vermutlich hat das Institut für Lehrerfortbildung ihn - aus welchen Gründen auch immer - aus dem Netz entfernt. Eine interessante Anwendung für die heutige Zeit bietet der Text "Über Nathan hinaus ...". Anmerkung Nr.11 funktioniert zum Glück noch.
Daraus zitiere ich Schmitts Hinweis auf Guthke:
"Lessing widerstrebe "das Ins-Wort-Fassen seiner eigenen Position eben deswegen, weil solches Fixieren des 'Gültigen' zur eigenen Intoleranz verführte, 'Vorurteile und Einseitigkeiten verfestig[te]'". Indem er alle Lehrsysteme in Zweifel zieht, vermag das Nicht-Festlegen den unabhängigen Untersuchungs- und Entdeckungswillen überhaupt erst anzuregen. Auf dieser "dem Menschen konstitutiven Ungewißheit" beruht nach Guthke Lessings Toleranz." (Schmitt: Die Gärstoffe der Toleranz - Es lohnt unbedingt, Schmitts Rezension vollständig zu lesen.) 
mehr zu Guthke: Der Blick in die Fremde. Das Ich und das andere in der Literatur.

Die Ringparabel gilt als die zentrale Formulierung von Lessings Forderung nach Toleranz.
Und doch kündigt Nathan im Monolog, wo er seine Gedanken ohne Verstellung formuliert, mit: "Nicht die Kinder bloß speist man mit Märchen ab."
Warum weckt Lessing von vornherein den Zweifel an der Aussagekraft der Parabel?
Ich weiß es nicht. 
Ein Grund könnte sein, dass er menschliche Wahrheit als stets nur vorläufige Erkenntnis ansieht. So in seinem Text über die Wahrheit
"Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!"
Ein zweiter lässt sich in die Schlussszene des Nathan hinein interpretieren. 
Da sagt der Sultan Saladin zu Nathan: 
"Ich meines Bruders Kinder nicht erkennen? Ich meine Neffen – meine Kinder nicht? Sie nicht erkennen? ich? Sie dir wohl lassen? (Wieder laut.)   Sie sinds! sie sind es, Sittah, sind! Sie sinds! Sind beide meines ... deines Bruders Kinder! (Er rennt in ihre Umarmungen.)"
Das lässt Raum für die Interpretation: Gerade weil Nathan den muslimischen Sultan und den christlichen Tempelherrn von der Idee der Toleranz überzeugen will, verliert er darüber seine Tochter (das Kind, das er angenommen hatte, nachdem seine sieben Söhne verloren hatte) an die Vertreter der beiden anderen Hauptreligionen.
In einer Inszenierung aus dem 20. Jahrhundert wurde - aufgrund der Erfahrung des Holocaust, die Lessing nicht hatte - die Szene so dargestellt: Alle umarmen sich. Nathan steht allein. Hinzu kam eine Inszenierungsbesonderheit, an die ich mich gegenwärtig nicht genau besinne (ich habe aber ein Aufnahme der Inszenierung), wo vor Beginn und nach dem Schluss des Stückes schemenhafte Kamele über die Bühne schreiten, ein Sinnbild für das "Gottesvolk", die ewig heimatlosen Juden?
Könnte Lessing wirklich eine Deutung zugelassen haben, dass Nathan letztendlich verliert, gerade weil er für Toleranz ist?
Er war mit Moses Mendelssohn befreundet und hatte erlebt, dass dieser heftig angegriffen wurde, weil er nicht bereit war, zum Christentum überzutreten. (Rechtfertigen könne er das nur, wenn er das Christentum in aller Form widerlegen könne.) Dazu heißt es in der Wikipedia: 
"1771 erlitt Mendelssohn, wahrscheinlich im Zusammenhang mit diesen Anstrengungen, einen psychophysischen Zusammenbruch, der ein zeitweiliges Aussetzen jeglicher philosophischen Tätigkeit erzwang. Die im selben Jahr vorgeschlagene Aufnahme Mendelssohns in die Preußische Akademie der Wissenschaften auf Antrag von Johann Georg Sulzer, dem Präsidenten der Philosophischen Klasse, scheiterte am Widerstand Friedrichs II."
Lessing schrieb seinen Nathan gewiss im Blick auf seinen Freund. Könnte er - nach außen nicht, wohl aber versteckt - nicht nur seiner Leistung, sondern auch seinen Leiden ein Denkmal haben setzen wollen? 
Nach dem Holocaust gibt es jedenfalls guten Grund, daran zu erinnern, dass den deutschen Juden ihr Beitrag zum deutschen Geistesleben (nicht nur Einstein!) nicht gedankt worden ist. Auch Juden, die sich als deutsche Patrioten verstanden, wurden Opfer des Holocaust. 


18 November 2015

Gogol: Die toten Seelen - Überblick

Auf seiner Suche nach "toten Seelen" begegnet Tschitschikow Manilow, überhöflich, vertrauensselig; Nosdrew, einem notorischen Lügner, Sobakewitsch, zunächst wortkarg, aber höchst redselig, als es darum geht, die Qualitäten seiner längst verstorbenen Leibeigenen auszumalen und damit den Preis für die Toten in die Höhe zu treiben; Pljuschkin, einem Geizhals, der über dem Sparen seinen gesamten Besitz zerstört hat, und Frau Korobotschka, misstrauisch und geizig, aber dennoch, der russischen Sitte folgend, erstaunlich gastfreundlich.
 In der Gouverneursstadt N. begegnen Tschitschikow nur Gruppen. Die Beamten haben zwar unterschiedliche Titel, sind aber alle von ihrer Funktion her eingeordnet. Die Gesellschaft ist bestimmt von den putz- und klatschsüchtigen Frauen, die  Tschitschikow zunächst zum idealen Liebhaber, dann aber in phantastischen Ausschmückungen zum hemmungslosen Entführer stilisieren, während die Männer zwar in der Einschätzung Tschitschikows weniger flatterhaft, in der Ausschmückung seiner geschäftlichen Möglichkeiten genauso phantasielastig sind, aber alles mit angeblicher Sachkenntnis zu begründen suchen.
Im zweiten Teil sind die Gutsbesitzer etwas weniger Karikatur, aber auch überzeichnet. Despotie, Fresssucht, Apathie in utopischem Umfang. Dann treten positive Figuren auf,  W. Platonow und Kostanschoglo, aber auch die ohne rechten Bezug zu einer nachvollziehbaren Wirklichkeit. Die häufigen Lücken, die in dem im Entwurfsstadium verbliebenen Teil auftreten, erschweren freilich die Einfühlung zusätzlich.
"Auch der durch Branntweinhandel zum vielfachen Millionär gewordene Murasow und mehr noch der Generalgouverneur am Ende entsprechen eher der Utopie des generösen, selbstlosen Helfers bzw. des guten Herrschers als einer menschlichen, lebendigen Figur." (Wikipedia

13 November 2015

Gutsbesitzer Tjentjetnikow

[...] An einer Stelle war der steile Abhang besonders dicht mit grünem, lockigem Baumlaub geschmückt. Durch künstliche Anpflanzung hatten sich hier infolge der Unebenheit des Abhanges der Nord und der Süd des Pflanzenreiches zusammengefunden. Eichen, Tannen, wilde Birnen, Ahorne, Kirschbäume und Schlehen, Kleebäume und von Hopfen umrankte Ebereschen kletterten, einander bald im Wachstum unterstützend und bald erstickend, die ganze Anhöhe von unten bis oben hinauf. Und oben am Scheitel mischten sich unter die grünen Baumwipfel die roten Dächer der Gutsgebäude, die Giebelbalken und Dachfirste der sich hinter diesen verbergenden Bauernhäuser und das Obergeschoß des Herrenhauses mit dem geschnitzten Balkon und dem großen halbrunden Fenster. Und über dieser Versammlung der Bäume und Dächer ragte mit ihren fünf vergoldeten, in der Sonne funkelnden Kuppeln die alte hölzerne Kirche. Auf jeder der Kuppeln erhob sich ein durchbrochenes goldenes Kreuz, von goldenen durchbrochenen Ketten gehalten, so daß man aus der Ferne funkelndes und glühendes Dukatengold frei in der Luft, von nichts gestützt, zu sehen glaubte. Und dies alles spiegelte sich mit nach unten gewendeten Wipfeln, Dächern und Kreuzen anmutig im Flusse, wo die unförmigen hohlen Weiden, von denen die einen am Ufer und die anderen im Wasser standen, in das sie ihre vom schleimigen Flußschwamm, der auf dem Wasser zugleich mit den gelben Seerosen trieb, umsponnenen Zweige und Blätter tauchten, dieses herrliche Bild zu betrachten schienen. Das Bild war sehr, sehr schön, doch die Aussicht von oben, vom Obergeschoß des Herrenhauses in die Ferne war noch schöner. Kein Gast, kein Besucher konnte auf diesem Balkon gleichgültig bleiben. Vor Staunen stockte ihm der Atem, und er rief bloß aus: »Gott, dieser schöne freie Raum!« Ohne Ende, ohne Grenzen dehnte sich die Ferne: hinter den mit Gehölz und Wassermühlen übersäten Wiesen grünten in mehreren Streifen die Wälder; hinter den Wäldern schimmerten durch die Luft, die allmählich neblig wurde, gelbe Sandflächen, und dann kamen wieder Wälder, aber schon so blau wie das Meer oder wie der sich weit ausbreitende Nebel. Und dann kamen wieder Sandflächen, immer blasser, aber immer noch gelb. Am fernen Horizonte erhob sich der Kamm eines Kreidegebirges, das auch bei trübem Wetter weiß schimmerte, wie von ewiger Sonne beleuchtet. [...]
Wer war aber der Bewohner und Besitzer dieses Gutes, [...] ?
Welchem Glücklichen gehörte dieser versteckte Besitz? [...]
Die Ansichten über ihn waren also gar nicht günstig. Doch unbefangen betrachtet, war er kein schlechter Mensch, er lief aber unnütz in der Welt herum. Da es wahrlich genug Menschen gibt, die unnütz in der Welt herumlaufen, warum sollte auch Tjentjetnikow nicht dasselbe tun?  [...] eilte er wie alle ehrgeizigen Menschen nach Petersburg, wo bekanntlich die feurige Jugend aus allen russischen Gauen zusammenströmt – um zu dienen, zu brillieren, Karriere zu machen oder auch nur um den Rahm der farblosen, eiskalten, trügerischen gesellschaftlichen Bildung abzuschöpfen. [...] 
Das ehrgeizige Streben Andrej Iwanowitschs wurde jedoch gleich am Anfang von seinem Onkel, dem wirklichen Staatsrat Onufrij Iwanowitsch gehemmt. Dieser erklärte, daß die Hauptsache eine gute Handschrift und nichts anderes sei und daß man ohne diese unmöglich Minister oder Staatsmann werden könne. Mit großer Mühe und dank der Protektion des Onkels bekam er endlich Stellung in irgendeinem Departement. Als man ihn in einen prachtvollen hellen Saal mit Parkettfußboden und lackierten Schreibtischen brachte, der den Eindruck erweckte, als säßen hier die ersten Würdenträger des Staates, die über das Schicksal des ganzen Reiches zu entscheiden hätten; als er Legionen hübscherschreibender Herren erblickte, die, den Kopf auf die Seite geneigt, mit ihren Federn einen großen Lärm machten; als man ihn selbst an einen Tisch setzte und beauftragte, irgendein Papier abzuschreiben, das zufällig einen ganz unbedeutenden Inhalt hatte – es war ein amtlicher Briefwechsel, der schon ein halbes Jahr währte und irgendwelche drei Rubel zum Gegenstand hatte –, da überkam den unerfahrenen Jüngling ein sehr merkwürdiges Gefühl: alle die Herren, die um ihn saßen, kamen ihm wie Schuljungen vor! Um diese Ähnlichkeit zu vervollständigen, lasen manche von ihnen dumme, aus fremden Sprachen übersetzte Romane, die sie in den großen Aktenbogen versteckt hielten; sie taten dabei so, als seien sie in ihre Arbeit vertieft und zuckten zusammen, sobald ein Vorgesetzter in den Saal trat. So seltsam kam ihm dies alles vor, so viel bedeutsamer erschien ihm seine bisherige Tätigkeit als diese neue, die Vorbereitung zum Staatsdienst schöner – als der Staatsdienst selbst! Er empfand Sehnsucht nach seiner Schule. [...] 
Tjentjetnikow gewöhnte sich bald an den Dienst; dieser wurde ihm aber nicht zur Hauptsache und zum Lebensziel, wie er anfangs gehofft hatte, sondern zu einer Angelegenheit zweiten Ranges. Er diente ihm zur besseren Einteilung seiner Zeit, indem er ihn zwang, die ihm bleibenden freien Stunden besonders zu schätzen. Sein Onkel, der wirkliche Staatsrat, glaubte schon, daß aus seinem Neffen etwas Gescheites werden würde, doch der Neffe machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Unter den Freunden Andrej Iwanowitschs, von denen er recht viele hatte, befanden sich zwei, die zu den sogenannten »verbitterten« Menschen zu zählen wären. Sie gehörten zu jenen unruhigen und seltsamen Charakteren, die nicht nur keine Ungerechtigkeit, sondern auch nichts, was ihnen als eine Ungerechtigkeit erschien, ruhig mitansehen können. Im Grunde gutmütig, doch in ihren Handlungen unordentlich, verlangten sie von den anderen jede Rücksicht, waren aber selbst unduldsam gegen alle anderen; durch ihre feurigen Reden und durch ihre edle Entrüstung gegen die Gesellschaft machten sie auf Tjentjetnikow einen starken Eindruck. Sie machten ihn nervös, weckten in ihm den Geist der Reizbarkeit und zwangen ihn, alle die Kleinigkeiten zu beachten, denen er früher auch nicht die geringste Beachtung geschenkt hatte. Fjodor Fjodorowitsch Ljenizyn, der Vorstand einer der Abteilungen, die sich im prunkvollen Saale befanden, mißfiel ihm plötzlich. Er fand an ihm plötzlich eine Menge Fehler. Es schien ihm, daß Ljenizyn sich bei den Gesprächen mit Vorgesetzten in ein Stück Zucker verwandelte und zu Essig werde, wenn sich an ihn ein Untergebener wandte; daß er nach Art aller kleinlichen Menschen gegen alle Beamten eingenommen sei, die an Feiertagen ihm nicht ihre Glückwünsche darbrachten, und an jenen Rache nehme, die ihre Namen nicht auf die beim Portier ausliegenden Gratulationslisten eintrugen; infolgedessen empfand er gegen ihn eine nervöse Abneigung. Ein böser Geist versuchte ihn, diesem Fjodor Fjodorowitsch eine Unannehmlichkeit zu bereiten. Mit besonderem Genuß suchte er nach einer Gelegenheit dazu, und er fand sie auch schließlich. Einmal hatte er mit ihm eine so heftige Auseinandersetzung, daß an ihn die Aufforderung erging, entweder Ljenizyn um Verzeihung zu bitten oder seinen Abschied zu nehmen. Er nahm seinen Abschied. Der Onkel, der wirkliche Staatsrat, kam zu ihm ganz erschrocken ins Haus und flehte ihn an: »Um Christi willen, Andrej Iwanowitsch! Was machst du für Sachen? Wie kann nur ein Mensch eine so glücklich angefangene Karriere aufgeben, bloß weil er einen Vorgesetzten bekommen hat, der ihm nicht paßt? Was fällt dir ein? Wenn man darauf sehen wollte, so bliebe bald niemand im Amte. Komme zu dir, gib deinen Stolz und Ehrgeiz auf, fahre zu ihm hin und setze dich mit ihm auseinander!« 
»Es handelt sich nicht darum, Onkelchen«, sagte der Neffe. »Es würde mir nicht schwer fallen, ihn um Verzeihung zu bitten. Ich bin schuld: er ist mein Vorgesetzter, und ich habe mit ihm nicht so reden dürfen. Die Sache ist aber die. Mir steht ein anderer Dienst bevor: ich habe dreihundert Leibeigene, das Gut ist vernachlässigt, der Verwalter ein Dummkopf. Der Staat verliert nicht viel, wenn auf meinem Platze in der Kanzlei sich jemand anders hinsetzt, um die Papiere abzuschreiben; es ist aber für den Staat ein großer Verlust, wenn dreihundert Menschen keine Steuern entrichten. Ich bin – was glauben Sie wohl? – ein Gutsbesitzer, welcher ... der Dienst ... Wenn ich für die Erhaltung, Schonung und die Besserung der Lage der mir anvertrauten Menschen Sorge tragen und dem Staate dreihundert ordentliche, nüchterne, arbeitsame Untertanen liefere – ist dann mein Dienst weniger wert als der eines Abteilungsvorstandes Ljenizyn?« Der wirkliche Staatsrat riß vor Erstaunen den Mund auf. Einen solchen Redestrom hatte er nicht erwartet. Nach kurzer Überlegung begann er folgendermaßen: »Aber immerhin ... trotzdem ... wie kann man sich nur auf dem Lande begraben? Was für eine Gemeinschaft kann zwischen dir und den Bauern bestehen? ... Hier begegnet man auf der Straße mal einem General oder einem Fürsten. Du kommst auch selbst an einem ... vorbei ... nun, die Gasbeleuchtung, das industrielle Europa ... dort aber ist alles, was du siehst, entweder ein Bauer oder ein Bauernweib. Für welches Vergehen hast du dich zum lebenslänglichen Umgang mit dem rohen Volke verurteilt?« Alle diese überzeugenden Vorstellungen des Onkels machten auf den Neffen keinen Eindruck.
(Gogol: Die toten Seelen, 2. Teil, 1. Kapitel)

Die Vorgeschichte des Helden

Der Autor muß gestehen, daß er sich darüber freut, weil er endlich einmal Gelegenheit hat, einiges über seinen Helden zu erzählen, während ihm bisher immer, wie es der Leser schon sah, bald Nosdrjow, bald die Bälle, bald die Damen, bald der städtische Klatsch und bald die Tausende von Bagatellen im Wege waren, die nur dann als Bagatellen erscheinen, wenn sie im Buche stehen, aber, solange sie in die Wirklichkeit gehören, als höchst wichtige Angelegenheiten angesehen werden. Jetzt wollen wir aber dies alles beiseite lassen und an die Sache schreiten. Es ist sehr zweifelhaft, ob der von uns erwählte Held den Lesern gefallen wird. Daß er den Damen nicht gefallen wird, darf man wohl positiv behaupten, denn die Damen verlangen, daß ein Held die Vollkommenheit selbst sei; der geringste seelische oder körperliche Makel macht ihn sofort unmöglich. Wenn der Autor ihm noch so tief in die Seele hineinblicktund sein Bild reiner als ein Spiegel zeichnet, so wird das dem Helden nicht den geringsten Wert verleihen. Sogar die Korpulenz und das mittlere Alter Tschitschikows werden ihm viel schaden: die Korpulenz wird man ihm auf keinen Fall verzeihen, und sehr viele Damen werden sich von ihm abwenden und sagen: »Pfui, wie garstig!« Das alles ist dem Autor wohl bekannt, und dennoch kann er sich leider keinen tugendhaften Menschen zum Helden wählen. [...] Alles kommt einmal an die Reihe, alles hat seine Zeit und seinen Platz! Und doch hat der Autor keinen tugendhaften Menschen zum Helden erwählt. Man darf sogar verraten, warum. Weil es endlich einmal Zeit ist, den armen tugendhaften Menschen in Ruhe zu lassen; weil das Wort »tugendhafter Mensch« unnütz von allen Lippen gesprochen wird; weil man den tugendhaften Menschen schon längst zu einem Pferd gemacht hat und es keinen Schriftsteller gibt, der nicht fortwährend auf ihm herumritte und ihn mit der Peitsche und jedem anderen Gegenstand antriebe; weil man den tugendhaften Menschen dermaßen müde gehetzt und ausgehungert hat, daß an ihm nicht mal ein Schatten der Tugend zu sehen ist und nur noch Rippen und Haut statt eines Körpers geblieben sind; weil man den tugendhaften Menschen nur noch mit heuchlerischen Lippen anruft; weil man den tugendhaften Menschen mißachtet. Nein, es ist endlich Zeit, auch mal einen Schurken vorzuspannen. Also wollen wir einen Schurken vorspannen!
Dunkel und bescheiden ist die Herkunft unseres Helden. Seine Eltern waren vom Adel, ob es aber alter oder persönlicher Adel war, das weiß Gott allein. [...]
Er lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Man nahm an ihm alles wahr, was man in dieser Welt braucht: Anmut in den Manieren und Handlungen und Tüchtigkeit in Geschäften. Mit diesen Mitteln ausgerüstet, erlangte er in kürzester Zeit das, was man ein warmes Plätzchen nennt, und machte davon denkbar besten Gebrauch. Man muß nämlich wissen, daß man um jene Zeit die Bestechlichkeit mit den strengsten Mitteln zu bekämpfen begann. Tschitschikow fürchtete diese Bekämpfung nicht und nützte sie sofort zu seinem eigenen Vorteil aus, wobei er die echt russische Erfindungsgabe zeigte, die nur unter dem Drucke von Verfolgungen erblüht. Er machte die Sache wie folgt: wenn ein Bittsteller kam und die Hand in die Tasche steckte, um einige der bekannten Empfehlungsbriefe mit der Unterschrift des Fürsten Chowanskij, wie man bei uns in Rußland die Banknoten zu nennen pflegt, hervorzuholen, faßte er den Besucher bei der Hand und sagte mit einem Lächeln: »Nein, nein! Sie glauben wohl, daß ich ... Nein, nein! Das ist unsere Pflicht, unsere Schuldigkeit; das müssen wir ohne jede Bezahlung tun! In dieser Beziehung können Sie ganz unbesorgt sein: die Sache wird morgen erledigt werden. Darf ich Sie um Ihre Adresse bitten? Sie brauchen sich nicht mehr herzubemühen: alles wird Ihnen ins Haus geschickt.« Der entzückte Bittsteller kehrt fast begeistert nach Hause zurück und denkt sich: – Da ist endlich ein Mensch, wie wir solche möglichst viel haben müßten! Ein wahrer Edelstein! – Der Bittsteller wartet aber einen Tag, einen zweiten – er bekommt nichts ins Haus zugestellt; auch am dritten Tage nicht. Er geht in die Kanzlei – in seiner Sache ist noch nichts geschehen; er wendet sich an den Edelstein selbst. »Ach, entschuldigen Sie!« sagt Tschitschikow äußerst höflich, indem er die beiden Hände des Besuchers ergreift: »Wir hatten so viel zu tun, aber morgen wird es erledigt werden, morgen, ganz bestimmt! Ich muß mich wirklich genieren!« Alle diese Worte begleitete er mit den bezauberndsten Gesten. Wenn dabei der Schlafrock aufging, so suchte die Hand die Sache sofort gutzumachen und den Rockschoß festzuhalten. Aber auch morgen und übermorgen und auch am dritten Tage bekam der Bittsteller nichts ins Haus gebracht. Nun wird er nachdenklich: »Hat die Sache vielleicht doch einen Haken?« Er erkundigt sich und erfährt, daß man den Schreibern etwas geben muß. »Warum sollte ich ihnen nichts geben? Auf ein paar Fünfundzwanzigkopekenstücke kommt es mir nicht an.« – »Nein, die Schreiber kriegen keine Fünfundzwanzigkopekenstücke, sondern je fünfundzwanzig Rubel.« – »Was, je fünfundzwanzig Rubel für die Schreiber?!« ruft der Bittsteller aus. – »Was ereifern Sie sich so?« antwortet man ihm: »Es ist ganz in Ordnung: die Schreiber bekommen je fünfundzwanzig Kopeken, und der Rest geht an den Amtsvorstand.« Der einfältige Bittsteller versetzt sich einen Klaps auf die Stirn und schimpft, was er schimpfen kann, auf die neue Ordnung: auf den Kampf gegen die Bestechlichkeit und auf die höflichen, veredelten Umgangsformen der Beamten. »Früher wußte man wenigstens, was man zu tun hatte: man gab dem Amtsvorstand einen Zehnrubelschein, und die Sache war erledigt; heute muß man aber einem jeden fünfundzwanzig Rubel geben und verliert obendrein eine ganze Woche, ehe man darauf kommt! Hol der Teufel diese Unbestechlichkeit und die edle Gesinnung der Beamten!« Der Bittsteller hat natürlich recht; dafür gibt es jetzt aber keine bestechlichen Beamten; alle Amtsvorstände sind die ehrlichsten und edelsten Menschen; und nur die Sekretäre und die Schreiber sind Spitzbuben. [...]
Wie es sich in Wahrheit verhielt, weiß Gott allein; der Leser kann, wenn er Lust hat, die Geschichte selbst weiter ausspinnen. [...]
Verpfändungen bei der Krone waren damals noch eine neue Sache, zu der man sich nicht ohne eine gewisse Angst entschloß. Nachdem Tschitschikow als Bevollmächtigter des Gutsbesitzers alle in Betracht kommenden Personen günstig gestimmt hatte (ohne diese Stimmungsmache kann man bei uns bekanntlich nicht mal eine gewöhnliche Auskunft einholen: eine Flasche Madeira pro Kopf ist dabei das mindeste) – nachdem er also alle günstig gestimmt hatte, brachte er unter anderem folgenden Umstand zur Sprache: »Die Hälfte der Bauern ist ausgestorben; ob man nicht deswegen hinterher Schwierigkeiten hat?« – »Aber sie stehen doch noch auf der Revisionsliste?« fragte der Sekretär. – »Ja, auf der Liste stehen sie schon«, antwortete Tschitschikow. – »Was haben Sie dann solche Angst?« sagte der Sekretär. »Der eine stirbt, ein anderer kommt zur Welt, beide taugen gleich fürs Feld.« Der Sekretär verstand offenbar auch in Reimen zu sprechen. Unserem Helden kam aber der genialste Gedanke, der je einem Menschen in den Sinn gekommen ist. »Ach ich Dummkopf!« sagte er zu sich selbst. »Ich suche meine Handschuhe, und die stecken beide in meinem Gürtel! Wenn ich von solchen Gestorbenen vor Einreichung der neuen Revisionslisten, sagen wir, tausend Stück kaufe und sie beim Vormundschaftsgericht zu, sagen wir, zweihundert Rubel verpfände, so habe ich gleich zweihunderttausend Rubel Kapital! Jetzt ist aber die geeignetste Zeit: es hat eben eine Epidemie gegeben, und es sind, Gott sei Dank, genug Menschen gestorben. Die Gutsbesitzer haben ihre Vermögen am Kartentisch verloren, haben ordentlich gebummelt und sind ruiniert; alles geht nach Petersburg und tritt in den Staatsdienst: die Güter sind verlassen und werden elend verwaltet, und den Besitzern wird es mit jedem Jahre schwerer, die Steuern zu bezahlen; ein jeder wird mir darum mit Freuden seine gestorbenen Bauern abtreten, um keine Steuern für sie bezahlen zu müssen; mancher wird mir vielleicht noch was draufzahlen. Das ist natürlich recht schwierig und mühevoll und auch nicht ungefährlich, denn es kann daraus eine neue Geschichte entstehen. Aber dazu hat der Mensch seinen Verstand! Das Gute dabei ist, daß die Sache so unwahrscheinlich klingt und niemand es glauben wollen wird. Allerdings kann man sie ohne Land weder kaufen noch verpfänden. Ich werde sie aber zwecks Übersiedlung kaufen; im Taurischen und Cherssoner Gouvernement bekommt man jetzt Land so gut wie umsonst, wenn man nur Bauern zum Ansiedeln hat. Dort will ich sie auch alle ansiedeln! Ins Cherssoner Gouvernement mit ihnen! Sollen sie da wohnen! Die Übersiedlung kann ich auf vollkommen gesetzliche Weise machen, ganz wie es sich gehört, durch das Gericht. Und wenn sie die Bauern auf ihre Tauglichkeit hin untersuchen wollen, so habe ich nichts dagegen, warum denn nicht? Ich kann auch ein Attest mit eigenhändiger Unterschrift irgendeines Polizeihauptmanns beibringen. Den Besitz kann ich ›Tschitschikows Dorf‹ nennen oder auch nach meinem Taufnamen ›Pawlowskoje‹.« So entstand im Kopfe unseres Helden dieser seltsame Plan; ich weiß nicht, ob meine Leser ihm dafür dankbar sein werden, der Verfasser weiß aber gar nicht, wie er ihm danken soll, denn wäre Tschitschikow nicht auf diesen Gedanken gekommen, so hätte dieses Poem wohl nie erscheinen können. [...]
So steht also unser Held vor uns da! Vielleicht wird man von uns noch einen letzten charakteristischen Pinselstrich verlangen: was ist er in bezug auf seine moralischen Qualitäten? Daß er kein von Tugenden und Vollkommenheiten erfüllter Held ist, ist ohne weiteres klar. Was ist er dann? Ein Schurke? Warum denn Schurke? Warum soll man gegen seine Nächsten so streng sein? Heutzutage gibt es bei uns keine Schurken mehr: es gibt nur wohlgesinnte, angenehme Menschen; aber solche, die mit ihrem Gesicht eine Ohrfeige der gesamten Öffentlichkeit herausfordern, kann man höchstens zwei oder drei finden; und auch diese sprechen heute schon von der Tugend. Am richtigsten wäre Tschitschikow mit guter Hauswirt und Erwerber zu bezeichnen. Der Erwerbssinn ist an allem schuld: er treibt den Menschen zu Geschäften, die die Welt »nicht ganz sauber« nennt. In einem solchen Charakter liegt allerdings etwas Abstoßendes, und der gleiche Leser, der auf seinem Lebenswege mit einem solchen Menschen verkehrt und recht angenehm die Zeit verbringt, wird ihn scheel anblicken, wenn er ihn im Helden eines Dramas oder eines Poems wiedererkennt. Weise ist aber derjenige, der sich von keinem Charakter abstoßen läßt, sondern seinen prüfenden Blick in ihn versenkt und ihn bis zu seinen Urgründen erforscht. So schnell wandelt sich alles im Menschen: ehe man sich's versieht, ist in seinem Innern ein schrecklicher Wurm gewachsen, der gebieterisch alle seine Lebenssäfte aufsaugt. So oft geschah es schon, daß nicht mal eine große, sondern eine ganz kleine und nichtige Leidenschaft in einem zu besseren Taten geborenen Menschen gewaltig anwuchs und ihn zwang, seine großen und heiligen Pflichten zu vergessen und in wertlosen Narrenschellen Großes und Heiliges zu sehen. Zahllos wie der Sand am Meere sind die menschlichen Leidenschaften, keine gleicht der anderen, und alle, wie die niedrigen so die edlen, die anfangs dem Menschen untertan sind, werden später zu seinen schrecklichen und unumschränkten Gebietern. Selig ist, der sich die schönste der Leidenschaften erkoren hat: seine grenzenlose Seligkeit wächst und verzehnfacht sich von Stunde zu Stunde, und er dringt immer tiefer in das unendliche Paradies seiner Seele ein. Es gibt aber Leidenschaften, deren Wahl nicht vom Menschen abhängt. [...]
Ja, meine guten Leser, ihr wollt die menschliche Dürftigkeit nicht gerne enthüllt sehen. »Wozu?« fragt ihr. »Wozu das alles? Wissen wir denn nicht selbst, daß es im Leben viel Verächtliches und Dummes gibt? Auch ohnehin müssen wir oft Dinge sehen, die gar nicht tröstlich sind. Zeigt uns doch lieber das Schöne, das Anziehende. Wir wollen uns lieber vergessen!« – »Warum erzählst du mir, daß die Wirtschaft schlecht geht, Bruder?« sagt der Gutsbesitzer zum Verwalter. »Das weiß ich auch ohne dich, Bruder; weißt du mir denn nichts anderes zu erzählen? Laß mich doch dies alles vergessen, es nicht wissen – dann bin ich glücklich.« Und nun wird das Geld, das die Wirtschaft einigermaßen in Ordnung bringen könnte, zu verschiedenen Mitteln verwendet, die dem Gutsbesitzer helfen sollen, sich zu vergessen; das Gut kommt aber plötzlich zur öffentlichen Versteigerung – und der Gutsbesitzer kann sich nun am Bettelstab vergessen, mit einer Seele, die zu Gemeinheiten fähig ist, vor denen er früher selbst erschauert wäre.
Wir haben aber eben zu laut gesprochen und vergessen, daß unser Held, der, während wir seine Geschichte erzählten, geschlafen hat, schon aufgewacht ist und leicht seinen Familiennamen hören kann, den wir so oft wiederholten. Er ist aber ein empfindlicher Mensch und liebt es nicht, daß man von ihm respektlos spricht. Dem Leser ist es recht gleichgültig, ob Tschitschikow ihm zürnt oder nicht; was aber den Autor betrifft, so darf er sich unter keinen Umständen mit seinem Helden entzweien: sie haben noch einen weiten Weg Hand in Hand zurückzulegen; zwei große Teile des Poems liegen noch vor ihnen, und das ist keine Kleinigkeit.

(Gogol: Die toten Seelen, Kapitel 11)

11 November 2015

Kulturelle Revolution Irlands

"Es ist die Wandlung eines Landes, das sich in völliger Abgeschlossenheit ganz aus seiner eigenen Überlieferung heraus entwickelt hat zu einem Land, das einer fremden und höheren Kultur offensteht. Es wurde bereits betont, daß die hohe Bildung und der gelehrte Eifer der intellektuellen Kasten des alten Irland uns die mündlichen Zeugnisse einer Kultur am Rande der antiken Welt erhalten haben, bis ihre Überlieferungen in den Schmelztiegel der lateinischen Schrift eingingen." (Miles Dillon u. Nora K. Chadwick: Die Kelten, Kindlers Kulturgeschichte Europas Band 6, S.104)

Kindlers Kulturgeschichte Europas

KKE, so heißt der Nachdruck von Kindlers Kulturgeschichte des Abendlandes von 1983 bei dtv, ist kein Werk, das man "durchliest", auch wenn sich das im Laufe des längeren Umgangs damit ergeben mag. Man schlägt aber auch nicht nur nach, man liest nach, liest sich immer wieder einmal auch fest.
Man sieht hinein und man lebt damit. Man lernt es kennen.
Anlässlich dieses Textes habe ich wieder die Einführung Friedrich Heers in die Kulturgeschichte des Abendlandes (wie sie in dieser Einleitung - trotz des Titels der dtv-Ausgabe und trotz des Gegenstandes der Einleitung: Europa - heißt) angeschaut und seinen Blick auf Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes erinnert, den er mit  Augustinus in Beziehung setzt, der in seinem "Gottesstaat" über den "ersten Untergang des Abendlandes" (S.12 im 1. Band der KKE) philosophiert. (In diesem Kontext erwähnt er auch Hegel und Marx, "die von Augustinus unter anderem den Begriff der Entfremdung erbten" (S.12) und geht auf die gemeinsame europäische Perspektive ein, die alle Verfasser der unabhängig von einander entstandenen Werke, die in der KKE zusammengefasst sind, vereinigt, auch wenn sie sich in ihren Sichtweisen noch so stark unterscheiden (z.B. Runciman mit seiner Sicht vom oströmischen Reich her, Hobsbawm mit seinem marxistischen Standpunkt).
Im Unterschied zur Propyläen Weltgeschichte, die ich mir in meinem Studium immer wieder einmal vorgenommen habe, ist die KKE weniger abstrakt. Das dankt sich zum einen dem größeren Raum, der den Autoren bei ihren (meist als Einzelwerken entstandenen) Beiträgen zur Verfügung stand, zum anderen dem Gegenstand Kultur.
Dem Internet ist es geschuldet, dass der Leser meines Blogs meinen jetzt dilettantischen Umgang mit dem Stoff mitverfolgen kann, nämlich nicht der Einarbeitung in ein Gebiet, sondern der oberflächlicheren Nacharbeitung bisher eher vernachlässigter Gebiete. Anders als meine Arbeitsweise mit Karteikarten, die selbst ich nur gelegentlich ansatzweise rekonstruieren kann, erlaubt die Verlinkung über Label den schnellen Blick auf vor Jahren Geschriebenes (z.B. Grass).

Die russische Kirche als "Schmelztiegel der Revolution"

"Es ist eine Ironie der Geschichte, daß sich gerade in der russischen Kirche ein Schmelztiegel der Revolution bildete [...]
Die administrative und militärische Führungsschicht des Staats lieferte der Adel, der nicht nur das Befehlen von Kindheit an gelernt hatte, sondern auch allein im Besitz einer elementaren weltlichen Bildung war. Die Reformen Peters des Großen hatten ihn zu westlicher Bildung gezwungen, in Schulen, in denen der technische und militärische Unterricht die Allgemeinbildung zurückdrängte und in denen westliche Einrichtungen die Vorbilder waren. [...] Wenn der Kern ihrer Mentalität, wenn ihre täglichen Gewohnheiten sich aus einer langen Vergangenheit herleiteten, so speisten sich ihre »Meinungen«, die Vorstellungen, die sie sich über die Gesellschaft und die Welt bildeten, weniger aus der russischen Wirklichkeit als aus ihrer Erziehung. Von der alten Tradition losgelöst, führte sie diese Erziehung auch auf dem Umweg über eine technische Grundunterweisung, zu allgemeinen und abstrakten Begriffen, zu einem utopischen Rationalismus nach dem Geschmack des europäischen 18. Jahrhunderts. Aus dem Schoß des Adels als der einzigen kultivierten Klasse außerhalb der Kirche ging jene intelligencija hervor, die in Opposition zum Regime trat und 1825 den sogenannten »Dekabristenaufstand« auslöste. Gerade ihre starke Bindung an den Staat trieb die besten denkenden Köpfe des Adels dazu, Reformideen aus dem Ausland zu entleihen. Und ihr ganzes Leben, ihre ganze Erziehung spiegelten ihnen die trügerische Illusion eines leichten Erfolgs vor." (Roger Portal: Die Slawen, Kindlers Kulturgeschichte Europas, Bd.19, S.277ff.)

sieh auch:

09 November 2015

Martin Walser und Nietzsche

„Also sprach Zarathustra“ faz.net 8.11.15
"[...] Dem Zarathustra-Ton bin ich sofort und, wie sich dann herausstellte, für immer verfallen. Zum Beispiel: „Das Nachtlied. Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen.“ Daraus wurde bei mir immerhin ein Romantitel. Alles, was Zarathustra singt und sagt, ist feierlich, anmaßend, betörend, zärtlich, rücksichtslos, verletzend, heilend. Was Zarathustra singt und sagt, ist, was du brauchen kannst. Das ist die wirkliche Kraft dieser Dichtung, du kannst damit machen, was du kannst. Du kannst bloß genießen. Du kannst dich erheben lassen in Höhen, in denen du nicht zuhause bist. Du kannst diese Sprache nicht lesen wie eine Mitteilung. Zarathustra ist ein großer Tänzer, und du bist unwillkürlich aufgefordert, mitzutanzen. [...]
Der Autor, der mir am meisten galt, verkündet: Gott ist tot. Ich hatte immer das Gefühl, dieser Satz sei unter Nietzsches Niveau. Dass Nietzsche bisweilen lustvoll unter seinem Niveau agiert, wusste ich ja. Trotzdem: gottlos!? Das war doch zu simpel für diesen Ausbund der Feinheit. Also: Gott ist tot als eine Verlegenheit bis zu dem Tag, an dem ich Karl Barths Buch „Der Römerbrief“ las. Ein Buch, das in der Welt des Gedruckten nur eine Verwandtschaft hat: Nietzsches „Zarathustra“.
Es scheint mir erwähnenswert zu sein, dass beide, Nietzsche und Karl Barth, Pfarrerssöhne sind. Und dass Gott tot sei, heißt bei Karl Barth: „ Als der unbekannte Gott wird Gott erkannt ... Als der, an den man nur ohne Hoffnung auf Hoffnung glauben kann.“ Und glauben, heißt es auch bei ihm, ist „der Sprung ins Leere“.
Beide, Nietzsche und Karl Barth, kennen keine datierbare, erreichbare Zukunft.
Und das ist der andauernde Zarathustra-Refrain: „Euren höchsten Gedanken aber sollt ihr euch von mir befehlen lassen: der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss.“ Mir wurde durch die spürbare Nähe der Pfarrerssöhne die Gottlosigkeit Nietzsches neu erlebbar. [...]"

07 November 2015

Hauptmann Kopejkin (Die toten Seelen)

Die Geschichte von Hauptmann Kopejkin
»Nach der Campagne von 1812, mein sehr verehrter Herr,« begann der Postmeister, obwohl im Zimmer nicht ein Herr, sondern ihrer sechs saßen, »nach der Campagne von 1812 wurde mit den anderen Verwundeten auch der Hauptmann Kopejkin heimgeschickt. Ein Hitzkopf, launisch wie der Teufel, hatte schon auf der Hauptwache und im Arrest gesessen und alles gekostet, was es nur auf der Welt gibt. Bei Krasnoje oder bei Leipzig hatte ihm ein Geschoß, denken Sie sich nur, einen Arm und ein Bein weggerissen. [...]
Nun entschloß sich der Hauptmann Kopejkin, mein sehr verehrter Herr, nach Petersburg zu gehen, um sich bei der vorgesetzten Behörde zu bemühen: so und so, er habe gewissermaßen und sozusagen sein Leben geopfert und sein Blut vergossen . . . [...]
Er erkundigt sich, wohin er sich zu wenden habe. ›Ja, das ist eine Frage!‹ sagt man ihm: ›Die höchsten Behörden sind noch nicht in der Hauptstadt;‹ Sie verstehen, alles war noch in Paris, die Armee war noch nicht zurückgekehrt; ›es gibt aber‹, sagt man ihm, ›eine provisorische Kommission. Versuchen Sie es dort, vielleicht kann die für Sie etwas tun.‹ [...]
Es versteht sich von selbst, daß er lange genug stehen mußte, denn er kam zu einer Stunde, als der Vorsitzende gewissermaßen noch kaum aufgestanden war und sein Kammerdiener ihm so eine silberne Schüssel zu allerlei Waschungen reichte. Mein Kopejkin wartet an die vier Stunden, als der diensthabende Beamte eintritt und meldet: ›Gleich erscheint der Vorsitzende.‹ [...]
Endlich kommt er, mein sehr verehrter Herr, zum Kopejkin. Kopejkin sagt: ›Soundso, habe mein Blut vergossen und gewissermaßen einen Arm und ein Bein verloren: ich kann nicht arbeiten; darum erlaube ich mir die Anfrage, ob ich nicht auf eine Unterstützung rechnen darf, ob nicht eine Verfügung wegen einer sozusagen Gratifikation oder Pension zu erwarten ist.‹ Sie verstehen es doch. Der Vorsitzende sieht: vor ihm steht ein Mann mit einem Holzbein, und der rechte Ärmel ist leer an den Waffenrock festgesteckt. ›Gut,‹ sagt er, ›fragen Sie in einigen Tagen wieder nach.‹ Mein Kopejkin ist ganz begeistert: ›Nun,‹ denkt er sich, ›die Sache ist gemacht!‹ Er ist, Sie können es sich wohl denken, in bester Laune, hüpft auf dem Trottoir, macht einen Sprung ins Restaurant Palkin, um einen Schnaps zu nehmen, ißt im Gasthause zur Stadt London zu Mittag, läßt sich ein Kotelett mit Kapern geben, dann eine Poularde mit allerlei Kram, dazu eine Flasche Wein, geht abends ins Theater – mit einem Worte, er macht sich einen guten Tag. [...]
So hatte er an einem Tage, wollen Sie es beachten, beinahe die Hälfte seines Vermögens durchgebracht. Nach drei oder vier Tagen kommt er, mein sehr verehrter Herr, wieder in die Kommission zum Vorsitzenden. Jawohl! ›Ich komme,‹ sagt er, ›um mich zu erkundigen: soundso krankheitshalber und infolge meiner Verwundungen ... habe gewissermaßen mein Blut vergossen ...‹ und so weiter, Sie verstehen wohl, in amtlichem Ton. ›Ach was‹, sagt der Vorsitzende: ›vor allen Dingen muß ich Ihnen mitteilen, daß wir in Ihrer Sache ohne Genehmigung der höchsten Stelle nichts machen können. Sie sehen doch selbst, was jetzt für eine Zeit ist. Die militärischen Operationen sind, sozusagen, noch nicht endgültig abgeschlossen. Gedulden Sie sich bis zur Ankunft des Herrn Ministers. Sie können überzeugt sein, daß man Sie nicht übersehen wird. Und wenn Sie inzwischen nichts zum Leben haben, so nehmen Sie dies, das ist alles,‹ sagt er, ›was ich für Sie tun kann.‹ Sie verstehen, er gab ihm nicht viel, aber doch so viel, daß Kopejkin damit bei einiger Sparsamkeit doch noch bis zu der Entscheidung hätte auskommen können. Kopejkin strebte aber nach etwas anderem. Er stellte sich vor, man würde ihm schon morgen einige Tausende auszahlen: ›Hier hast du es, mein Lieber, trink und amüsiere dich;‹ statt dessen sagt man ihm aber: ›Wart!‹ und gibt ihm sogar keinen Termin an. Im Kopfe hat er aber die Engländerin und allerlei Souplettes und Kotelettes. Düster wie ein Uhu tritt er auf die Straße, oder wie ein Pudel, den der Koch mit Wasser begossen hat – hat den Schwanz eingeklemmt und läßt die Ohren hängen. [...]
Er ist aber ein frischer, lebhafter Mensch und hat einen richtigen Wolfshunger. Wenn er an so einem Restaurant vorübergeht, so ist der Koch, Sie können sich wohl denken, ein Ausländer, ein Franzose mit solch einem offenen Gesicht, hat holländische Wäsche an und eine Schürze, die sich sozusagen nur mit Schnee vergleichen läßt; er arbeitet an irgendeinem fines-herbes, an einem Kotelett mit Trüffeln, mit einem Worte, an einer solchen Delikatesse, daß man vor lauter Appetit sich selbst auffressen möchte. Und wenn er an den Miljutinschen Läden vorbeigeht, so schaut aus einem Fenster sozusagen irgendein Räucherlachs heraus, Kirschen zu fünf Rubeln das Stück, oder ein Omnibus von einer Wassermelone, die nur auf einen Dummkopf wartet, der für sie hundert Rubel bezahlt; mit einem Wort, auf Schritt und Tritt Versuchungen; das Wasser läuft ihm, bildlich gesprochen, im Munde zusammen, er muß aber warten. Versetzen Sie sich nur in seine Lage; einerseits sozusagen der Räucherlachs und die Wassermelone, und andererseits reicht man ihm ein bitteres Gericht unter dem Namen ›Morgen‹: – ›Sollen sie dort machen,‹ sagt er sich, ›was sie wollen, ich gehe aber hin, bringe die ganze Kommission und alle Vorsitzenden auf die Beine und sage ihnen: Nein, ganz wie Sie wollen, aber so geht das nicht!‹ Und in der Tat: er ist zudringlich und frech, hat nicht zuviel Grütze im Kopf, dafür aber Keckheit mehr, als man braucht. Er kommt also in die Kommission. ›Was gibt's?‹ fragt man ihn: ›Was kommen Sie schon wieder? Man hat Ihnen doch schon mal gesagt ...‹ – ›Ach was,‹ sagt er, ›ich kann mich so nicht durchschlagen. Ich muß‹, sagt er, ›auch ein Kotelett essen und eine Flasche französischen Wein trinken; auch muß ich mich ein wenig zerstreuen, will auch mal ins Theater gehen‹, Sie verstehen schon. – ›Da müssen Sie schon entschuldigen‹, sagt der Vorsitzende: ›Dazu hat der Mensch gewissermaßen, sozusagen, die Geduld. [...]
Er erhob ein großes Geschrei und ließ an der ganzen Gesellschaft kein gutes Haar! Er begann auf alle die Amtsvorstände, Sekretäre und sonstigen Beamten zu schimpfen. ›Sie sind‹, sagt er, ›dies‹, sagt er, ›und Sie sind jenes! Sie‹, sagt er, ›kennen Ihre Pflichten nicht! Sie sind‹, sagt er, ›Gesetzverächter!‹ sagt er. Alle bekamen von ihm was ab. Ganz zufällig war dort, wissen Sie, ein General von einem ganz anderen Ressort anwesend, und auch der bekam von ihm, mein sehr verehrter Herr, was ab! Es war ein richtiger Aufruhr. Was soll man nur mit einem solchen Satan anfangen? Der Vorsitzende sieht, daß man, gewissermaßen, sozusagen, zu strengen Maßregeln greifen muß. ›Gut‹, sagt er, ›wenn Sie sich damit nicht begnügen wollen, was man Ihnen gibt, und nicht geneigt sind, hier in der Hauptstadt gewissermaßen ruhig auf die Entscheidung Ihrer Sache zu warten, so werde ich Sie nach Ihrem Wohnort spedieren. Man hole‹, sagt er, ›einen Feldjäger her, damit er ihn nach seinem Wohnort transportiert!‹ Der Feldjäger aber, wissen Sie, steht schon hinter der Tür: ein drei Ellen langer Kerl mit einer Hand, wissen Sie, die schon von der Natur selbst bestimmt ist, um den Postkutschern die Rücken zu bearbeiten, mit einem Worte so ein Dentist ... So setzt man den Knecht Gottes in den Wagen und schiebt ihn mit dem Feldjäger ab. ›Nun,‹ denkt sich Kopejkin, ›so brauche ich wenigstens kein Fahrgeld zu zahlen, ich bin auch dafür dankbar.‹ So fährt er, mein sehr verehrter Herr, mit dem Feldjäger, und wie er so, gewissermaßen, mit dem Feldjäger fährt, überlegt er sich: ›Schön,‹ sagt er sich, ›du sagst mir, ich solle mir selbst die Mittel verschaffen und mir selbst helfen; gut,‹ sagt er, ›ich werde mir schon die Mittel verschaffen!‹ Nun, wie man ihn an den Bestimmungsort befördert und wohin man ihn eigentlich gebracht hat, darüber ist nichts Sicheres bekannt. So versanken alle Nachrichten über den Hauptmann Kopejkin in den Strom der Vergessenheit, in so eine Lethe, wie es die Dichter nennen. Aber, gestatten Sie, meine Herren, hier fängt eben der Faden unseres Romans an. Was aus dem Kopejkin geworden ist, das weiß niemand; aber es vergingen keine zwei Monate, als in den Wäldern von Rjasan eine Räuberbande auftauchte, und der Hauptmann dieser Bande war, mein sehr verehrter Herr, niemand anders als [...]
Nikolai Gogol: Die toten Seelen, 10. Kapitel

05 November 2015

Zwei angenehme Damen im Gespräch

Zur frühen Morgenstunde, noch vor der Zeit, die in der Stadt N. für Visiten bestimmt ist, flatterte aus der Türe eines orangegelben hölzernen Hauses mit einem Mezzanin und blauen Säulen eine Dame in einem eleganten karierten Überwurf, begleitet von einem Lakai in einem Mantel mit mehreren Kragen und goldenen Tressen auf dem glänzenden Hut. Die Dame flatterte sofort mit ungewöhnlicher Eile die herabgelassene Stufe der vor dem Hause wartenden Equipage hinauf. Der Lakai schlug die Wagentür hinter ihr zu, warf das Trittbrett hinauf, klammerte sich an den Riemen hinten fest und rief dem Kutscher zu: »Vorwärts!« Die Dame hatte eine Neuigkeit, die sie soeben gehört hatte, bei sich und fühlte einen unüberwindlichen Drang, sie so schnell als möglich jemand anderem mitzuteilen. [...]
Endlich war das Ziel erreicht. Die Equipage hielt vor einem gleichfalls hölzernen zweistöckigen Hause von dunkelgrauer Farbe mit kleinen weißen Basreliefs über den Fenstern, mit einem hohen hölzernen Gitter dicht vor den Fenstern und einem schmalen Vorgärtchen, hinter dessen Gitter die schmächtigen Bäumchen ganz weiß von dem sie immer bedeckenden Straßenstaub waren. In den Fenstern erblickte man Blumentöpfe, einen Papagei, der sich in seinem Käfig schaukelte, indem er sich mit dem Schnabel am Ring festhielt, und zwei Hündchen, die in der Sonne schliefen. 
In diesem Hause wohnte eine intime Freundin der Dame, die soeben angekommen. Der Autor ist in Verlegenheit, wie er die beiden Damen so nennen soll, daß keine von ihnen ihm zürne, wie man es einst zu tun pflegte. Einen Familiennamen erfinden, wäre gefährlich. Welchen Namen man auch erfinden mag, immer wird sich in irgendeinem Winkel unseres Landes, das ja groß genug ist, jemand finden, der diesen Namen trägt; dieser könnte dem Autor ernsthaft böse werden und sagen, daß er absichtlich im geheimen hingereist sei, um alles auszuspionieren und zu erfahren, was für ein Mensch er sei, was für einen Pelz er trage, was für eine Agrafena Iwanowna er zu besuchen pflege und was er gern esse. Wollte man die Menschen aber mit ihrem Rang bezeichnen, so könnte es, Gott behüte, noch gefährlicher werden. Alle Stände und Rangklassen sind bei uns jetzt dermaßen gereizt, daß ihnen alles, was sie in einem gedruckten Buche finden, als eine persönliche Anspielung erscheint: diese Stimmung hängt einmal in der Luft. 
Wenn man bloß sagt, daß in einer gewissen Stadt ein dummer Mensch wohnt, so wird das gleich als eine persönliche Beleidigung aufgefaßt: sofort tritt ein Herr von ehrwürdigem Äußeren vor und ruft: »Auch ich bin ein Mensch, folglich bin auch ich dumm«; mit einem Worte, er errät sofort den Zusammenhang. 
Darum wollen wir die Dame, die eben den Besuch empfing, so nennen, wie sie fast einstimmig in der Stadt N. genannt wurde: »die in allen Beziehungen angenehme Dame«. Diesen Namen hatte sie auf eine rechtmäßige Weise erworben, denn sie hatte kein Mittel gespart, um als im höchsten Grade liebenswürdig zu erscheinen, obwohl durch diese Liebenswürdigkeit zuweilen eine unheimliche Gewandtheit des weiblichen Charakters hindurchschimmerte. In manchem ihrer angenehmen Worte steckte ein höchst gefährlicher Stachel! Und was erst in ihrem Herzen kochte gegen jede, die sich auf irgendeine Weise oder durch irgendein Mittel den ersten Platz zu erkämpfen suchte, davor möchte Gott einen jeden behüten! Dies alles war aber in den feinsten Anstand gehüllt, den man in einer Gouvernementsstadt überhaupt treffen kann. Jede ihrer Bewegungen war mit feinem Geschmack berechnet, sie liebte sogar Verse, sie hielt sogar zuweilen ihren Kopf träumerisch gesenkt, und alle waren sich darin einig, daß sie wirklich eine in allen Beziehungen angenehme Dame sei. Die andere Dame, d. h. die, die soeben gekommen war, hatte keinen so vielseitigen Charakter, und darum wollen wir sie »die einfach angenehme Dame« nennen. [...]
Die eben angekommene Dame wollte zur Sache schreiten und ihre Neuigkeit mitteilen; aber ein Ausruf, den die in allen Beziehungen angenehme Dame in diesem Augenblick von sich gab, lenkte das Gespräch in eine andere Richtung.
»Ach, was für ein lustiger Kattun!« rief die in allen Beziehungen angenehme Dame, das Kleid der einfach angenehmen Dame betrachtend.
»Ja, er ist sehr lustig. Praskowja Fjodrowna findet aber, daß es schöner wäre, wenn die Karos etwas kleiner und die Punkte nicht braun, sondern blau wären. Meiner Schwester schickte ich neulich einen Stoff: das ist etwas so Entzückendes, daß man es mit Worten gar nicht sagen kann. Denken Sie sich nur: schmale, ganz schmale Streifchen, so schmal, wie sie sich die menschliche Phantasie nur ausmalen kann, der Grund ist blau, und zwischen je zwei Streifchen sind immer Äuglein und Pfötchen, Äuglein und Pfötchen, Äuglein und Pfötchen . . . Mit einem Worte, unvergleichlich! Man darf entschieden behaupten, daß es auf der Welt noch nichts Ähnliches gegeben hat.«
»Liebste, das ist doch zu bunt!«
»Ach nein, es ist gar nicht bunt!«
»Ach, es ist zu bunt!«
Es ist zu erwähnen, daß die in allen Beziehungen angenehme Dame in gewisser Beziehung Materialistin und zur Negation und zu Zweifeln geneigt war und vieles im Leben verneinte.
Die einfach angenehme Dame erklärte ihr aber, daß es durchaus nicht zu bunt sei und rief: »Ach ja, ich gratuliere Ihnen: man trägt keine Falbeln mehr!«
»Wieso trägt man keine mehr?«
»Statt ihrer trägt man nur noch kleine Festons.«
»Ach, das kann nicht schön sein!«
»Lauter Festons, überall Festons: die Pelerine aus Festons, an den Ärmeln Festons, Epaulettes aus Festons, unten Festons, überall Festons.«
»Das kann nicht schön sein, Ssofja Iwanowna, wenn überall Festons sind!«
»Es ist entzückend, Anna Grigorjewna, gar nicht zu sagen, wie entzückend das ist: sie werden mit zwei Säumchen genäht und haben oben einen breiten Hohlsaum . . . Aber, jetzt kommt etwas, worüber Sie sich noch mehr wundern werden, Sie werden sagen, daß es . . . Also staunen Sie, denken Sie sich nur: die Taillen werden jetzt noch länger getragen, vorn haben sie einen Vorsprung, und das vordere Fischbein ragt ganz aus dem Rahmen hinaus; der Rock wird rundherum gerafft, wie man es bei den alten Reifröcken hatte, hinten wird er sogar ein wenig wattiert, so daß es ganz ›belle femme‹ wird.«
»Nun, da muß ich gestehen! . . .« sagte die in allen Beziehungen angenehme Dame, den Kopf mit großer Würde schüttelnd.
»Ja, Sie haben ganz richtig bemerkt: da muß ich gestehen!« entgegnete die einfach angenehme Dame.
»Sie können sagen, was Sie wollen, diese Mode mache ich nicht mit.«
»Auch ich nicht . . . Nein, wirklich, wenn man bloß bedenkt, was die Mode sich nicht alles erlaubt . . . das ist schon wirklich zu viel! Ich habe sogar meine Schwester um ein Schnittmuster gebeten, nur zum Scherz; meine Malanja ist schon beim Nähen.«
»Sie haben also ein Schnittmuster?« rief die in allen Beziehungen angenehme Dame nicht ohne eine sichtliche innere Bewegung.
»Gewiß, meine Schwester hat es mir mitgebracht.«
»Liebste, geben Sie es mir, um Gottes willen!«
»Ach, ich habe es schon Praskowja Iwanowna versprochen. Höchstens nach ihr.«
»Wer wird es denn nach Praskowja Iwanowna tragen wollen? Das wäre sehr merkwürdig von Ihnen, wenn Sie eine Fremde Ihrer Freundin vorzögen.«
»Sie ist doch meine Tante zweiten Grades.«
»Ach, was ist sie für eine Tante: doch nur seitens Ihres Mannes . . . Nein, Ssofja Iwanowna, davon will ich gar nichts hören; es sieht so aus, als wollten Sie mich beleidigen . . . Offenbar sind Sie meiner überdrüssig; offenbar wollen Sie die Bekanntschaft mit mir abbrechen.«
Die arme Ssofja Iwanowna wußte gar nicht, was anzufangen. Sie fühlte selbst, daß sie zwischen zwei mächtige Feuer geraten war. Das kommt davon, wenn man prahlen will! Sie wäre bereit, sich zur Strafe dafür ihre dumme Zunge mit Nadeln zu zerstechen.
»Nun, was hört man von unserem Herzensbrecher?« fragte indessen die in allen Beziehungen angenehme Dame.
»Ach, mein Gott! Wie kann ich bloß so dasitzen?! Das ist wirklich schön! Wissen Sie, Anna Grigorjewna, was ich Ihnen für eine Neuigkeit bringe?« Der Atem der angenehmen Dame stockte, die Worte waren im Begriff, wie die Habichte einander nachzujagen, und nur solch ein Unmensch, wie es ihre intime Freundin war, konnte es übers Herz bringen, sie hier zu unterbrechen.
»Sie können ihn noch so loben und preisen«, sagte sie viel lebhafter, als sie sonst zu sprechen pflegte. »Ich werde Ihnen aber ganz offen sagen, ich werde es auch ihm ins Gesicht sagen, daß er ein nichtswürdiger Mensch ist! Ein nichtswürdiger, ein ganz nichtswürdiger Mensch!«
»Hören Sie doch nur, was ich Ihnen erzählen will . . .«
»Man hat die Ansicht verbreitet, daß er ein hübscher Mann sei; er ist aber gar nicht hübsch, und auch seine Nase – auch seine Nase ist höchst unangenehm.«
»Lassen Sie mich Ihnen erzählen . . . Liebste, liebste Anna Grigorjewna, lassen Sie mich erzählen! Das ist doch eine ganze Geschichte, verstehen Sie, eine Geschichte, ce qu'on appelle histoire!« sagte die angenehme Dame mit verzweifeltem Ausdruck und flehender Stimme. Es schadet nicht zu bemerken, daß das Gespräch der beiden Damen sehr viele fremdsprachige Worte und sogar ganze französische Sätze enthielt. Aber so sehr auch der Autor den heilsamen Nutzen anerkennt, den die französische Sprache unserer Heimat bringt, so groß auch seine Ehrfurcht vor der lobenswerten Gewohnheit unserer höheren Klassen ist, diese Sprache zu allen Stunden des Tages, natürlich nur aus tiefster Liebe für ihr Vaterland, zu gebrauchen, trotzdem kann er sich unmöglich entschließen, in dieses russische Poem einen Satz aus irgendeiner fremden Sprache aufzunehmen. Darum fahren wir auf russisch fort.
»Was ist das für eine Geschichte?«
»Ach, liebste Anna Grigorjewna! Wenn Sie sich doch nur die Lage vorstellen könnten, in der ich mich befand! Denken Sie nur: da kommt zu mir heute die Protopopenfrau, die Frau des P. Kirill, und was denken Sie? Unser stiller, sanfter Gast, was der bloß angestellt hat!« [...]
Nikolai Gogol: Die toten Seelen, 9. Kapitel 
(Schrägdruck von mir hinzugefügt)