31 Oktober 2019

Fontane: Frau Jenny Treibel

"[...] »Oh, da freu ich mich. Aber freilich, Papa tut sich nicht gerne Zwang an, und seine Bequemlichkeit und seine Pfeife sind ihm lieber als ein junger Engländer, der vielleicht dreimal um die Welt gefahren ist. Papa ist gut, aber einseitig und eigensinnig.«
»Das kann ich nicht zugeben, Corinna. Dein Papa ist ein Juwel, das weiß ich am besten.«
»Er unterschätzt alles Äußerliche, Besitz und Geld, und überhaupt alles, was schmückt und schön macht.«
»Nein, Corinna, sage das nicht. Er sieht das Leben von der richtigen Seite an; er weiß, daß Geld eine Last ist und daß das Glück ganz woanders liegt.« Sie schwieg bei diesen Worten und seufzte nur leise. Dann aber fuhr sie fort: »Ach, meine liebe Corinna, glaube mir, kleine Verhältnisse, das ist das, was allein glücklich macht.«
Corinna lächelte. »Das sagen alle die, die drüberstehen und die kleinen Verhältnisse nicht kennen.«
»Ich kenne sie, Corinna.«
»Ja, von früher her. Aber das liegt nun zurück und ist vergessen oder wohl gar verklärt. Eigentlich liegt es doch so: alles möchte reich sein, und ich verdenke es keinem. Papa freilich, der schwört noch auf die Geschichte von dem Kamel und dem Nadelöhr. Aber die junge Welt...« [...]" (Fontane: Frau Jenny Treibel, 1. Kapitel)

25 Oktober 2019

Nobelpreis für Literatur

Die ersten deutschen Nobelpreisträger für Literatur waren der Historiker Theodor Mommsen (1901) und Paul Heyse (1910).
Als Nobel den Preis einsetzte, lebte Fontane noch, bei der ersten Preisvergabe 1900 nicht mehr. Aber dafür hatten schon mindesten zwei andere Autoren die Werke geschrieben, die heute weit höher geschätzt werden, als alles, was Paul Heyse je verfasst hat.
"Die Weber" und die "Buddenbrooks". Ich brauche die Autoren nicht zu nennen. Ganz eindeutig ist, dass diese Werke den Rang dieser Autoren unabhängig von dem, was sie sonst geschrieben haben oder geschrieben haben könnten, weit über den eines Paul Heyse erhoben hatten.
Ob man Peter Handke wegen politischer Äußerungen, die er getan hat, den Preis vorenthalten hätte, ändert nichts an seinem Rang und damit an der Rechtfertigung der Vergabe aufgrund seiner literarischen Qualität.
In hundert Jahren wird man nicht mehr nach seinen politischen Äußerungen fragen, sondern danach, ob sein Werk Bestand gehabt hat.
Einigermaßen grotesk ist die Vorstellung, Franz Kafka oder Bertolt Brecht hätten den Literaturnobelpreis erhalten haben können. Bei Brecht mag man zweifeln, bei Kafka dürfte jetzt schon sicher sein, dass sein Beitrag zur deutschen und zur Weltliteratur höher eingeschätzt werden wird als der aller anderen deutschen Literaturnobelpreisträger.

Die Diskussion über Peter Handkes politische Äußerungen hat also wenig mit der Berechtigung oder Nichtberechtigung der Preisverleihung an Handke zu tun.
Was den literarischen Rang betrifft, verdient er ihn sicher mehr als Paul Heyse, und insofern scheint es mir begrüßenswert, wie viel stärker sich das Nobelpreiskomitee 2019 am literarischen Rang orientiert hat als 1910 oder zu Kafkas und Brechts Zeiten.

Über seine Epik:

"[...]
Der Epiker 
Peter Handkes schönster Roman ist gar keiner, jedenfalls wenn es nach der Gattungsbezeichnung geht, die diesem Buch fehlt: „Die Wiederholung“, erschienen 1986, beschreibt die Reise eines jungen Mannes aus Kärnten durch Jugoslawien auf den Spuren seines verschollenen Bruders und ist zugleich ein aus dem Abstand von fünfundzwanzig Jahren verfasster Kommentar zu dieser Reise, eine doppelte, vertiefende Wiederholung also samt einer Fülle von weiteren Doppelgängern des Erzählers. Geschrieben ist dieses Buch in einer Prosa, die sinnlich und reflexiv zugleich ist, ohne dass das eine das andere überlagerte und ohne dass die enthaltene Geschichte einer beglückenden Heilung allzu aufgesetzt daherkäme – Qualitäten also, die man in späteren Werken des Autors vermissen kann. Tatsächlich füllen die Prosa-Arbeiten Handkes, die gerade im Rahmen einer schmucken Werkausgabe erschienen sind, sechs schwere Bände von zusammen gut 5200 Seiten (nicht gerechnet die Gedichte und Theaterstücke*, die noch einmal drei Bücher einnehmen).
Als „Roman“ werden darin nur vier Texte bezeichnet, und während über den sperrigen Gestus der „Hornissen“, 1966 Handkes Debüt bei Suhrkamp, und des „Hausierers“ (1967) die Zeit hinweggegangen ist, gehen die späten Romane „In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus“ (1997) und „Der Bildverlust“ (2002) den Weg weiter, den Handke in den späten Siebzigern eingeschlagen hatte.
Hier tritt nun zu der bereits frühen selbstreflexiven Grundierung und Binnenspiegelung der erzählenden Texte – als Romancier kann man Handke daher durchaus in der Nähe der Romantiker ansiedeln – ein religiös überhöhter Ton. Bisweilen wi
rd dabei sogar die Grenze zum bedeutungsheischenden Sprachkitsch überschritten."
FAZ 6.12.19


* z.B. Publikumsbeschimpfung

20 Oktober 2019

Märchen: Rotkäppchen, Aschenputtel - alt und modern

Rotkäppchen zwischen Unschuld und Erotik
"Ist Rotkäppchen ein kleines, unschuldiges Mädchen? Offenbar erst seit den Gebrüdern Grimm. Davor kokettierte sie schon mal mit jugendlichen Charme und ließ sich vom Wolf verführen. Eine Begegnung mit vielen Rotkäppchen. [...]
https://www.dw.com/de/rotk%C3%A4ppchen-zwischen-unschuld-und-erotik/a-36436551
Lea Albrecht 27.11.2016

Daneben gibt es auch die Rotkäppchenversion in Juristendeutsch und Iring Fetschers Version "Rotschöpfchen und der Wolf", wo Rotschöfpchen ein Revolutionär ist.
Nicht zu vergessen seine Version vom Froschkönig, wo die Prinzessin statt mit einem goldenen Ball(us) mit einem Phallus spielt, oder "Tischlein deck dich" mit dem Esel als das sich selbst vermehrende Kapital (c + c') und der maoistischen Version, wo der "Knüppel aus dem Sack" keine harmlose Oktoberrevolution ist.

sieh auch:

Iring Fetscher: Wer hat Dornröschen wachgeküsst?. Das Märchen Verwirrbuch und die Reportagen des Edlen von Goldeck von den drei Märchendeuter-Kongressen2000


G.-E. Wittmann: Aschenputtel und ihre Schwestern (pdf)

Grimms Märchen - modern Prosa, Gedichte, Karikaturen Herausgegeben von Johannes Barth, Reclam

13 Oktober 2019

Josephus

Flavius Josephus * 37 oder 38 in Jerusalem als Joseph ben Mathitjahu ha Kohen, Sohn des Matthias“[1]; † nach 100 vermutlich in Rom) war ein römisch-jüdischer Geschichtsschreiber. Er verfasste seine Werke in griechischer Sprache, zum Teil aber zunächst in seiner aramäischen Muttersprache.
Josephus ist neben Philon von Alexandria der wichtigste Autor des hellenistischen Judentums. Er schloss sich, obwohl seiner Herkunft nach den Sadduzäern nahestehend, früh den Pharisäern an. (Josephus)

Mir ist interessant, dass er in der Vorrede zu den Jüdischen Altertümern sich dagegen verwahrt, die Bücher Mose, an denen er seine Geschichtsschreibung der jüdischen Geschichte von der Einrichtung der Welt an orientiere, könne irgendwelche "Fabelei" enthalten, denn "unser Gesetzgeber [habe] die Natur Gottes geziemend aufgefasst und ihm nur solche Taten beigelegt [...], die seiner Macht würdig sind". (1. Buch Vorwort, S.16)

Außerdem fiel mir auf, dass Josephus, obwohl ihm die historischen Bücher der Bibel in der griechischen Fassung vorliegen und er selbst griechisch schreibt, eine ganze Reihe von Namen in einer anderen Lautform wiedergibt, als sie in unseren Bibelübersetzungen üblich ist. So ist es interessant von Jesus, dem "Feldherrn der Hebräer" (S.251/52), zu lesen (identisch mit dem biblischen Josua). Auch hatte ich nicht gewusst, dass Jesephus acht verschiedene Judasse erwähnt, von denen der späteste, Judas, der Galiläer, zur Zeit des Landpflegers Gessius Florus einen Aufstand organisiert habe (18. Buch 1,1 und 1,6).


Im 2. Kapitel des 12. Buches seiner Jüdischen Altertümer berichtet er, dass Ptolomäus Philadelphus die Gesetze der Juden in die alexandrinische Bibliothek habe aufnehmen wollen und im Gegenzug über 100 000 jüdische Sklaven freigekauft habe.
Diese Darstellung deckt sich weitgehend mit dem Aristeasbrief.
Die moderne Darstellung von Heinrich Graetz habe ich im vorigen Kapitel wiedergegeben. Der heutige Stand der Wissenschaft findet sich in der Wikipedia (Septuaginta). Graetz berichtet das Ganze aber weit anschaulicher, auch wenn er nicht so weit geht wie Josephus, der die Vorgänge durch (ngebliche) Dokumente und wörtliche Reden ausschmückt.

Natürlich ist auch die Stelle interessant, wo Josephus (in Buch 18 im 3. Kapitel, 3, S.515) im Zusammenhang mit einem jüdischen Aufstand gegen Pontius Pilatus noch einen Jesus erwähnt. (Die Nennung der Bezeichnung Christus gilt als nachträglich eingefügt.) Gleich im Anschluss daran erzählt er freilich eine Skandalgeschichte (S.516, schon er wusste: "Sex sells"), dann eine über eine Vertreibung von Juden aus Rom, auf die sich auch bei Tacitus und Sueton Hinweise finden.

sieh auch:
Zur Geschichte des jüdischen Krieges
Dort kommen sogar 7 Jesusse vor, freilich keiner aus Nazareth.
Berichtet wird u.a. von der Einnahme Jerusalems und dem großen Brand sowie von der Schleifung, aber auch von Judenverfolgungen außerhalb Israels.  

Heinrich Graetz: Geschichte der Juden

Der judäische Alexandrinismus. 160-143
Die judäische Kolonie in Ägypten und Kyrene; Auswanderung aus Judäa nach Ägypten. Innere Einrichtung der alexandrinischen Gemeinde. König Philometor, Gönner der Judäer. Die judäischen Feldherren Onias und Dositheos. Oniastempel. Übersetzung des Pentateuchs ins Griechische (Septuaginta). Die synagogale Predigt. Die judäisch-alexandrinische Literatur. Streit der Judäer und Samaritaner in Alexandrien. Der Samaritaner Theodotos und der Judäer Philo der ältere. Der König Ptolemäus VII. Physkon Euergetes II. und die Judäer. 
Das Wunderland des Nil, das einst die Wiege und Leidensschule des israelitischen Volkes gewesen war, wurde in diesem Zeitraum für die judäische Nation die Schule der Weisheit. Wie unter den Pharaonen, so ist auch unter den griechischen Beherrschern Ägyptens die Ansiedelung der Judäer in Ägypten gefördert worden. Sei es, daß Alexander, der Eroberer Asiens und Ägyptens, der Erbauer Alexandriens, eine judäische Kolonie nach Ägypten verpflanzt1, sei es, daß der erste Ptolemäer viele judäische Gefangene dorthin versetzt, denen sein Nachfolger die Freiheit gegeben hat2, oder daß sich gar noch ein Rest jener judäischen Auswanderer, welche nach der Zerstörung des Tempels unter Nebuchadnezar Zuflucht in Ägypten gesucht, daselbst erhalten hatte: genug, die judäische Bevölkerung Ägyptens war zahlreich. Sie verbreitete sich über den ganzen Landstrich von der lybischen Wüste im Norden bis an die Grenze Äthiopiens im Süden3. Ähnlich wie während des Aufenthaltes ihrer Stammväter in Ägypten vermehrten sich die ägyptischen Judäer von Tag zu Tage mehr durch Fruchtbarkeit und Zuzüge von Palästina aus, so daß ihre Zahl ein Jahrhundert später schon eine Million betragen haben soll4. Die Landschaft Kyrenaika sowie der bewohnbare Landstrich Lybiens hatten in den Städten eine judäische Bevölkerung, entstanden aus einer von Ptolemäus I.  dahin gesandten Kolonie5. In Ägypten und Kyrene genossen die Judäer dieselben Rechte6 wie die griechischen Bewohner, weil beide fast zu gleicher Zeit sich daselbst angesiedelt hatten, und waren sogar vor den ägyptischen Urbewohnern bevorzugt, welche die Herrscher als Besiegte behandelten. Auf diese Gleichstellung (ἰσοπολιτεία, ἰσονομία, ἰσοτιμία) waren die Judäer so stolz, daß sie dieselbe wie ihren Augapfel wahrten.[...]
 Es gab unter den alexandrinischen Judäern viele Handwerker und Künstler, die in einer Art Zunftgenossenschaft organisiert waren11. Brauchte man in Palästina Künstler für den Tempel, so berief man sie aus der alexandrinisch-judäischen Gemeinde12, wie man sie in früherer Zeit aus Phönizien verschrieb. Die alexandrinischen Judäer eigneten sich ferner die griechische Kriegs- und Staatskunst und die melodische griechische Sprache an trotz der Schwierigkeit, welche das an die hebräischen Kehllaute gewöhnte Organ in der Aussprache des Griechischen finden mußte. Sie vertieften sich endlich in die griechische Gelehrsamkeit und das Schrifttum so sehr, daß manche unter ihnen Homer und Plato ebenso gut verstanden wie ihren Mose und Salomon. Die Wohlhabenheit, die edlere Beschäftigung und die Bildung flößten den alexandrinischen Judäern Selbstbewußtsein und ein Hochgefühl ein, wie sie etwa in späterer Zeit die spanischen Juden besaßen. Die alexandrinische Gemeinde galt als Mittelpunkt der judäischen Kolonie in Ägypten, und auch die auswärtigen Judäer, selbst Judäa zu Zeiten, lehnten sich gerne an diese starke Säule des Judentums an.
Die alexandrinische Gemeinde besaß in allen Stadtteilen Gebethäuser, welche hier den Namen Proseuchen oder Proseukterien führten13, unter denen sich die Hauptsynagoge durch künstlerischen Bau, Zierlichkeit und glänzende Ausstattung besonders ausgezeichnet hat. Sie war in der Form einer Basilika mit doppeltem Säulengang (διπλῆ στοά) gebaut und hatte einen so weiten Umfang, daß, wie übertreibend erzählt wird, ein eigens dazu bestimmter Beamter mit einer Fahne das Zeichen gegeben habe, so oft die Gemeinde auf einen Segensspruch mit Amen einzufallen hatte. Die Bethäuser waren auch in Alexandrien und vermutlich ebenso in ganz Ägypten zugleich Lehrhäuser, indem an den Sabbaten und Festen derjenige, welcher in der Gesetzeskunde am meisten erfahren war, nach dem Vorlesen des Abschnittes aus dem Pentateuch sich erhob und über das Vorgelesene einen Vortrag hielt14.
Den rechten Glanz erhielt das alexandrinisch-judäische Leben erst durch hervorragende Flüchtlinge, welche während der syrischen Drangsale nach Alexandrien gekommen waren. Der bedeutendste unter ihnen war Onias, der junge Sohn des letzten, rechtmäßigen Hohenpriesters von der Linie Jesua b. Jozadak. Dieses hohepriesterliche Haus hatte in Palästina die ägyptischen Interessen gegen die Söhne des Tobias und die Griechlinge unterstützt, welche auf Seiten der Syrer standen, und darum war Onias III. den Tobia den so sehr verhaßt. Als dieser, weil er mit seinem ganzen Ansehen den Ausschreitungen der Hellenisten entgegengearbeitet und es mit dem ihnen verhaßten Hyrkanos gehalten hatte, durch deren Schuld meuchlings ermordet worden war15, hatte sich sein junger Sohn Onias IV. im Mutterlande nicht sicher gefühlt und in Ägypten Schutz gesucht, sei es unmittelbar nach dem Tode seines Vaters oder mehrere Jahre später. Er wurde von dem milden König Philometor aufs freundlichste aufgenommen, weil er eine große Partei hinter sich hatte, die ihn als den einzig berechtigten Nachfolger in der Hohenpriesterwürde betrachtete, und der sechste Ptolemäer, der noch immer Hoffnung hegte, Cölesyrien mit Judäa zurückzuerobern, sich auf diese Partei und die treuen Judäer in Syrien stützen zu können vermeinte. [...]
Man erzählte sich, schon der zweite Ptolemäer, der König Philadelphos, begierig, so viele Schriften als möglich in seine Büchersammlung aufzunehmen, sei von dem Aufseher derselben, Demetrios Phalereus, auf die Bücher Moses' aufmerksam gemacht worden, daß sie würdig seien, einen Platz in der königlichen Büchersammlung einzunehmen; nur müßten sie ins Griechische übersetzt werden. Darauf habe der König zwei Gesandte, Aristeas und Andreas, an den damaligen Hohenpriester Eleasar mit reichen Geschenken abgeordnet, ihn um würdige Männer zu bitten, die zugleich des Hebräischen und Griechischen kundig seien. Um sich den Judäern gefällig zu zeigen, habe er auf seine Kosten sämtlichen judäischen Sklaven in Ägypten, welche sein Vater, der erste Ptolemäer, als Gefangene dahin geschleppt haben soll, die Freiheit geben lassen. Der Hohepriester Eleasar, gerührt durch die Beweise der königlichen Huld, habe zwei und siebenzig der kundigsten Männer und zwar aus allen zwölf Stämmen ausgewählt, je sechs aus einem Stamme, und sie nach Alexandrien geschickt. Vom Könige auf das huldvollste empfangen, hätten diese zwei und siebenzig Männer in zwei und siebenzig Tagen die Übersetzung der Thora vollendet und sie dem Könige und allen anwesenden Judäern vorgelesen. Der König habe darauf ein Exemplar in seine Büchersammlung aufgenommen, und Demetrios Phalereus habe einen Fluch über diejenigen aussprechen lassen, welche etwas daran, sei es vermindernd oder erweiternd, verändern würden32. Von dieser Sage, die bis vor noch nicht langer Zeit allgemein für eine geschichtliche Tatsache gehalten wurde, hat die Übersetzung den Namen »der Zwei und Siebenzig« oder kurzweg »der Siebenzig« (Septuaginta) erhalten. Diese Sage erhielt später, ungewiß [40] ob von Judäern oder Christen, einen neuen Zusatz von Wunderhaftigkeit. Man fügte hinzu, der König habe jeden der zwei und siebenzig Übersetzer in ein besonderes Gemach einschließen und jede Verabredung untereinander verhindern lassen; dennoch seinen die Übersetzungen derselben bis auf Wort und Silbe so einstimmig ausgefallen, daß der König und alle Anwesenden nicht umhin gekonnt hätten, das Werk als ein von der Gottheit begünstigtes anzuerkennen33. Alle diese Züge gehören aber durchaus der Sage an.
War einmal der Anfang gemacht, so konnte es nicht fehlen, daß der Eifer, die Schriftdenkmäler des Judentums für griechische Leser zugänglich zu machen, sich regte, und so wurden nach und nach auch die Geschichtsbücher in griechisches Sprachgewand gehüllt. Die poetischen und prophetischen Schriften sind wohl keineswegs zugleich mit dem Pentateuch und den Geschichtsbüchern übersetzt worden, weil sie eine doppelte Schwierigkeit darboten. Das hebräische Original war nicht leicht verständlich, und die griechische Sprache, die einen ganz andern Geist und Satzbau hat als die hebräische, war nicht geeignet, den Gedankengang und die dichterischen Redewendungen jener Schriften wiederzugeben. Es gehörten dazu außerordentliche Sprachkenntnisse und Gewandtheit, welche die Judäer in Ägypten damals noch nicht besessen haben können. Diese Bücher sind gewiß erst ein Jahrhundert später verdolmetscht worden.
Die Verdolmetschung des pentateuchischen Gesetzbuches in die griechische Sprache schuf in der Mitte der ägyptischen Gemeinden eine neue Kunstgattung, die Kanzelberedsamkeit. War es vielleicht in Judäa Sitte, bei den Vorlesungen aus der Thora die Abschnitte in die dort übliche Volkssprache (die chaldäische oder aramäische) für Unkundige nicht bloß zu übersetzen, sondern auch zu erklären, und ist dieser Brauch auch in die Bethäuser der ägyptischen Judäer eingeführt worden? Oder ist er lediglich bei diesen aufgekommen, weil die hebräische Sprache ihnen am meisten fremd geworden war? Gleichviel, ob Nachahmung oder selbständige Einrichtung, diese Sitte, dunkle oder minder faßliche Verse aus dem Verlesenen für die Zuhörer zu übersetzen und zu erläutern, bildete eine neue Form aus. Die Übersetzer, unterstützt von dem, dem griechischen Wesen entlehnten Rededrang, blieben nicht beim Gegebenen, sondern spannen es weiter aus, pflegten Betrachtungen daran zu knüpfen, Nutzanwendungen für Lagen in der Gegenwart davon zu machen, Ermahnungen anzubringen. So entstand aus der [41] Schrifterklärung die Predigt34, welche allmählich nach der griechischen Art, allem und jedem eine gefällige, schöne Form aufzudrücken, kunstvoll ausgebaut wurde. Die Kanzelberedsamkeit ist eine Tochter der alexandrinisch-judäischen Gemeinde. Hier wurde sie geboren, großgezogen und vervollkommnet und diente später größern Kreisen als Muster.
Der Reiz, welchen die griechisch redenden Judäer an dem ihnen zugänglich gemachten biblischen Stoff fanden, weckte die Lust der Gebildeteren unter ihnen, diesen Stoff selbständig zu bearbeiten, ihn volkstümlich zu machen, die Lehren, welche darin liegen, hervorzuheben oder auch das scheinbar Auffällige und Widersprechende zu erklären und auszugleichen. So entstand ein eigenes judäisch-griechisches Schrifttum, das mit der Zeit einen großen Umfang erlangte und befruchtend auf große Kreise wirkte. Aus der Jugend dieser eigenartigen Literatur, in welcher die beiden Volksgeister, die sich im Leben abstießen, sich gewissermaßen brüderlich umarmten, ist nur wenig bekannt. Es scheint, daß auch an ihr sich der Erfahrungssatz bewährte, daß die gebundene und gehobene Rede der schlichten Prosa voranzugehen pflegt. Es sind noch Bruchstücke von Schriften vorhanden, welche die althebräische Geschichte in Versen erzählen. Veranlassung zu diesen [42] poetischen Schriften scheint die Feindseligkeit der Judäer und Samaritaner gegeben zu haben.
Die beiden in der Anerkennung des Gesetzbuches der Thora und des einigen Gottes und in der Verwerfung des Götzentums einigen, sonst aber gegeneinander erbitterten Nachbarvölker hatten ihren gegenseitigen Haß von alters her noch nicht fahren lassen. Der Religionszwang unter Antiochos Epiphanes, die Mäkkabäerkämpfe und die Veränderung, welche infolge derselben eingetreten war, hatten diese Abneigung nicht gemildert, vielleicht noch eher geschürt. Wenn auch die Samaritaner, die wohl ebenfalls von Antiochos' Schergen gezwungen worden waren, die Verehrung des Gottes Israels aufzugeben, diesem Zwange sich nur ungern fügten, so machten sie doch nicht gemeinsame Sache mit den Judäern, den gemeinschaftlichen Feind zu bekämpfen, standen vielmehr auf der Seite desselben gegen ihre halben Bekenntnisgenossen. Judäischerseits erhob man gegen sie die Anschuldigung, sie hätten zur Zeit des Zwanges ihr altes Bekenntnis abgeschworen, hätten freiwillig ihren Tempel auf dem Berge Garizim dem hellenischen Zeus geweiht und hätten angegeben, sie seinen keineswegs den Judäern stammverwandt, sondern ursprünglich Sidonier, und seien nur infolge einer Notlage gezwungen gewesen, den Sabbat zu feiern und andere judäische Gewohnheiten zu beobachten35. Es war aber eine falsche Anklage. Denn die Samaritaner fuhren fort, ihren dem Gotte Israels geweihten Tempel auf Garizim heilig zu halten und nach der Vorschrift der Thora zu leben. Während des Religionszwanges scheinen Samaritaner ebenfalls nach Ägypten ausgewandert zu sein und sich ihren Stammesgenossen, welche von Alexanders Zeit her dort angesiedelt waren, angeschlossen zu haben. Die ägyptischen Samaritaner eigneten sich gleich den Judäern die herrschende griechische Sprache und das griechische Wesen an.
Die gegenseitige Abneigung zwischen den Anhängern Jerusalems und Garizims folgte beiden auch ins Ausland nach, und sie befehdeten sich gegenseitig mit demjenigen Eifer, welchen Religionsgenossen in der Fremde für ihre heimischen Traditionen zu haben pflegen. Die Übersetzung der Thora ins Griechische, vom König Philometor begünstigt, scheint neuen Zündstoff zwischen beide geworfen zu haben. Wie sehr mußte es die Samaritaner kränken, daß durch die Septuaginta die Heiligkeit ihres Tempels an Beweiskraft eingebüßt hatte, indem im Griechischen der von ihnen geltend gemachte Vers »und du sollst einen Altar bauen auf Garizim«. nicht vorhanden war. Die Samaritaner in Alexandrien scheinen daher einen Protest gegen diese Übersetzung oder vielmehr gegen diese angebliche Fälschung des Textes beabsichtigt zu haben, und da von ihnen wohl auch einige bei Hofe in Gunst standen, wußten sie es dahin zu bringen, daß der milde Philometor ein Religionsgespräch zwischen beiden streitenden Religionsparteien veranstalten ließ, wodurch die Frage über die höhere Heiligkeit des samaritanischen oder jerusalemischen Tempels erledigt werden sollte36 – das erste Religionsgespräch dieser Art vor einem weltlichen Herrscher, das sich von den im Verlaufe der judäischen Geschichte vorgekommenen öfteren Fällen dadurch unterscheidet, daß der Schiedsrichter sich ganz unparteiisch zu der Frage verhielt und also den Streitenden die volle Freiheit vergönnte, ihre Gründe ohne Rückhalt und Rücksicht geltend zu machen.

Die beiden Parteien wählten aus ihrer Mitte die gelehrtesten Männer zu ihren Sprechern, deren Namen auf uns gekommen sind. Auf Seiten der Judäer sprach ein gewisser Andronikos, Sohn Messalams. Die Samaritaner hatten zwei Vertreter, Sabbai und Theodosios, zwei in der samaritanischen Geschichte nicht unbekannte Namen; sie galten bei ihnen als angesehene Weise, und Theodosios, dessen Name in Dositai, Dostai und Dostan37 umgewandelt wurde, galt als Gründer einer samaritanischen Sekte, deren Ansichten dem Judentume näher standen. Auf welche Weise das Religionsgespräch geführt wurde, und welchen Ausgang es hatte, läßt sich kaum mehr ermitteln, da die Berichte darüber einen durchweg sagenhaften Charakter angenommen haben. Jede Partei suchte sich den Sieg zuzuschreiben, und beide haben ihre Erfolge übertrieben. Religionsgespräche haben noch nie einen wesentlichen Erfolg erzielt. Die judäischen Quellenstellen die Sache so dar, als wenn die Bedingung gewesen wäre, der König sollte das Recht und die Pflicht haben, die Besiegten [44] umbringen zu lassen – eine gewiß unwahre Wendung – und als Andronikos auf die lange Reihe der Hohenpriester hingewiesen habe, die von Ahron bis auf die Gegenwart herab ununterbrochen im jerusalemischen Tempel fungiert haben, und ferner die Tatsache angeführt habe, daß die Könige von Asien denselben Tempel durch Weihegeschenke bereichert hätten, Vorzüge, deren sich der Tempel auf Garizim nicht rühmen konnte, seien die Samaritaner öffentlich für überwunden erklärt und der Verabredung gemäß getötet worden38. Die samaritanischen Berichte, welche viel jünger und trüber sind, schreiben ihrer Partei den Sieg zu durch die Beweisführung, daß der Gesetzgeber Mose wohl nicht einen so wichtigen Punkt, wie die Stätte für die Gottesverehrung (Kiblah) unbestimmt gelassen haben könne, vielmehr sei anzunehmen, er habe in dem Schlußsegen vor seinem Tode einen Berg im Stamme Joseph als Berg des Segens bezeichnet, nämlich den Garizim. [...]

10 Oktober 2019

Peter Handke Interviews von 2012 und Würdigung von 2019

"[...] Siegfried Unseld, meine Mutter und Nicolas Born sind die drei Menschen, die mir nach ihrem Tod erschienen sind. Das ist etwas mystisch, aber das waren keine Träume. Ich habe gedacht, die sind jetzt da und schauen mich an, ein Durch- und Durchgehen, wie wenn einer mit einem Schneidbrenner einem durch die Seele fährt. Alle drei hatten was Ermahnendes an sich, als ob man sich in einer gewaltigen Kathedrale befände, und ich würde von ihnen stumm mit den Augen zurechtgewiesen. [...]"
https://sz-magazin.sueddeutsche.de/literatur/peter-handke-nobelpreis-79280

"Was wollen Sie Ihren zwei Töchtern weitergeben?
HANDKE: Ernsthaftigkeit. Begeisterung. Dass sie erschütterbar sind. Begeisterung ist alles. Dass sie sich nicht schämen für ihre Begeisterung. Dass sie stehen zu dem, was sie lieben. Dass sie es verteidigen und weitergeben. Dass sie Traditionalisten sind, auf eine Weise auch Konservative. Und dass sie nicht zynisch werden. Ironie kann helfen, aber Zynismus nie. Selbstironie behütet auch die eigene Begeisterung. Wenn man zu sich selbst ironisch ist. Und ich will weitergeben, dass man auch zornig werden kann."

 "Alle meinen, ich schreibe das so einfach dahin, ich hätte so ein natürliches Schreibtalent", sagt er. "Und es ist eine ganz lange Arbeit, bis ich das Wort finde, das einfach und neuartig zugleich ist. Grad bei meinen Sachen besteht doch das Geheimnis in den Sätzen, die da stehen, die Bedeutung wird durch die ein bisschen veränderten Sätze dem Alltagsdeutsch gegenüber erzielt. Ich habe ja keine Ideologie, ich habe ja keine Weltanschauung, keine richtige Botschaft, die dann mitgeteilt wird. Meine Botschaft ist das Changieren der Sätze, dass die Sätze so dinglich werden, dass ich die Erfahrungen, die ich sprachlos habe, versuche, durch lange Arbeit mit der Sprache in einer Art zweiten Natur wiederherzustellen." 
Mit Sprache hat alles zu tun, von Ulrich Rüdenauer, ZEIT 10.10.19

01 Oktober 2019

Fontane als Theaterkritiker und mehr

"Über das Augenspiel des Schauspielers Maximilian Ludwig schreibt Fontane:
"Jetzt steht die Pupille in den rechten Augenwinkeln, wie der Mond im ersten Viertel; nun geht der Mond im vollen Glanze auf, aber, wie es in der Ballade heißt: 'Er geht nur auf, um unterzugehen.' Ein neues Fallen unter die Augenlider, als steige er in eine Versenkung, und alles ist wieder weiß, wie das Zifferblatt einer Emailleuhr."
So dienten ihm alle Darsteller als Spielpartner und -material. " (Peter Kümmel)
Fundstelle:
https://www.zeit.de/2019/41/theodor-fontane-theaterkritiken-stine-frau-jenny-treibel-der-stechlin/komplettansicht

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