Das Schicksal der Griseldis hat Boccaccio ganz aus der Perspektive des Mannes berichtet. Der unternimmt es, seine Frau so viel zu quälen, wie nur möglich, damit sie ihren Willen seinem total unterwirft, als ob er Gott wäre und gibt das als Prüfung aus.
Das Schicksal der Fiametta schildert er durchweg aus der Perspektive der Frau. Diese sieht sich als größte Dulderin der Geschichte. Wie kommt sie dazu?
Prolog
[...]
Es liegt mir nicht am Herzen, daß meine Rede zu den Männern
gelange, vielmehr bleibe sie ihnen, soviel ich dazu vermag, gänzlich
verborgen; denn so jammervoll hat sich an mir die Härte eines
einzelnen erwiesen, daß ich, alle andere ihm ähnlich wähnend, eher
höhnendes Lächeln als mitleidige Tränen von ihnen erwarte. Euch
allein, die ich durch mich selbst als beweglich und für Unglück
mitleidend kenne, bitte ich, mich zu lesen. [...]
Fiamettas
Ausgangssituation (1.
Buch)
Die
freudenvollsten Umgebungen hatten mich auf Erden empfangen; Vergnügen
war meine Nahrung, und als die zarte Kindheit verschwunden war und
das liebliche Mädchenalter begann, lehrte eine ehrwürdige Meisterin
mir alle die Sitten, die einer edlen Jungfrau angemessen sind.
Und so, wie ich an Alter wuchs, wuchsen auch meine Reize, die
vornehmsten Quellen meines Unglücks.
Ach!
wie stolz schlug mir das Herz, so klein ich auch noch war, wenn ich
meine Schönheit von so vielen preisen hörte! wie bemüht war ich,
sie durch Sorgfalt und Kunst immer mehr zu erhöhen! Und als ich in
ein reiferes Alter getreten war und die Natur mich wahrnehmen lehrte,
wie heftig weibliche Schönheit die Jünglinge zu entflammen vermag,
da bemerkte ich bald, daß mein Reiz – ach ein trauriges Geschenk
für ein Herz, das ruhig und tugendhaft zu leben wünscht! – alle
meine Gespielen und viele andere edle Männer immer mehr mit
zärtlicher Glut entzündete.
Sie
alle waren bemüht, durch ausdrucksvolle Blicke und Worte, in
zahllosen Versuchen mir das Gefühl mitzuteilen, das sie verzehrte
und das mich selbst in der Folge stärker als alle anderen zu
entflammen und zu verzehren bestimmt war. Viele auch zeigten sich,
die mit höchstem Eifer meine Hand zu erhalten strebten.
Doch
da bald darauf derjenige unter ihnen, welcher mir in jeder Hinsicht
am angemessensten war, mein Gemahl ward, so zerstreute sich mit der
verlorenen Hoffnung die beschwerliche Schar der Liebhaber, und sie
hörten auf, mich mit ihren verliebten Torheiten zu bestürmen.
Mit
einem so würdigen Gemahl, wie billig, vollkommen zufrieden,
lebte ich nun höchst glücklich, bis die sinnberaubende Liebe mit
nie empfundenem Feuer mein jugendliches Gemüt erfüllte. Ach! damals
gab es nichts in der Welt, was meinen Wunsch – ja den Wunsch irgend
einer Frau – hätte reizen können, was mir nicht sogleich im
vollen Maß gewährt worden wäre!
Mein
junger Gemahl fand in mir sein einziges Gut, seine höchste
Glückseligkeit, und so wie er von mir geliebt ward, liebte er mich
auch wieder.
O!
wie weit glücklicher als andere hätte ich mich preisen können,
wenn das Gefühl solcher Liebe mir stets treu geblieben wäre! Ich
war zufrieden, und mein Leben schien ein immerwährendes Fest, als
das Glück, welches schnell die irdischen Dinge verkehrt und die mir
geschenkten Güter selbst zu beneiden schien, auf einmal seine Hand
von mir abzog und mit schlauer Überlegung, auf welche Art es meine
Ruhe am besten vergiften könne, mich durch meine eigenen Augen den
Weg ins Verderben finden ließ. Und gewiß, kräftiger hätte das
Gift auf keine andere Weise wirken können als auf diese. [...]
Der
"schreckliche Schicksalsschlag", der sie unverdient trifft
Mein
Schicksal also wollte, daß ich glänzend und mit sorglosem Mut mein
Haus verließ. Von mehreren begleitet, gelangte ich mit abgemessenen
Schritten in den geheiligten Tempel, wo die an solchen Tagen
üblichen, feierlichen Gebräuche bereits begonnen hatten. Mir aber
hatten ein alter Gebrauch und mein Rang unter den andern Frauen eine
sehr ausgezeichnete Stelle aufbewahrt, und sobald ich Platz genommen
hatte, unterließ ich nicht, meiner Gewohnheit nach die Augen nach
allen Seiten hin zu wenden und die vielen Männer und Frauen zu
betrachten, welche in verschiedenen Gruppen den Tempel erfüllten.
Die
heiligen Gebräuche huben an, und sobald man mich im Tempel wahrnahm,
geschah es, wie ich schon gewohnt war, daß nicht allein die Männer,
sondern auch die Frauen ihre Blicke bewundernd auf mich hefteten,
nicht anders, als wäre eine Göttin sichtbar zu ihnen
herabgestiegen. O! wie oft hatte ich bei mir selbst diesen Wahn
belächelt, der mich jedoch sehr ergötzte und mich in meinen
Gedanken wirklich zu einer Göttin erhob. Alle die Kreise von
Jünglingen hörten nun auf, sich um andere zu drehen, und bildeten,
dicht um mich versammelt, gleichsam einen Kranz, indes sie
abwechselnd über meine Schönheit sprachen und mich fast einstimmig
erhoben und rühmten. Und ich, indes meine Augen mit andern
Gegenständen beschäftigt schienen, lauschte ihren Worten mit der
süßesten Wollust und gönnte ihnen dann wohl, als wäre ich ihnen
deshalb verpflichtet, einige günstigere Blicke. O! nicht einmal,
sondern oft bemerkte ich dann, wie einer oder der andere sich deshalb
mit leerer Hoffnung schmeichelte und gegen seine Gefährten voll
Eitelkeit brüstete. So von vielen angestaunt, nur wenigen einen
Blick gönnend und fest glaubend, daß meine Schönheit alles
besiegte, nahte der Augenblick, wo ein fremder Reiz meiner selbst
sich gänzlich bemeistern sollte.
Er
erschien, der verderbliche, schmerzhafte Augenblick, der mir
gewissen Tod oder ein unendlich qualvolles Leben erschaffen sollte,
und von einem unbekannten Geist getrieben, erhob ich mit leichtem
Anstand die Augen und überschaute die Menge der um mich versammelten
Jünglinge mit festem und sicherm Blick.
Dicht
in meiner Nähe zeigte sich mir an eine Marmorsäule gelehnt ein
Jüngling, dessen Ansehen und Anstand, was bis dahin noch nie
geschehen, meine Aufmerksamkeit unwiderstehlich an sich fesselte.
Seine Gestalt – so urteilte ich schon damals, da mein Urteil noch
nicht durch Liebe befangen war – hatte die schönste Form, seine
Bewegungen zeigten die größte Anmut, Anstand und Kleidung Würde
und Schicklichkeit. Die Zartheit seiner Wangen gab ein sprechendes
Zeugnis seiner Jugend, und seine Blicke, mit denen er aus der ganzen
Versammlung mich auszeichnete, waren ebenso zärtlich als verständig.
Zwar stand es in meiner Gewalt, meine Augen von ihm wegzuwenden, aber
keine Gewalt vermochte, wie ich mich auch immer bemühte, die schnell
empfangenen Eindrücke aus meinem Herzen zu verdrängen und meinem
Sinn eine andere Richtung zu geben. Das Bild seiner Schönheit war
bereits tief in meine Seele gedrückt, mit geheimer Wollust schaute
ich es an, und erfinderisch wußte ich mit Gründen die Empfindung
all des Herrlichen, was mir in ihm erschien, zu rechtfertigen. Es
entzückte mich, der Gegenstand seiner Blicke zu sein, doch war
ich stets auf meiner Hut, sooft sein Auge mir begegnete. Aber einmal,
als ich, ganz sorglos über die Gefahr, ihn betrachtete und meine
Augen länger und fester als gewöhnlich auf den seinigen verweilten,
da schien es mir, als läse ich in ihnen deutlich die Worte: ›O
Gebieterin! Du allein bist meine Seligkeit!‹, und mein Entzücken
war so groß, so überraschend, daß mit einem leisen Seufzer mein
Herz die Antwort gab: ›Und du die meinige!‹ Doch schnell mich
fassend und meiner selbst bewußt, drängte ich sie von der Lippe
zurück. Doch was auch der Mund verschweigt, wird dennoch von dem
Herzen verstanden, und hätte ich damals ausgesprochen, was ich im
Innern verschlossen hielt, vielleicht daß ich jetzt noch frei wäre.
So aber schwieg ich und verstattete meinen törichten Augen die
größte Freiheit, sich an den Reizen zu sättigen, die sie bereits
so sehr entzückt hatten.
Ach!
hätten die Götter, die jedes Ereignis zu einem verständigen Zweck
leiten, mir damals nicht allen Verstand geraubt, ich könnte jetzt
noch mir selbst angehören! Doch ich verbannte alle Überlegung, ich
folgte meinen Gelüsten und setzte so mein Gemüt in den Stand,
leicht eine Beute der Liebe zu werden.
Und
wie der Lichtstrahl eigenmächtig von einem Ort zum andern fliegt,
drang ein Feuer aus seinen Augen, das mit dem feinsten Strahl die
meinigen traf. Aber nicht die Augen allein; weiß ich es, durch
welche geheimen Wege er plötzlich bis zum Herzen drang, daß dieses,
erschreckt über die unvermutete Erscheinung des fremden Gefühls,
alle Lebensgeister zu sich rief und ich äußerlich ganz blaß und
fast ohne Leben und Wärme blieb?
Aber
nicht lange, so entzündete eine schnelle Glut das Herz; alle
Lebensgeister waren von der innern Flamme ergriffen. Die Blässe
verschwand, eine brennende Röte trat auf meine Wangen, und ich
seufzte still über die Quelle dieses Wechsels, den ich verwundernd
wahrnahm. Von diesem Augenblick an hatte ich keinen andern Gedanken
mehr als den, ihm allein zu gefallen.
Dies
alles ward von ihm, der unbeweglich seinen Platz behielt, mit feinem,
scharfem Blick beobachtet. Vielleicht schon erfahren im Reich der
Liebe und mit den Waffen bekannt, welche die gewünschte Beute leicht
erobern können, nahm er sogleich die Miene der frömmsten Demut und
eines liebenden Verlangens an. Ach! welche Arglist war unter dieser
Milde, dieser Unterwürfigkeit verborgen! Einmal aus seinem Herzen
entwichen – so hat es mich der Erfolg gelehrt –, war die fromme
Liebe nie wieder dahin zurückgekehrt und leuchtete nur mit
betrügerischem Schein aus den Zügen seines Angesichts. [...]
Die
Qual, mit der das Schicksal sie schlägt: Der Jüngling, den
sie liebt, liebt eine andere. Und ihr Ruhm, dass sie mehr
duldet als jede andere Frau der Geschichte (7.
Buch)
Amor,
der grausame Herr meiner Seele, quält mich um so mehr, je weiter er
meine Hoffnungen entfliehen sieht, und facht mit einem Hauch die
Flammen der Liebe zu neuer Glut an. Und das nie gestillte Verlangen
wird immer ungestümer und peinigt wie mit Schlangenbissen das
leidende Herz. Sicherlich hätte die Heftigkeit meiner Begierden mir
in der Folge einen sichern Weg zu dem schon vordem so sehnlich
gewünschten Tod eröffnet. Aber um der festen Hoffnung willen, auf
der beabsichtigten Reise den Urheber meiner Qual wiederzusehen, habe
ich mich bemüht, meine Schmerzen zwar nicht zu mildern, aber doch
sie zu ertragen. Zu welchem Ende ich unter allen Mitteln nur ein
einziges wirksam gefunden habe, nämlich: meine eigenen Leiden mit
den Leiden anderer zu vergleichen. Aus dieser Quelle schöpfte ich
mir zwei lindernde Tropfen. Erstens sah ich, daß ich mich in meinem
Jammer weder als die einzige noch als die erste betrachten dürfe,
wie schon die Amme mir tröstend vorstellte, zweitens beruhigte mich,
daß, wenn ich die Leiden anderer in ihrem ganzen Umfange mit
meinen verglich, meine sie alle übertreffen. Ich rechne es mir
zu keinem geringen Ruhm, sagen zu können, daß ich unter allen
Lebenden die größte Dulderin bin. Und mit dem Bewußtsein dieses
Ruhmes, von jedem Eingeweihten als ein Bild des größten Jammers
geflohen werden zu müssen (auch von mir selbst, wenn ich könnte),
habe ich bis heute die melancholischen Tage in Betrachtungen
hingebracht. Ich gedachte der Tochter des Inachos, die, ein zartes
schönes Jungfräulein, wie ich einst eines war, passend mit mir
verglichen werden kann. Ich malte mir ihre Glückseligkeit aus, als
sie sich vom Jupiter geliebt sah und ein Glück erfuhr, das der Frau
für das Höchste gelten muß. Ich dachte daran, wie sie in eine Kuh
verwandelt auf Junos Bitten vom Argus bewacht ward, und fühlte in
ihrer Seele die große, unaussprechliche Angst und Bedrängnis, die
sie dabei gelitten. Auch würde ich gewiß ihre Schmerzen weit über
die meinen stellen, wenn nicht das Auge des liebenden Gottes
unausgesetzt schützend über ihr gewacht hätte. – Ach! wenn mein
Geliebter meine Trauer geteilt oder nur Mitleid mit mir gehabt hätte,
welcher Schmerz wäre mir dann zu groß gewesen? Und überdies,
wurden nicht alle ihre vergangenen Leiden durch das Ende verherrlicht
und leicht? Argus war tot, und trotz ihrer Körperhaftigkeit wurde
sie mit Hilfe des Gottes leicht nach Ägypten getragen, wo ihr die
vorige Gestalt zurückgegeben und sie als Gemahlin des Osiris in
die glücklichste Königin verwandelt ward. Ja! dürfte ich hoffen,
meinen Geliebten, wenn auch erst im Alter, wiederzusehen, so wollte
ich meine Leiden nicht mit den Leiden dieser Frau vergleichen. Aber
Gott allein weiß, ob dies je geschehen wird, oder ob diese Hoffnung
nur ein leerer Selbstbetrug ist.
Hierauf
stand die Leidenschaft der unglücklichen Byblis vor meinen Augen;
ich sah, wie sie allen irdischen Gütern entsagte und dem
unerbittlichen Caunus folgte. Neben ihr gedachte ich der
verbrecherischen Myrrha, die nach der unseligen Befriedigung ihrer
Leidenschaft, den Tod fliehend, mit dem ihr Vater sie bedrohte, doch
den jammervollsten Untergang fand. Auch der beklagenswerten Canace,
die sich selbst den Tod geben mußte, nachdem sie die unglückliche
Frucht einer unseligen Liebe geboren hatte. Wenn ich so die Qualen
einer jeden nachfühlte, so begriff ich wohl, wie unendlich sie
gelitten hatten, mochten ihre Leidenschaften auch
verabscheuungswürdig genug sein. Das aber ist der Unterschied
zwischen ihrem und meinem Schicksal, daß ihre Leiden, so groß sie
waren, doch in einem kurzen Zeitraum zu Ende gingen.
Myrrha
ward von den mitleidigen Göttern unverzüglich in einen Baum
verwandelt, der ihren Namen führt, und wenn sie auch als Baum noch
Tränen vergießt wie damals, als sie ihre erste Gestalt verlor, so
empfindet sie doch seitdem keinen Schmerz mehr. So nahte sich
ihr mit der Ursache ihres Leidens auch zugleich das Ende desselben.
Byblis setzte ihrem Leben durch den Strick ein Ende, aber die Nymphen
verwandelten sie huldreich in eine Quelle, die Byblis-Quelle. Und
dies geschah erst, als sie Gewißheit hatte, daß ihr Geliebter ihr
durchaus kein Gehör geben würde. Darf ich nun nicht meine Qual für
weit größer erachten als das Leiden dieser Frauen, wenn ich ihre
längere Dauer in Erwägung ziehe?
Nun
erregte das Schicksal des unglücklichen Pyramus und seiner Thisbe
meine Teilnahme, wie sie so lange Zeit mit aller Qual der
unbefriedigten Sehnsucht sich treu geliebt hatten und in ihr
Verderben gingen, als sie befriedigt werden sollte. Ach! wie fühlte
ich so lebhaft, welch ein bitterer Schmerz den armen Jüngling in
jener schweigenden Nacht durchdrang, als er an dem klaren Brunnen das
Gewand seiner Thisbe von dem wilden Tier ganz zerrissen und blutig
fand! Wie fest mußte er nach solchen Zeichen an ihr schreckliches
Ende glauben! Konnte er seinem Schmerz tieferen Ausdruck verleihen
als durch den freiwilligen Tod? Ach! und was litt das Herz der
unglückseligen Thisbe, als sie nun ihren Geliebten blutend vor sich
sah und kaum noch einen Strahl von Leben in seiner Brust zucken
fühlte. Ich empfand ihren Schmerz und weinte ihre Tränen, die kaum
weniger bitter geflossen sein mögen als meine. Aber ihr Leid
war so kurz als heftig, und ihre Trauer hörte da auf, wo sie begann.
O! ihr seligen Seelen, wenn ihr euch in jener Welt so liebend
begegnet wie in dieser, welches Leid darf sich dann der Wollust des
ewigen Zusammenseins vergleichen?
Jetzt
trat das Bild der verlassenen Dido mit größerer Gewalt und
Lebhaftigkeit als irgendein anderes vor meine Seele, denn ihr Schmerz
ist ja dem meinen ähnlich und verwandt. Sie, die Erbauerin
Karthagos, gibt ihren Völkern im höchsten Glanz ihrer Herrlichkeit
im Tempel der Juno Gesetze, sie nimmt den Fremdling Äneas, der
Schiffbruch gelitten hat, wohlwollend auf und unterwirft, von seiner
Schönheit ergriffen, sich selbst und alles, was sie besitzt, der
freien Willkür des trojanischen Heerführers. Er aber reist ab und
verläßt sie, nachdem er die königlichen Freuden nach Gefallen
genossen und sie von Tag zu Tag mehr mit seiner Liebe entzündet hat.
O! wenn ich mir denke, wie sie die schwellenden Segel ihres geliebten
Flüchtlings auf offner See erblickt, wie über alle Maßen elend
erscheint sie mir da! Denke ich aber an ihr Ende, so halte ich sie
für weniger beklagenswert. Gewiß empfand ich bei Panfilos Trennung
einen ebenso heftigen Schmerz als Dido bei Äneas' Flucht, aber mir
war die Erlösung durch den schnellen Tod versagt, der sie aller
ihrer Leiden enthob.
Es
erschien mir auch die trauernde Hero in ihrem tiefen Jammer. Mir war,
als sähe ich sie, wie sie von ihrem hohen Turm an das
Meeresufer herabsteigt, um den kühnen Leander in ihren Armen
aufzunehmen, und wie sie nun mit dem Schrei des heftigsten Jammers
den toten Geliebten erblickt, der von den Wellen ans Ufer gespült
nackt auf dem Meeresstrande liegt. Mit ihrem Gewand trocknet sie von
seinem bleichen Gesicht das salzige Meerwasser und badet ihn mit
ihren Tränen. Ach! wie erfüllt mich dieses Bild mit so unendlichem
Mitleid! Ja! ihr Schicksal rührte mich tiefer als das aller übrigen
Frauen, und sooft ich meines eigenen Schmerzes auf Augenblicke
vergaß, habe ich den ihren beweint. Doch ich erkannte, daß sie zwei
Mittel besäße, Trost zu finden: sterben oder den Toten vergessen.
Eines von diesen ergreifen hieß ihren Schmerz endigen. Ein
unwiederbringlicher, ganz hoffnungsloser Verlust kann das Herz zwar
heftig, aber nicht lange betrüben.
Doch
die Götter verhüten, daß mir solches je widerfahre! Für mich
bliebe in solchem Falle kein anderer Rat als sterben. Mögen die
Götter das Leben meines Geliebten so sehr verlängern, als er selbst
es wünscht! Aber solange er unter den Lebenden ist, so lange kann
meine Hoffnung nicht sterben. Sehe ich nicht alles Irdische in ewiger
Bewegung und Abwechslung? Und muß dies nicht in mir den Glauben
wachhalten, daß er einmal zu mir zurückkehren wird, wie er ehemals
bei mir war? Gleichwohl breitet diese unerfüllte Hoffnung über
mein ganzes Leben die schwerste Trauer und Unruhe, und so kann
ich wohl behaupten, daß ich mehr leide als alle andern. Ich habe
französische Romane gelesen, in denen, wenn man ihnen Glauben
beimessen darf, Tristan und Isolde als das zärtlichste und treueste
Liebespaar dargestellt sind. Sie haben, so liest man da, ihre jungen
Jahre in Freude und im Schmerz der Sehnsucht hingebracht, und damit
sie, die sich so innig liebten, vereinigt würden, haben sie
freiwillig die irdischen Freuden verlassen, nicht ohne großen
Schmerz, wie es scheint. Freilich kann man verstehen, daß sie diese
Welt mit großem Weh verlassen mußten, wenn sie glaubten, daß sie
ihre Freuden im Jenseits nicht wiederfinden würden. Hatten sie aber
im Gegenteil die Überzeugung, daß sie ihnen dort ebenso blühen
würden wie hier, so muß das Sterben freudevoll gewesen sein und der
Tod leicht, der vielen hart und voller Angst, mir nur ein Freund zu
sein scheint. Und wie kann jemand behaupten, daß etwas schmerzhaft
sei, was er nie erfahren hat? Gewiß niemand; wie, daß etwas schwer
sei, was nur einmal und in solcher Schnelligkeit geschieht?
So
endigten Isolde und Tristan in einem Augenblick ihre Freuden und ihre
Schmerzen. Mir aber ist eine lange Zeit in Leiden hingegangen, die
die genossenen Freuden ohne Zweifel überwiegen. Zu der Reihe der
unglücklich Liebenden gesellt sich auch Phädra, die durch ihre
mißleitete Wut Ursache an dem schrecklichen Tod dessen wurde,
den sie mehr als sich selbst liebte. Was in ihr vorging, weiß ich
nicht, aber das weiß ich, daß mich von solchem Verbrechen nichts
anders als ein schneller Tod hätte reinigen können. Doch da sie,
wie man weiß, noch, das Leben ertrug, so hatte sie gewiß den
Geliebten vergessen, wie man die Toten, die unwiederbringlich sind,
zu vergessen pflegt. Ähnlich wie ihr erging es der Laodemia,
Deiphile, Argia, Evadne, der Deianira und mehreren anderen, die
entweder durch den Tod oder durch ein unvermeidliches Vergessen von
ihrem tiefen Leide geheilt wurden. Und also blieb ich einzig in
meinem Schmerz. Was kann die Flamme oder der glühende Stahl oder das
geschmolzene Metall schaden, wenn der Finger es schnell berührt und
ebensoschnell wieder verläßt? Sehr viel gewiß; aber nichts im
Vergleich damit, wenn der ganze Körper lange Zeit in der Glut
verweilen muß. Alle, deren Leiden ich eben geschildert, berührte
der Schmerz nur flüchtig wie den Finger am Metall, ich aber bin ihm
ganz und gar ausgesetzt.
Aber
nicht allein die Qualen der Liebenden, auch andere Wunden, die das
Schicksal geschlagen, schienen mir der Betrachtung und der Tränen
wert; wenn es wahr ist, daß glücklich sein nur eine Abstufung des
höchsten Unglücks ist. Unter die vom Schicksal hart Verfolgten
gehören vor allem Jocaste, Hecuba, Sophonisbe, Cornelia und
Cleopatra. O! von welchem Elend, fähig auch den stärksten Mut
zu erschüttern, finden wir Jocasten ihr Leben hindurch verfolgt! Als
zarte Jungfrau ward sie mit Laius, König von Theben, verheiratet und
mußte die erste Frucht ihres Leibes den wilden Tieren zur Speise
aussetzen, um von dem unglücklichen Vater abzuwenden, was die
Gestirne ihm doch unabwendbar bereitet hatten. O welch unendlichen
Schmerz muß sie als Mutter und Königin dabei gefühlt haben! Durch
die Vollstrecker ihres Willens von dem Tode ihres unglücklichen
Kindes überzeugt, ward ihr Gemahl nach Verlauf der Zeit von ebendem,
den sie geboren hatte, elendiglich getötet; sie selbst aber ward die
Gattin des unbekannten Sohnes und gebar ihm vier Kinder. Und so sah
sie sich mit einem Male als Gattin und Mutter eines Vatermörders und
erkannte in ihrem Gemahl ihren Sohn, nachdem er sich selbst der Augen
und des Königreichs beraubt und damit seine Schuld kundgetan hatte.
Wer
sich in ihre Lage versetzen kann, der wird fühlen, wie unendlich
sie, die, schon dem Alter nahe, der Ruhe und des Seelenfriedens mehr
bedurfte, bei solchem Geschick leiden mußte. Aber die noch nicht mit
ihr versöhnten Götter bereiteten ihr der Qualen noch mehr. Nach
einem zwischen ihren Söhnen abgeschlossenen Vertrag sollten sie sich
in die Zeit der Regierung teilen. Was geschah in Wirklichkeit? Sie
wurde von dem treulosen Bruder in die Stadt eingeschlossen, ein
großer Teil Griechenlands unter sieben Könige verteilt, nach vielen
Schlachten und Feuersbrünsten töteten ihre beiden Söhne einander,
die Regierung fiel einem Fremden anheim, und ihr Sohn und Gemahl
wurde verjagt. Sie sah die alten Mauern ihrer Erbstadt fallen, die
einst von Amphion durch den Schall seiner Laute erbaut waren. Ihr
Reich wurde zerstört, und als sie selbst ihr Leben endigte, ließ
sie ihre Töchter einem vielleicht schimpflichen Leben als Beute
zurück. Sagt, was konnten Götter, Welt und Schicksal mehr gegen
diese Unselige tun? Alle Qualen waren erschöpft, und ich glaube, daß
selbst in der Hölle nicht größeres Elend zu finden ist. Sie hat
jeden Schmerz und auch jede Schuld erfahren. Und keiner wird sein,
der sagt, daß meine Leiden diesen verglichen werden könnten; auch
ich nicht, wenn mein Schmerz nicht der Schmerz der Liebe wäre.
Aber
wer darf leugnen, daß Jocaste, wenn sie wußte, daß ihr Haus und
ihr Gemahl der Götter Zorn verdienten, nicht alles für wohlverdient
und gerecht erkennen mußte, was ihr begegnete? Gewiß mußte sie es,
wenn sie weise war. Aber sie war töricht, und da ihr diese
Erkenntnis mangelte, so fühlte sie auch ihr Unglück weniger, und
ihr Schmerz war geringer. Wurde ihr aber die Gerechtigkeit ihres
Schicksals bewußt, so mußte sie es ohne Unmut und gelassen
ertragen.
Ich
aber habe nie etwas verbrochen, was den gerechten Zorn der Götter
hätte auf mich laden können oder müssen. Immer habe ich die Götter
geehrt und durch Gebete und Opfer nach ihrer Gunst gestrebt, auch nie
sie verachtet, wie einst die Thebaner getan. ›Aber‹, höre ich
eine Stimme sagen, ›wie darfst du behaupten, daß du nicht jede
Strafe verdient und viel verschuldet hast? Hast du nicht die
heiligsten Gesetze übertreten und mit dem verbrecherischen Jüngling
die eheliche Treue verletzt?‹
Ja,
ich tat es; aber bedenkt, daß dies die einzige Schuld meines ganzen
Lebens ist, durch die ich unmöglich so große Strafe verdienen kann.
Erwägt, daß ich als zarte Jungfrau der Gewalt nicht widerstehen
konnte, durch die selbst Götter und Heroen besiegt wurden. Auch bin
ich nicht die erste, nicht die letzte und nicht die einzige. Beinahe
die ganze Welt teilt mein Vergehen, und Sünden gegen die Gesetze,
die ich verletzte, pflegt die Menschheit zu verzeihen. Auch deckt ein
dichter Schleier meine Schuld, weshalb die Rache um vieles gemildert
werden müßte. Sollten aber die Götter mit Recht gegen mich erzürnt
sein und mein Verbrechen rächend heimsuchen wollen, müßten sie
dann nicht ihre Blitze auf den schleudern, der meine Schuld
veranlaßte und teilte? Ich weiß nicht, was mich zur Übertretung
der heiligen Gesetze verführte, ob des Liebesgottes oder des
Geliebten Göttlichkeit; durch wen es auch geschehen ist, beide
hatten die größte Gewalt in Händen, mich auf die schmerzhafteste
Art zu quälen; dies war also nicht eine Folge der begangenen Schuld,
sondern ein eigener, selbständiger, überaus peinigender Schmerz.
Soll ich ihn aber dennoch als den verdienten Lohn meiner Schuld
betrachten, so würden die Götter gegen ihr gerechtes Urteil und
ihre gewohnte Handlungsweise verfahren. Sie würden die Strafe nicht
nach der Schuld abmessen; denn wer Jocastens Schuld und Strafe mit
meiner eigenen vergleicht, der muß bekennen, sie sei zu gelinde
bestraft und ich zu hart. ›Wie,‹ höre ich sagen, ›sie verlor
ein Königreich, die Kinder, den Gemahl und endlich das eigene Leben
und du nur den Geliebten allein?‹ Ja, aber dieser Geliebte war mir
alles, mit ihm verlor ich jede Art von Glückseligkeit, und was in
den Augen der Menschen für Glück gehalten wird, gewährt mir gerade
das Gegenteil. Alles, Gemahl, Reichtümer, Stand, Verwandte und
andere Dinge sind mir nur drückende Lasten und meinem Wunsch
entgegen. Hätte ich sie verloren wie meinen Geliebten, so wäre mir
zur Erreichung meiner Sehnsucht freie Bahn geblieben; ich hätte sie
betreten, und wenn mich auch ein Zufall vom Ziel zurückgedrängt
hätte, so standen tausend Wege offen, der Qual durch einen schnellen
Tod zu entgehen. So aber bestätigt es nur meine Behauptung, daß
alle Pein der andern nicht an meine heranreicht. [...] " (7.
Buch)
Eine eindrucksvolle Demonstration dafür, wie die Perspektive einen vom neutralen Standpunkt betrachteten Vorgang verzerren kann, und dafür, wie ein Bericht aus der Perspektive einer Frau ganz von der Perspektive des männlichen Autors geprägt sein kann.