28 April 2021

Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt - 7. Kapitel: Fortsetzung: erste Erfolge und die Verpflichtung, sich politisch zu äußern

 "[...] Die Deutschen, um unter anderen besonders sie zu nennen, sind die leichte Beute profaner Machthaber geworden, seitdem sie nach keinen geistigen Denkern mehr die Augen erheben konnten. Ungelehrte, Geringe hatten vordem durchaus gefühlt: das sind sie, durch die ich etwas gelte. Mein Recht und Leben ist geschützt durch sie. Man muß das gekannt haben – oder es künftig nochmals erwerben von Grund auf –: das Vertrauen in menschliche Güte und Duldsamkeit, die Achtung des Menschen, die Selbstachtung.

In der jetzt noch währenden Pause der Humanität möchte ich einem Jungen, ob an der Front oder zu Hause, nicht gern gewisse Züge von sonst berichten: Vielleicht käme ich an den Unrechten. Er würde mir bestenfalls ins Gesicht lachen, wollte ich ihm erzählen, daß ein großer Arzt seinen Studenten einprägte: »Der Beruf des Arztes ist, das Leben zu erhalten.« Leben erhalten? Ein Menschenleben? Eine Kartoffel ist mehr wert.

Der Name des denkwürdigen Mediziners war Nothnagel in Wien. In Berlin begann der Physiker Helmholtz jeden Kursus mit dem Satz: »Vorausgesetzt, daß die Natur erkennbar ist.« Man sage es ihnen, die Jungen von 1944 werden antworten: »Entweder versteht er Giftgase und Gleitbomben zu machen, oder er soll den Mund halten.«

Denn von der Wissenschaft haben sie gehört als einer bloßen Utilität. Ersatz für echtes Essen, neue Tricks, um möglichst schnell möglichst viel Leben zu vernichten: das sind ihre Grenzen, hiermit endet die menschliche Erkenntnis. Aber von 1890-1898 war ich befreundet mit einem jungen Doktor, der seine Jahre an aussichtslose Untersuchungen setzte. Sie sind zu keinem Ergebnis gelangt, oder auch die negative Entscheidung der Natur wäre ein Erfolg. Das war sie bei allen, die urteilten, und mein Freund ein ausgezeichneter Schüler der Helmholtz und Dubois-Reymond.

Sie können nichts dafür, den neuen Jungen ist das Bedürfnis, uninteressiert zu denken, abhanden gekommen. An ihrer Stelle, wenn es um das eigene Leben, sonst um keines geht, wäre auch zu meiner Zeit jedem das Denken um des Denkens willen vergangen. Oder das Gestalten. Ich habe die ersten fünfzehn Jahre meine Romane unter der stillen Zustimmung, etwas lauteren Ablehnung von zweitausend Personen geschrieben. Die Welt erfuhr nichts davon. Sie waren damals sozial unbrauchbar, ähnlich wie die Experimente des jungen Physikers von der Natur abschlägig, beschieden wurden. [...]

Unsere Väter hinterließen uns meistens an Geld das Nötigste. Ich habe mein ererbtes Einkommen erhalten genau bis zu der deutschen Inflation. Da brauchte ich es nicht mehr. Als das Geld entwertet war, verdiente ich es haufenweise – mit denselben Romanen, die vorher nichts abwarfen. Ich habe für glückliche Zufälle zu danken, angenommen sei: dem Zeitalter, das ein Zusammentreffen verheerender Umstände mit anderen, gleichfalls ungeahnten ist.

Eine ähnliche Koinzidenz von Unglück und Glück hat sich einige Male wiederholt, zuletzt als ich meinen Wohnsitz in Berlin notgedrungen aufgab und nach Frankreich übersiedelte. Man nennt es Exil, es soll sehr hart sein, ist es wohl auch. Wer vor dem Hunger bewahrt bleibt, kann wieder, wie Heinrich Heine, vor Heimweh nicht schlafen. [...]

Die Verehrung ist eine mitbekommene Gabe, um den Geist ungenügsam und wach zu erhalten. Sie ist eine sittliche Gabe, befähigt zu unterscheiden, nach unten und oberhalb. Goethe – wie ich wiederholen will – empfand es als Unrecht, wenn seine späteren Zeitgenossen ihn mit Tieck – einem Romantiker von Rang – verglichen. »Ich vergleiche mich auch nicht mit Shakespeare.« Er hatte »Faust« vollendet – und sah zu einem anderen auf. Daher die Vollendung: sein Werk empfing sie vermöge des immer tätigen Antriebs, streng zu messen und, wo es recht war, zu verehren.

Auch die Heiterkeit ist ursprünglich, im Gegensatz zur Skepsis, die erworben sein will. Ein Gemüt, das ohne sie wohl auskäme, wird von jähen Freuden gewiß hingerissen wie jedes andere, und noch mehr. Da waren zum Beispiel die Bühnenerfolge. Sie kamen auch bei mir vor; einen bedeutungsvollen, weniger für mich als für die Zeit und den Augenblick, ließ ich den ganzen Abend über mich hingehen, hinter der Szene oder vor der Gardine, jedesmal »oben«, mit einer bezwungenen Menge unter mir. Für den ganzen Genuß eines Erfolges scheint es wichtig, daß man anwesend und daß man »oben« ist.

Als mir nachher in meinem dunklen Zimmer noch immer das Herz klopfte, fragte ich mich: Warum eigentlich? Meine Bücher waren gerade damals in allen Häusern, das Theater faßte jeden Abend nur tausend Personen. Aber die Anschaulichkeit, körperlich verstanden! Die Gegenwart meiner Gestalten und Ereignisse, nicht in dem besonnenen Geist stiller Leser, sondern angesichts einer Menge – alle berauscht, wenn der Fall einmal eintritt. Das Mitwissen wird unkontrolliert übertragen von erregten Sinnen auf andere erregte Sinne. Endlich muß der unschuldige Urheber des Vorganges gestehen, daß er nicht gekannt hat, was er anrichten werde – und ist selbst überwältigt.

Es ist wahr, daß ich gewissen anderen emotionellen Wirkungen meiner Arbeit ein innigeres Andenken bewahre – je ferner sie nachgerade sind. Als Fünfundzwanzigjähriger in Rom erfand ich eine meiner ersten Geschichten. Sie hatte nichts Besonderes, nur daß sie eine der ersten war. In demselben Alter ist manchem mehr und Besseres eingefallen. Aber ich sprang vor Freude bis an die Decke. Die Zimmer in alten römischen Häusern haben unterhalb des echten Plafonds einen falschen aus bemaltem Papier: zwischen beiden laufen die Mäuse. Hoch war es nicht, mein Scheitel stieß wahrhaftig gegen die nachgiebige Bespannung. Dieser Nebenumstand prägte mir den Augenblick des Glücks für mein Leben ein.

Die Nebenumstände tragen zum Glück bei, wenn sie es nicht entscheiden. Ich war nicht mehr fünfundzwanzig, schon dreiunddreißig und endlich genötigt, etwas zu können. Da begegnete mir der »Blaue Engel«, wie das Ding jetzt überall heißt. Der Film, eine ziemlich genaue Photographie des Romans, ist wieder fünfundzwanzig Jahre später gedreht worden, übrigens durch Zufall. Wie lange Zeiten muß man seine eigenen Empfindungen begleiten, um sie anlangen zu sehen – wo, in welchem Zustand, bleibt fraglich.

1931 war die französische Kolonialausstellung, eine seltene Darbietung von Pracht und Macht. Großer Abend im Hôtel de Ville, zwischen den unvergleichlichen republikanischen Garden schritt man befangenen Sinnes, falls man Sinne hatte, viele Stufen hinan, jede mit zwei Gardes. Lange Erwartung der Hauptperson. Als der alte Marschall Liautey eintraf, empfing die Versammlung ihn stehend. Vorher war dem Bürgermeister mein Name genannt worden; er breitete beide Arme aus. »C'est vous l'auteur de l'Ange bleu!« Dies ist der Gipfel des Ruhmes, den ich kenne.

Der Marschall setzte mich später an seinen Tisch. Eine volle Minute hat er meine Hand mit seiner festgehalten, hat unseren Ländern Frieden und Freundschaft gewünscht. Wäre ich Deutschland gewesen.

Aber gegenwärtig ist erst das Jahr 1904, ich sitze wie gewöhnlich im Teatro Alfieri, einem Florentiner Schauspielhaus vom alten Stil, mit fünf hohen Rängen enger Logen, und immer leer. Die Vorkriegszeit in Italien besaß das Geheimnis, wie man für hundert Zuschauer, der Kopf zwei Lire, ein herrliches Theater macht. »La Bottega del Café« des Settecento-Venezianers Goldoni, es gibt kein gleiches Wunder der Anmut, außer Mozart. In der Pause wurde eine Zeitung verkauft, darin las ich die Geschichte, die einstmals der »Blaue Engel« heißen sollte.

In Wahrheit stand auf dem Blatt etwas ganz anderes, war nur mißverständlich berichtet, und datiert aus Berlin. Gleichviel, in meinem Kopf lief der Roman ab, so schnell, daß ich nicht einmal bis in das Theater-Café gelangt wäre. Ich blieb versteinert sitzen, bemerkte dann, daß der Vorhang wieder offen war, und so viel Beifall aus dankbarem Herzen hat nicht oft ein Schauspiel von einem einzelnen Gast erhalten.

Der Protagonist der Komödie ist ein Verleumder. Sein boshafter Tratsch bringt ein kleines Campo, in der Mitte der Brunnen, ringsum die schmalen Häuser, fassungslos durcheinander. Die Tänzerin im ersten Stock, die Hausfrauen, Ladnerinnen, Cafégäste – ein aufgestörtes Wespennest. Zuletzt entdecken sie den Anstifter, wollen einmütig über ihn her, er kann nur flüchten. Seinen runden Mantel über dem Kopf geschlossen, entkommt er um die Ecke. Mir erschien Zug um Zug von einer außerordentlichen Vollendung.

Ich selbst hatte etwas fertiggebracht, das war es, war die ganze Ursache meines Glücksgefühls. Hätte es erhöht werden können? Wenn die Zeitung, die übrigens nur Ungenaues enthielt, gleich die Geschichte fortgesetzt hätte! Sie konnte geradesogut schreiben: Nur ein Vierteljahrhundert Geduld, dies wird der Film sein. Der Maire wird ausrufen –. Der Marschall spricht –. Weitere fünfzehn Jahre, nur vierzig im ganzen, und das Hollywood des zweiten Krieges sucht nach Auskunftsmitteln«, wie es unbeanstandet das Produkt einer nunmehr feindlichen Industrie noch einmal machen kann.

Hätte ich 1904 dergleichen mehr vorausgewußt, ich wäre darum nicht glücklicher gewesen. Das Glück, wie ich es kenne, gebiert und trägt sich selbst. Die Glücksfälle sind Höhepunkte einer inneren Heiterkeit, die hervorbringt: das ist ihr Grund und Beruf. Man hat sie oder hat sie nicht. Ganz anders steht es mit dem Erkennen der eigenen Relativität. Die Skepsis will gelernt sein.

Ein Anfänger, der Glück hat – nicht das äußere, ich meine ein inneres Gelingen –, überschätzt sich, er geht bis zu unschicklichen Vergleichen. Zu der Zeit des »Blauen Engels« war ich noch sehr jung, vermutlich jünger als alle anderen desselben Alters. Als ich das Buch schnell und geläufig hinschrieb, dachte ich leichtsinnig: mehr hat auch Goldoni nicht gekonnt. Das Stück im Teatro Alfieri, oder ein anderes, verfertigte er in drei Tagen, weil er gewettet hatte. Nun, und? Voll übermütiger Begeisterung griff ich viel höher hinauf. Eine komische Handlung tragisch bestimmt, die lustige Fratze, darunter die harte Wahrheit selbst, wer macht das. Wer – hat – das gemacht? dachte ich und dachte einen Namen.

Das habe ich verlernt. Denn ich erfuhr höchst lebendig, daß auf Jahrhunderte die Größe höchstens einmal trifft, und daß lange aushalten muß, wer in seiner begrenzten Laufbahn auch nur der Vollkommenheit vielleicht begegnen soll. Ich habe, um oft vollkommen zu sein, zu oft improvisiert, ich widerstand dem Abenteuer nicht genug, im Leben oder Schreiben, die eins sind. Nicht, daß ich mich belogen hätte: das lohnt nicht, soviel wußte ich immer.

Gern gestehe ich, daß die sinnlose Sehnsucht nach einem zugrunde gegangenen Deutschland mich in der Verbannung nie belästigt hat. Hitler-Deutschland hätte mich abgestoßen, wäre ich auch keines seiner vorgesehenen Opfer gewesen. Dagegen brachten mir die Atmosphäre Frankreichs und seiner Sprache gerade den Gewinn, der in diesem Zeitpunkt der willkommenste war. Ohne Vorausberechnung der Ereignisse und meiner veränderten Lage hatte ich unternommen, die Geschichte eines Königs von Frankreich zu schreiben. [...]"

(Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, 7. Kapitel)

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