13 November 2015

Die Vorgeschichte des Helden

Der Autor muß gestehen, daß er sich darüber freut, weil er endlich einmal Gelegenheit hat, einiges über seinen Helden zu erzählen, während ihm bisher immer, wie es der Leser schon sah, bald Nosdrjow, bald die Bälle, bald die Damen, bald der städtische Klatsch und bald die Tausende von Bagatellen im Wege waren, die nur dann als Bagatellen erscheinen, wenn sie im Buche stehen, aber, solange sie in die Wirklichkeit gehören, als höchst wichtige Angelegenheiten angesehen werden. Jetzt wollen wir aber dies alles beiseite lassen und an die Sache schreiten. Es ist sehr zweifelhaft, ob der von uns erwählte Held den Lesern gefallen wird. Daß er den Damen nicht gefallen wird, darf man wohl positiv behaupten, denn die Damen verlangen, daß ein Held die Vollkommenheit selbst sei; der geringste seelische oder körperliche Makel macht ihn sofort unmöglich. Wenn der Autor ihm noch so tief in die Seele hineinblicktund sein Bild reiner als ein Spiegel zeichnet, so wird das dem Helden nicht den geringsten Wert verleihen. Sogar die Korpulenz und das mittlere Alter Tschitschikows werden ihm viel schaden: die Korpulenz wird man ihm auf keinen Fall verzeihen, und sehr viele Damen werden sich von ihm abwenden und sagen: »Pfui, wie garstig!« Das alles ist dem Autor wohl bekannt, und dennoch kann er sich leider keinen tugendhaften Menschen zum Helden wählen. [...] Alles kommt einmal an die Reihe, alles hat seine Zeit und seinen Platz! Und doch hat der Autor keinen tugendhaften Menschen zum Helden erwählt. Man darf sogar verraten, warum. Weil es endlich einmal Zeit ist, den armen tugendhaften Menschen in Ruhe zu lassen; weil das Wort »tugendhafter Mensch« unnütz von allen Lippen gesprochen wird; weil man den tugendhaften Menschen schon längst zu einem Pferd gemacht hat und es keinen Schriftsteller gibt, der nicht fortwährend auf ihm herumritte und ihn mit der Peitsche und jedem anderen Gegenstand antriebe; weil man den tugendhaften Menschen dermaßen müde gehetzt und ausgehungert hat, daß an ihm nicht mal ein Schatten der Tugend zu sehen ist und nur noch Rippen und Haut statt eines Körpers geblieben sind; weil man den tugendhaften Menschen nur noch mit heuchlerischen Lippen anruft; weil man den tugendhaften Menschen mißachtet. Nein, es ist endlich Zeit, auch mal einen Schurken vorzuspannen. Also wollen wir einen Schurken vorspannen!
Dunkel und bescheiden ist die Herkunft unseres Helden. Seine Eltern waren vom Adel, ob es aber alter oder persönlicher Adel war, das weiß Gott allein. [...]
Er lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Man nahm an ihm alles wahr, was man in dieser Welt braucht: Anmut in den Manieren und Handlungen und Tüchtigkeit in Geschäften. Mit diesen Mitteln ausgerüstet, erlangte er in kürzester Zeit das, was man ein warmes Plätzchen nennt, und machte davon denkbar besten Gebrauch. Man muß nämlich wissen, daß man um jene Zeit die Bestechlichkeit mit den strengsten Mitteln zu bekämpfen begann. Tschitschikow fürchtete diese Bekämpfung nicht und nützte sie sofort zu seinem eigenen Vorteil aus, wobei er die echt russische Erfindungsgabe zeigte, die nur unter dem Drucke von Verfolgungen erblüht. Er machte die Sache wie folgt: wenn ein Bittsteller kam und die Hand in die Tasche steckte, um einige der bekannten Empfehlungsbriefe mit der Unterschrift des Fürsten Chowanskij, wie man bei uns in Rußland die Banknoten zu nennen pflegt, hervorzuholen, faßte er den Besucher bei der Hand und sagte mit einem Lächeln: »Nein, nein! Sie glauben wohl, daß ich ... Nein, nein! Das ist unsere Pflicht, unsere Schuldigkeit; das müssen wir ohne jede Bezahlung tun! In dieser Beziehung können Sie ganz unbesorgt sein: die Sache wird morgen erledigt werden. Darf ich Sie um Ihre Adresse bitten? Sie brauchen sich nicht mehr herzubemühen: alles wird Ihnen ins Haus geschickt.« Der entzückte Bittsteller kehrt fast begeistert nach Hause zurück und denkt sich: – Da ist endlich ein Mensch, wie wir solche möglichst viel haben müßten! Ein wahrer Edelstein! – Der Bittsteller wartet aber einen Tag, einen zweiten – er bekommt nichts ins Haus zugestellt; auch am dritten Tage nicht. Er geht in die Kanzlei – in seiner Sache ist noch nichts geschehen; er wendet sich an den Edelstein selbst. »Ach, entschuldigen Sie!« sagt Tschitschikow äußerst höflich, indem er die beiden Hände des Besuchers ergreift: »Wir hatten so viel zu tun, aber morgen wird es erledigt werden, morgen, ganz bestimmt! Ich muß mich wirklich genieren!« Alle diese Worte begleitete er mit den bezauberndsten Gesten. Wenn dabei der Schlafrock aufging, so suchte die Hand die Sache sofort gutzumachen und den Rockschoß festzuhalten. Aber auch morgen und übermorgen und auch am dritten Tage bekam der Bittsteller nichts ins Haus gebracht. Nun wird er nachdenklich: »Hat die Sache vielleicht doch einen Haken?« Er erkundigt sich und erfährt, daß man den Schreibern etwas geben muß. »Warum sollte ich ihnen nichts geben? Auf ein paar Fünfundzwanzigkopekenstücke kommt es mir nicht an.« – »Nein, die Schreiber kriegen keine Fünfundzwanzigkopekenstücke, sondern je fünfundzwanzig Rubel.« – »Was, je fünfundzwanzig Rubel für die Schreiber?!« ruft der Bittsteller aus. – »Was ereifern Sie sich so?« antwortet man ihm: »Es ist ganz in Ordnung: die Schreiber bekommen je fünfundzwanzig Kopeken, und der Rest geht an den Amtsvorstand.« Der einfältige Bittsteller versetzt sich einen Klaps auf die Stirn und schimpft, was er schimpfen kann, auf die neue Ordnung: auf den Kampf gegen die Bestechlichkeit und auf die höflichen, veredelten Umgangsformen der Beamten. »Früher wußte man wenigstens, was man zu tun hatte: man gab dem Amtsvorstand einen Zehnrubelschein, und die Sache war erledigt; heute muß man aber einem jeden fünfundzwanzig Rubel geben und verliert obendrein eine ganze Woche, ehe man darauf kommt! Hol der Teufel diese Unbestechlichkeit und die edle Gesinnung der Beamten!« Der Bittsteller hat natürlich recht; dafür gibt es jetzt aber keine bestechlichen Beamten; alle Amtsvorstände sind die ehrlichsten und edelsten Menschen; und nur die Sekretäre und die Schreiber sind Spitzbuben. [...]
Wie es sich in Wahrheit verhielt, weiß Gott allein; der Leser kann, wenn er Lust hat, die Geschichte selbst weiter ausspinnen. [...]
Verpfändungen bei der Krone waren damals noch eine neue Sache, zu der man sich nicht ohne eine gewisse Angst entschloß. Nachdem Tschitschikow als Bevollmächtigter des Gutsbesitzers alle in Betracht kommenden Personen günstig gestimmt hatte (ohne diese Stimmungsmache kann man bei uns bekanntlich nicht mal eine gewöhnliche Auskunft einholen: eine Flasche Madeira pro Kopf ist dabei das mindeste) – nachdem er also alle günstig gestimmt hatte, brachte er unter anderem folgenden Umstand zur Sprache: »Die Hälfte der Bauern ist ausgestorben; ob man nicht deswegen hinterher Schwierigkeiten hat?« – »Aber sie stehen doch noch auf der Revisionsliste?« fragte der Sekretär. – »Ja, auf der Liste stehen sie schon«, antwortete Tschitschikow. – »Was haben Sie dann solche Angst?« sagte der Sekretär. »Der eine stirbt, ein anderer kommt zur Welt, beide taugen gleich fürs Feld.« Der Sekretär verstand offenbar auch in Reimen zu sprechen. Unserem Helden kam aber der genialste Gedanke, der je einem Menschen in den Sinn gekommen ist. »Ach ich Dummkopf!« sagte er zu sich selbst. »Ich suche meine Handschuhe, und die stecken beide in meinem Gürtel! Wenn ich von solchen Gestorbenen vor Einreichung der neuen Revisionslisten, sagen wir, tausend Stück kaufe und sie beim Vormundschaftsgericht zu, sagen wir, zweihundert Rubel verpfände, so habe ich gleich zweihunderttausend Rubel Kapital! Jetzt ist aber die geeignetste Zeit: es hat eben eine Epidemie gegeben, und es sind, Gott sei Dank, genug Menschen gestorben. Die Gutsbesitzer haben ihre Vermögen am Kartentisch verloren, haben ordentlich gebummelt und sind ruiniert; alles geht nach Petersburg und tritt in den Staatsdienst: die Güter sind verlassen und werden elend verwaltet, und den Besitzern wird es mit jedem Jahre schwerer, die Steuern zu bezahlen; ein jeder wird mir darum mit Freuden seine gestorbenen Bauern abtreten, um keine Steuern für sie bezahlen zu müssen; mancher wird mir vielleicht noch was draufzahlen. Das ist natürlich recht schwierig und mühevoll und auch nicht ungefährlich, denn es kann daraus eine neue Geschichte entstehen. Aber dazu hat der Mensch seinen Verstand! Das Gute dabei ist, daß die Sache so unwahrscheinlich klingt und niemand es glauben wollen wird. Allerdings kann man sie ohne Land weder kaufen noch verpfänden. Ich werde sie aber zwecks Übersiedlung kaufen; im Taurischen und Cherssoner Gouvernement bekommt man jetzt Land so gut wie umsonst, wenn man nur Bauern zum Ansiedeln hat. Dort will ich sie auch alle ansiedeln! Ins Cherssoner Gouvernement mit ihnen! Sollen sie da wohnen! Die Übersiedlung kann ich auf vollkommen gesetzliche Weise machen, ganz wie es sich gehört, durch das Gericht. Und wenn sie die Bauern auf ihre Tauglichkeit hin untersuchen wollen, so habe ich nichts dagegen, warum denn nicht? Ich kann auch ein Attest mit eigenhändiger Unterschrift irgendeines Polizeihauptmanns beibringen. Den Besitz kann ich ›Tschitschikows Dorf‹ nennen oder auch nach meinem Taufnamen ›Pawlowskoje‹.« So entstand im Kopfe unseres Helden dieser seltsame Plan; ich weiß nicht, ob meine Leser ihm dafür dankbar sein werden, der Verfasser weiß aber gar nicht, wie er ihm danken soll, denn wäre Tschitschikow nicht auf diesen Gedanken gekommen, so hätte dieses Poem wohl nie erscheinen können. [...]
So steht also unser Held vor uns da! Vielleicht wird man von uns noch einen letzten charakteristischen Pinselstrich verlangen: was ist er in bezug auf seine moralischen Qualitäten? Daß er kein von Tugenden und Vollkommenheiten erfüllter Held ist, ist ohne weiteres klar. Was ist er dann? Ein Schurke? Warum denn Schurke? Warum soll man gegen seine Nächsten so streng sein? Heutzutage gibt es bei uns keine Schurken mehr: es gibt nur wohlgesinnte, angenehme Menschen; aber solche, die mit ihrem Gesicht eine Ohrfeige der gesamten Öffentlichkeit herausfordern, kann man höchstens zwei oder drei finden; und auch diese sprechen heute schon von der Tugend. Am richtigsten wäre Tschitschikow mit guter Hauswirt und Erwerber zu bezeichnen. Der Erwerbssinn ist an allem schuld: er treibt den Menschen zu Geschäften, die die Welt »nicht ganz sauber« nennt. In einem solchen Charakter liegt allerdings etwas Abstoßendes, und der gleiche Leser, der auf seinem Lebenswege mit einem solchen Menschen verkehrt und recht angenehm die Zeit verbringt, wird ihn scheel anblicken, wenn er ihn im Helden eines Dramas oder eines Poems wiedererkennt. Weise ist aber derjenige, der sich von keinem Charakter abstoßen läßt, sondern seinen prüfenden Blick in ihn versenkt und ihn bis zu seinen Urgründen erforscht. So schnell wandelt sich alles im Menschen: ehe man sich's versieht, ist in seinem Innern ein schrecklicher Wurm gewachsen, der gebieterisch alle seine Lebenssäfte aufsaugt. So oft geschah es schon, daß nicht mal eine große, sondern eine ganz kleine und nichtige Leidenschaft in einem zu besseren Taten geborenen Menschen gewaltig anwuchs und ihn zwang, seine großen und heiligen Pflichten zu vergessen und in wertlosen Narrenschellen Großes und Heiliges zu sehen. Zahllos wie der Sand am Meere sind die menschlichen Leidenschaften, keine gleicht der anderen, und alle, wie die niedrigen so die edlen, die anfangs dem Menschen untertan sind, werden später zu seinen schrecklichen und unumschränkten Gebietern. Selig ist, der sich die schönste der Leidenschaften erkoren hat: seine grenzenlose Seligkeit wächst und verzehnfacht sich von Stunde zu Stunde, und er dringt immer tiefer in das unendliche Paradies seiner Seele ein. Es gibt aber Leidenschaften, deren Wahl nicht vom Menschen abhängt. [...]
Ja, meine guten Leser, ihr wollt die menschliche Dürftigkeit nicht gerne enthüllt sehen. »Wozu?« fragt ihr. »Wozu das alles? Wissen wir denn nicht selbst, daß es im Leben viel Verächtliches und Dummes gibt? Auch ohnehin müssen wir oft Dinge sehen, die gar nicht tröstlich sind. Zeigt uns doch lieber das Schöne, das Anziehende. Wir wollen uns lieber vergessen!« – »Warum erzählst du mir, daß die Wirtschaft schlecht geht, Bruder?« sagt der Gutsbesitzer zum Verwalter. »Das weiß ich auch ohne dich, Bruder; weißt du mir denn nichts anderes zu erzählen? Laß mich doch dies alles vergessen, es nicht wissen – dann bin ich glücklich.« Und nun wird das Geld, das die Wirtschaft einigermaßen in Ordnung bringen könnte, zu verschiedenen Mitteln verwendet, die dem Gutsbesitzer helfen sollen, sich zu vergessen; das Gut kommt aber plötzlich zur öffentlichen Versteigerung – und der Gutsbesitzer kann sich nun am Bettelstab vergessen, mit einer Seele, die zu Gemeinheiten fähig ist, vor denen er früher selbst erschauert wäre.
Wir haben aber eben zu laut gesprochen und vergessen, daß unser Held, der, während wir seine Geschichte erzählten, geschlafen hat, schon aufgewacht ist und leicht seinen Familiennamen hören kann, den wir so oft wiederholten. Er ist aber ein empfindlicher Mensch und liebt es nicht, daß man von ihm respektlos spricht. Dem Leser ist es recht gleichgültig, ob Tschitschikow ihm zürnt oder nicht; was aber den Autor betrifft, so darf er sich unter keinen Umständen mit seinem Helden entzweien: sie haben noch einen weiten Weg Hand in Hand zurückzulegen; zwei große Teile des Poems liegen noch vor ihnen, und das ist keine Kleinigkeit.

(Gogol: Die toten Seelen, Kapitel 11)

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