27 April 2021

Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt - 6. Kapitel eine Art Autobiographie

 [...] Ein Zeitalter wird besichtigt. Von wem? ist immer die Frage. Sie verpflichtet X, sich vorzustellen, aber mit Maßen. Zu sagen: ich bin der und der, und bin es ganz für mich allein, ergibt Widersprüche. Ein moralischer Wirrwarr tut sich auf. Mit wirklichem Recht weiß X nicht einmal, ob er platt wie der Tisch ist oder die Höhen und Tiefen eines geschlachteten Kalbes aufweist.

Das besichtigte Zeitalter kennt sich ebensowenig. Wie nun, wenn zwei Masken einander begegnen. Aus meinen jungen Tagen gedenke ich der italienischen Masken, des Stenterello von Florenz. Ami la vita? wurde er gefragt. Ob er das Leben liebe. Er umgürtete mit den Händen seine Taille, die gleichfalls la vita genannt wird. Aber ja, antwortete er, ich liebe die Ohren, die Füße, la vita, alles liebe ich.

Auf Umwegen und durch ein Mißverständnis hatte sich herausgestellt, daß er das Leben liebe. Mehr und Besseres kann eine gesamte Zeitgenossenschaft, jeden X mit einbegriffen, über sich nicht aussagen. Sie kommt darauf umständlich wie Stenterello: Ein Zeitalter tötet, tötet – um endlich zu bemerken, daß es das Leben liebte.

Le maschere hieß ein Spiel, das ich mit Entzücken sah – vor dreißig Jahren, aber sie konnten das Entzücken nicht tilgen. Der Maestro Mascagni hat wahrhaftig mehr gemacht als nur die eine Oper, durch die sein Name lebt. Wie das glücklich und schön war, alle die Masken, jede aus einer anderen der hundert Städte Italiens, jede ein herkömmlicher Charakter. Zusammen aber, mit ihren grotesken Nasen oder auf süß geschminkten Gesichtern, stellten sie die Menschheit dar. Sie sangen unvergeßlich reizend. Die Menschheit wäre erfreulich, wenn sie es könnte, wie sie im Grunde möchte.

Das wirkliche Leben ist nicht so übersichtlich, ist im Durchschnitt nur mäßig begabt. Die Intensität von gutem Theater wird in der Wirklichkeit selten erreicht. Was ist ganz ernst? Das Spiel der Kinder.

Hieran erinnerte meine Gedenkrede an den Theatermann Max Reinhardt. Er war in der Verbannung gestorben, und ich sprach plötzlich englisch: beiläufige Einzelheiten eines Zeitalters, das noch ganz anders ausschweift.

Diesmal könnte man das Leben intensiv nennen, wäre es nur nicht ganz so verlottert. Une vie de bâton de chaise, heißt das. Jemand, dem ich gern glaube, sagte: »Der Krieg ist ein Hinter-die-Schule-Laufen.« Er ist, was man will: hochherzig, teuflisch, Ehrensache, Niedertracht, heldenhaft allerseits, ein großes Schauspiel sowieso. Eigentlich aber liefert er Schülern eine Ausrede, die gegen Tadel geschützt ist, um nicht zu arbeiten, nichts mehr zu lernen.

Um Gottes willen, was erlaube ich mir. Hunderttausende lassen sich töten, opfern sich in einer einzigen Schlacht! Zählt das nicht höher, als hätten sie Ingenieur studiert? Aber erstens will keiner sterben, die anderen sollen es für ihn. [...]

Kriege ersten Ranges, die napoleonischen, jetzt dieser, gefährden bei mehreren Generationen das Lebensgefühl. Sie waren die unsinnigste Überanstrengung aller Lebenden – immer ohne ergiebige Arbeit, ohne daß gelernt wurde. Davon erholen sich die Folgenden nicht so bald. Ein Lebensgefühl ist noch schwerer wieder aufzubauen als die zerstörten Länder und Städte, ganz zu schweigen von den Lücken im Nachwuchs.

Zuletzt kommt alles ins Gleiche. Meines Amtes ist es nicht, das Schicksal einer Welt zu beklagen, wenn sie es gewollt hat. Die einen ergingen sich in Herausforderungen des Unheils. Die anderen waren, um es aufzuhalten, weder einmütig noch entschlossen. Gut, ich beklage alle, obwohl ich es nach ordentlicher Überlegung nicht dürfte. (Den gewissen X beklage ich nicht. Bei ihm allein finde ich unverzeihlich, daß er nichts ändern konnte.) [...]

Wenigstens essen und ruhig schlafen wollen alle. X, die zahllosen Personen dieses Namens, haben für die voraussichtlichen Sieger dieses Krieges – und Zeitalters – Stellung genommen, zuerst aus den primitiven Beweggründen, die auch ein Höhlenbewohner hätte. Von den Deutschen, wenn sie siegen könnten, drohen für unabsehbare Zeiten schlechte Ernährung, gehetzte Nächte, lustlose Arbeit ohne anderes Ergebnis als nur wieder Krieg. Der Sieg der Alliierten soll den Menschen, die übrigbleiben, so viel Sicherheit des Lebens bringen, wie manche Tiere ohne Krieg haben.

Unbescheidene erwarten mehr. Schonung, ja etwas Pflege von Seiten der Gewinner, die den Krieg führten unter dem Zeichen der Menschenfreundschaft. Oder mindestens die Gegner eines Feindes waren, der sich als der Antichrist, als ein wahres Anathem etabliert hatte. Da sollte es doch nicht schwer sein – ich bitte um Entschuldigung –, nie wieder Faschist zu werden. Das war doch der Widersacher, der Fluch, der so furchtbar schwer, so über die Maßen teuer zu entkräften war. [...] Eine Figur wie diesen Hitler richtet doch der Augenschein! Die reichen Leute haben ihn für ihren Volltreffer gehalten.

Die Lichtseite

Dies war die Nachtseite des Zeitalters, das X und alle anderen X über sich ergehen lassen, wenn sie nicht vorziehen, dem Zeitalter beizupflichten wegen seiner Lichtseite. Natürlich hat es eine, sie läßt sich schnell benennen. Es ist die Mitwisserschaft der meisten. Niemand, der nicht halbwegs aufgeklärt wäre über Technik und Verlauf der Vorgänge. Ja, sogar die sozialen Anlässe sind Gemeingut. Die geistigen Grundlagen – das wäre viel verlangt. Um ihre Kenntnis sich zu bemühen, ist unter anderen X da.

Dieses Zeitalter ist eines der durchschautesten, nur daß die meisten es sich nicht sehr zu Herzen nehmen. Ihre Herzen sind von den nächsten tödlichen Sorgen schwer. Was kümmert sie die Ergründung der Tiefen. Die Oberfläche, wo sie weilen, ist gerade unheimlich genug. Aber sie wissen. Ich bezweifle, daß – nur beispielsweise – die Menschen des Dreißigjährigen Krieges über ihre wirkliche Lage so weit unterrichtet gewesen sind wie meine eigenen Leidensgefährten.

Ein Beweis wäre vielleicht, daß 1618-1648 von Deutschland einfach wiederholt wurde, was Frankreich während einiger voriger Jahrzehnte schon durchgeübt hatte. Eine Liga der Großgrundbesitzer und provinzialen Monopolisten zerriß und zerstörte das Königreich – natürlich ohne sich zu ihrer Sache zu bekennen. Wenn man die Herren hörte, verteidigten sie einen Glauben, sprich: Weltanschauung; unter denselben Umständen hätten sie seither ihren Antibolschewismus angepriesen. Der Befreier Henri Quatre handelte revolutionär, seither wäre er Bolschewik genannt worden. Indessen hieß er Ketzer, und die wirklichen Zusammenhänge blieben im dunkeln. Sonst wäre nicht ein verwandter Tatbestand gleich nachher im Nachbarlande eingetreten.

An unserem Zeitalter ist das Hellste, daß es über sich Bescheid weiß. Es faßt sogar den Vorsatz, seine eigenen Fehler auf seine Nachfolger nicht zu übertragen. Was seine Zuständigkeit offenbar überschreitet. Niemals mehr Krieg! scheint diesmal das wirkliche Kriegsziel zu sein. Niemals wieder Krieg von einer so wenig berufenen Seite wie der deutschen. Wenn das deutsche Verhältnis zur Welt schon vorher falsch war, kann Deutschland es mit Krieg am wenigsten richtigstellen. Sein Sieg wäre schädlich gewesen für alle und für Deutschland.

Auch wenn der Fall Deutschland einmal erledigt, kann doch nicht im Vorhinein ausgeschlossen werden, daß eine andere Macht – Mächte verlieren mitunter die Macht über sich selbst – in ein falsches Verhältnis zur Welt tritt. Dies wäre sogar sicher, sobald eine Macht sich dem Faschismus post festum, eigentlich einem posthumen Faschismus ergäbe. Sie wird ihn anders benennen, der Name hat Unglück gebracht. Die Sache, die er deckte, kann irgendwo wieder für möglich erachtet werden. Die Sache wäre modifiziert, die Lage darf nicht gleich wiederzuerkennen sein. Ganz den gleichen Kriegsmachern wird keine Nation noch einmal hereinfallen.

Die allgemein menschliche Neigung, auf Katastrophen hinzuarbeiten, kann schwer vergessen werden. Sie ist zu oft bewährt. Dieses Zeitalter bezeugt inmitten seiner Katastrophe ein sympathisches Vertrauen auf die Lenkbarkeit der menschlichen Beziehungen, zur Vernünftigkeit hin, zur Beherrschtheit hin. Es meint, jetzt sei des Unfugs genug – womit es wahrhaftig recht hätte. [...]"

(Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt - 6. Kapitel)

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