06 Juni 2021

Boccaccio: Fiammetta

Das Schicksal der Griseldis hat Boccaccio ganz aus der Perspektive des Mannes berichtet.  Der unternimmt es, seine Frau so viel zu quälen, wie nur möglich, damit sie ihren Willen seinem total unterwirft, als ob er Gott wäre und gibt das als Prüfung aus. 

Das Schicksal der Fiametta schildert er durchweg aus der Perspektive der Frau. Diese sieht sich als größte Dulderin der Geschichte. Wie kommt sie dazu?

Prolog

[...] Es liegt mir nicht am Herzen, daß meine Rede zu den Männern gelange, vielmehr bleibe sie ihnen, soviel ich dazu vermag, gänzlich verborgen; denn so jammervoll hat sich an mir die Härte eines einzelnen erwiesen, daß ich, alle andere ihm ähnlich wähnend, eher höhnendes Lächeln als mitleidige Tränen von ihnen erwarte. Euch allein, die ich durch mich selbst als beweglich und für Unglück mitleidend kenne, bitte ich, mich zu lesen. [...]

Fiamettas Ausgangssituation (1. Buch)

Die freudenvollsten Umgebungen hatten mich auf Erden empfangen; Vergnügen war meine Nahrung, und als die zarte Kindheit verschwunden war und das liebliche Mädchenalter begann, lehrte eine ehrwürdige Meisterin mir alle die Sitten, die einer edlen Jungfrau angemessen sind. Und so, wie ich an Alter wuchs, wuchsen auch meine Reize, die vornehmsten Quellen meines Unglücks.

Ach! wie stolz schlug mir das Herz, so klein ich auch noch war, wenn ich meine Schönheit von so vielen preisen hörte! wie bemüht war ich, sie durch Sorgfalt und Kunst immer mehr zu erhöhen! Und als ich in ein reiferes Alter getreten war und die Natur mich wahrnehmen lehrte, wie heftig weibliche Schönheit die Jünglinge zu entflammen vermag, da bemerkte ich bald, daß mein Reiz – ach ein trauriges Geschenk für ein Herz, das ruhig und tugendhaft zu leben wünscht! – alle meine Gespielen und viele andere edle Männer immer mehr mit zärtlicher Glut entzündete.

Sie alle waren bemüht, durch ausdrucksvolle Blicke und Worte, in zahllosen Versuchen mir das Gefühl mitzuteilen, das sie verzehrte und das mich selbst in der Folge stärker als alle anderen zu entflammen und zu verzehren bestimmt war. Viele auch zeigten sich, die mit höchstem Eifer meine Hand zu erhalten strebten.

Doch da bald darauf derjenige unter ihnen, welcher mir in jeder Hinsicht am angemessensten war, mein Gemahl ward, so zerstreute sich mit der verlorenen Hoffnung die beschwerliche Schar der Liebhaber, und sie hörten auf, mich mit ihren verliebten Torheiten zu bestürmen.

Mit einem so würdigen Gemahl, wie billig, vollkommen zufrieden, lebte ich nun höchst glücklich, bis die sinnberaubende Liebe mit nie empfundenem Feuer mein jugendliches Gemüt erfüllte. Ach! damals gab es nichts in der Welt, was meinen Wunsch – ja den Wunsch irgend einer Frau – hätte reizen können, was mir nicht sogleich im vollen Maß gewährt worden wäre!

Mein junger Gemahl fand in mir sein einziges Gut, seine höchste Glückseligkeit, und so wie er von mir geliebt ward, liebte er mich auch wieder.

O! wie weit glücklicher als andere hätte ich mich preisen können, wenn das Gefühl solcher Liebe mir stets treu geblieben wäre! Ich war zufrieden, und mein Leben schien ein immerwährendes Fest, als das Glück, welches schnell die irdischen Dinge verkehrt und die mir geschenkten Güter selbst zu beneiden schien, auf einmal seine Hand von mir abzog und mit schlauer Überlegung, auf welche Art es meine Ruhe am besten vergiften könne, mich durch meine eigenen Augen den Weg ins Verderben finden ließ. Und gewiß, kräftiger hätte das Gift auf keine andere Weise wirken können als auf diese. [...]

Der "schreckliche Schicksalsschlag", der sie unverdient trifft

Mein Schicksal also wollte, daß ich glänzend und mit sorglosem Mut mein Haus verließ. Von mehreren begleitet, gelangte ich mit abgemessenen Schritten in den geheiligten Tempel, wo die an solchen Tagen üblichen, feierlichen Gebräuche bereits begonnen hatten. Mir aber hatten ein alter Gebrauch und mein Rang unter den andern Frauen eine sehr ausgezeichnete Stelle aufbewahrt, und sobald ich Platz genommen hatte, unterließ ich nicht, meiner Gewohnheit nach die Augen nach allen Seiten hin zu wenden und die vielen Männer und Frauen zu betrachten, welche in verschiedenen Gruppen den Tempel erfüllten.

Die heiligen Gebräuche huben an, und sobald man mich im Tempel wahrnahm, geschah es, wie ich schon gewohnt war, daß nicht allein die Männer, sondern auch die Frauen ihre Blicke bewundernd auf mich hefteten, nicht anders, als wäre eine Göttin sichtbar zu ihnen herabgestiegen. O! wie oft hatte ich bei mir selbst diesen Wahn belächelt, der mich jedoch sehr ergötzte und mich in meinen Gedanken wirklich zu einer Göttin erhob. Alle die Kreise von Jünglingen hörten nun auf, sich um andere zu drehen, und bildeten, dicht um mich versammelt, gleichsam einen Kranz, indes sie abwechselnd über meine Schönheit sprachen und mich fast einstimmig erhoben und rühmten. Und ich, indes meine Augen mit andern Gegenständen beschäftigt schienen, lauschte ihren Worten mit der süßesten Wollust und gönnte ihnen dann wohl, als wäre ich ihnen deshalb verpflichtet, einige günstigere Blicke. O! nicht einmal, sondern oft bemerkte ich dann, wie einer oder der andere sich deshalb mit leerer Hoffnung schmeichelte und gegen seine Gefährten voll Eitelkeit brüstete. So von vielen angestaunt, nur wenigen einen Blick gönnend und fest glaubend, daß meine Schönheit alles besiegte, nahte der Augenblick, wo ein fremder Reiz meiner selbst sich gänzlich bemeistern sollte.

Er erschien, der verderbliche, schmerzhafte Augenblick, der mir gewissen Tod oder ein unendlich qualvolles Leben erschaffen sollte, und von einem unbekannten Geist getrieben, erhob ich mit leichtem Anstand die Augen und überschaute die Menge der um mich versammelten Jünglinge mit festem und sicherm Blick.

Dicht in meiner Nähe zeigte sich mir an eine Marmorsäule gelehnt ein Jüngling, dessen Ansehen und Anstand, was bis dahin noch nie geschehen, meine Aufmerksamkeit unwiderstehlich an sich fesselte. Seine Gestalt – so urteilte ich schon damals, da mein Urteil noch nicht durch Liebe befangen war – hatte die schönste Form, seine Bewegungen zeigten die größte Anmut, Anstand und Kleidung Würde und Schicklichkeit. Die Zartheit seiner Wangen gab ein sprechendes Zeugnis seiner Jugend, und seine Blicke, mit denen er aus der ganzen Versammlung mich auszeichnete, waren ebenso zärtlich als verständig. Zwar stand es in meiner Gewalt, meine Augen von ihm wegzuwenden, aber keine Gewalt vermochte, wie ich mich auch immer bemühte, die schnell empfangenen Eindrücke aus meinem Herzen zu verdrängen und meinem Sinn eine andere Richtung zu geben. Das Bild seiner Schönheit war bereits tief in meine Seele gedrückt, mit geheimer Wollust schaute ich es an, und erfinderisch wußte ich mit Gründen die Empfindung all des Herrlichen, was mir in ihm erschien, zu rechtfertigen. Es entzückte mich, der Gegenstand seiner Blicke zu sein, doch war ich stets auf meiner Hut, sooft sein Auge mir begegnete. Aber einmal, als ich, ganz sorglos über die Gefahr, ihn betrachtete und meine Augen länger und fester als gewöhnlich auf den seinigen verweilten, da schien es mir, als läse ich in ihnen deutlich die Worte: ›O Gebieterin! Du allein bist meine Seligkeit!‹, und mein Entzücken war so groß, so überraschend, daß mit einem leisen Seufzer mein Herz die Antwort gab: ›Und du die meinige!‹ Doch schnell mich fassend und meiner selbst bewußt, drängte ich sie von der Lippe zurück. Doch was auch der Mund verschweigt, wird dennoch von dem Herzen verstanden, und hätte ich damals ausgesprochen, was ich im Innern verschlossen hielt, vielleicht daß ich jetzt noch frei wäre. So aber schwieg ich und verstattete meinen törichten Augen die größte Freiheit, sich an den Reizen zu sättigen, die sie bereits so sehr entzückt hatten.

Ach! hätten die Götter, die jedes Ereignis zu einem verständigen Zweck leiten, mir damals nicht allen Verstand geraubt, ich könnte jetzt noch mir selbst angehören! Doch ich verbannte alle Überlegung, ich folgte meinen Gelüsten und setzte so mein Gemüt in den Stand, leicht eine Beute der Liebe zu werden.

Und wie der Lichtstrahl eigenmächtig von einem Ort zum andern fliegt, drang ein Feuer aus seinen Augen, das mit dem feinsten Strahl die meinigen traf. Aber nicht die Augen allein; weiß ich es, durch welche geheimen Wege er plötzlich bis zum Herzen drang, daß dieses, erschreckt über die unvermutete Erscheinung des fremden Gefühls, alle Lebensgeister zu sich rief und ich äußerlich ganz blaß und fast ohne Leben und Wärme blieb?

Aber nicht lange, so entzündete eine schnelle Glut das Herz; alle Lebensgeister waren von der innern Flamme ergriffen. Die Blässe verschwand, eine brennende Röte trat auf meine Wangen, und ich seufzte still über die Quelle dieses Wechsels, den ich verwundernd wahrnahm. Von diesem Augenblick an hatte ich keinen andern Gedanken mehr als den, ihm allein zu gefallen.

Dies alles ward von ihm, der unbeweglich seinen Platz behielt, mit feinem, scharfem Blick beobachtet. Vielleicht schon erfahren im Reich der Liebe und mit den Waffen bekannt, welche die gewünschte Beute leicht erobern können, nahm er sogleich die Miene der frömmsten Demut und eines liebenden Verlangens an. Ach! welche Arglist war unter dieser Milde, dieser Unterwürfigkeit verborgen! Einmal aus seinem Herzen entwichen – so hat es mich der Erfolg gelehrt –, war die fromme Liebe nie wieder dahin zurückgekehrt und leuchtete nur mit betrügerischem Schein aus den Zügen seines Angesichts. [...]

Die Qual, mit der das Schicksal sie schlägt: Der Jüngling, den sie liebt, liebt eine andere. Und ihr Ruhm, dass sie mehr duldet als jede andere Frau der Geschichte (7. Buch)

Amor, der grausame Herr meiner Seele, quält mich um so mehr, je weiter er meine Hoffnungen entfliehen sieht, und facht mit einem Hauch die Flammen der Liebe zu neuer Glut an. Und das nie gestillte Verlangen wird immer ungestümer und peinigt wie mit Schlangenbissen das leidende Herz. Sicherlich hätte die Heftigkeit meiner Begierden mir in der Folge einen sichern Weg zu dem schon vordem so sehnlich gewünschten Tod eröffnet. Aber um der festen Hoffnung willen, auf der beabsichtigten Reise den Urheber meiner Qual wiederzusehen, habe ich mich bemüht, meine Schmerzen zwar nicht zu mildern, aber doch sie zu ertragen. Zu welchem Ende ich unter allen Mitteln nur ein einziges wirksam gefunden habe, nämlich: meine eigenen Leiden mit den Leiden anderer zu vergleichen. Aus dieser Quelle schöpfte ich mir zwei lindernde Tropfen. Erstens sah ich, daß ich mich in meinem Jammer weder als die einzige noch als die erste betrachten dürfe, wie schon die Amme mir tröstend vorstellte, zweitens beruhigte mich, daß, wenn ich die Leiden anderer in ihrem ganzen Umfange mit meinen verglich, meine sie alle übertreffen. Ich rechne es mir zu keinem geringen Ruhm, sagen zu können, daß ich unter allen Lebenden die größte Dulderin bin. Und mit dem Bewußtsein dieses Ruhmes, von jedem Eingeweihten als ein Bild des größten Jammers geflohen werden zu müssen (auch von mir selbst, wenn ich könnte), habe ich bis heute die melancholischen Tage in Betrachtungen hingebracht. Ich gedachte der Tochter des Inachos, die, ein zartes schönes Jungfräulein, wie ich einst eines war, passend mit mir verglichen werden kann. Ich malte mir ihre Glückseligkeit aus, als sie sich vom Jupiter geliebt sah und ein Glück erfuhr, das der Frau für das Höchste gelten muß. Ich dachte daran, wie sie in eine Kuh verwandelt auf Junos Bitten vom Argus bewacht ward, und fühlte in ihrer Seele die große, unaussprechliche Angst und Bedrängnis, die sie dabei gelitten. Auch würde ich gewiß ihre Schmerzen weit über die meinen stellen, wenn nicht das Auge des liebenden Gottes unausgesetzt schützend über ihr gewacht hätte. – Ach! wenn mein Geliebter meine Trauer geteilt oder nur Mitleid mit mir gehabt hätte, welcher Schmerz wäre mir dann zu groß gewesen? Und überdies, wurden nicht alle ihre vergangenen Leiden durch das Ende verherrlicht und leicht? Argus war tot, und trotz ihrer Körperhaftigkeit wurde sie mit Hilfe des Gottes leicht nach Ägypten getragen, wo ihr die vorige Gestalt zurückgegeben und sie als Gemahlin des Osiris in die glücklichste Königin verwandelt ward. Ja! dürfte ich hoffen, meinen Geliebten, wenn auch erst im Alter, wiederzusehen, so wollte ich meine Leiden nicht mit den Leiden dieser Frau vergleichen. Aber Gott allein weiß, ob dies je geschehen wird, oder ob diese Hoffnung nur ein leerer Selbstbetrug ist.

Hierauf stand die Leidenschaft der unglücklichen Byblis vor meinen Augen; ich sah, wie sie allen irdischen Gütern entsagte und dem unerbittlichen Caunus folgte. Neben ihr gedachte ich der verbrecherischen Myrrha, die nach der unseligen Befriedigung ihrer Leidenschaft, den Tod fliehend, mit dem ihr Vater sie bedrohte, doch den jammervollsten Untergang fand. Auch der beklagenswerten Canace, die sich selbst den Tod geben mußte, nachdem sie die unglückliche Frucht einer unseligen Liebe geboren hatte. Wenn ich so die Qualen einer jeden nachfühlte, so begriff ich wohl, wie unendlich sie gelitten hatten, mochten ihre Leidenschaften auch verabscheuungswürdig genug sein. Das aber ist der Unterschied zwischen ihrem und meinem Schicksal, daß ihre Leiden, so groß sie waren, doch in einem kurzen Zeitraum zu Ende gingen.

Myrrha ward von den mitleidigen Göttern unverzüglich in einen Baum verwandelt, der ihren Namen führt, und wenn sie auch als Baum noch Tränen vergießt wie damals, als sie ihre erste Gestalt verlor, so empfindet sie doch seitdem keinen Schmerz mehr. So nahte sich ihr mit der Ursache ihres Leidens auch zugleich das Ende desselben. Byblis setzte ihrem Leben durch den Strick ein Ende, aber die Nymphen verwandelten sie huldreich in eine Quelle, die Byblis-Quelle. Und dies geschah erst, als sie Gewißheit hatte, daß ihr Geliebter ihr durchaus kein Gehör geben würde. Darf ich nun nicht meine Qual für weit größer erachten als das Leiden dieser Frauen, wenn ich ihre längere Dauer in Erwägung ziehe?

Nun erregte das Schicksal des unglücklichen Pyramus und seiner Thisbe meine Teilnahme, wie sie so lange Zeit mit aller Qual der unbefriedigten Sehnsucht sich treu geliebt hatten und in ihr Verderben gingen, als sie befriedigt werden sollte. Ach! wie fühlte ich so lebhaft, welch ein bitterer Schmerz den armen Jüngling in jener schweigenden Nacht durchdrang, als er an dem klaren Brunnen das Gewand seiner Thisbe von dem wilden Tier ganz zerrissen und blutig fand! Wie fest mußte er nach solchen Zeichen an ihr schreckliches Ende glauben! Konnte er seinem Schmerz tieferen Ausdruck verleihen als durch den freiwilligen Tod? Ach! und was litt das Herz der unglückseligen Thisbe, als sie nun ihren Geliebten blutend vor sich sah und kaum noch einen Strahl von Leben in seiner Brust zucken fühlte. Ich empfand ihren Schmerz und weinte ihre Tränen, die kaum weniger bitter geflossen sein mögen als meine. Aber ihr Leid war so kurz als heftig, und ihre Trauer hörte da auf, wo sie begann. O! ihr seligen Seelen, wenn ihr euch in jener Welt so liebend begegnet wie in dieser, welches Leid darf sich dann der Wollust des ewigen Zusammenseins vergleichen?

Jetzt trat das Bild der verlassenen Dido mit größerer Gewalt und Lebhaftigkeit als irgendein anderes vor meine Seele, denn ihr Schmerz ist ja dem meinen ähnlich und verwandt. Sie, die Erbauerin Karthagos, gibt ihren Völkern im höchsten Glanz ihrer Herrlichkeit im Tempel der Juno Gesetze, sie nimmt den Fremdling Äneas, der Schiffbruch gelitten hat, wohlwollend auf und unterwirft, von seiner Schönheit ergriffen, sich selbst und alles, was sie besitzt, der freien Willkür des trojanischen Heerführers. Er aber reist ab und verläßt sie, nachdem er die königlichen Freuden nach Gefallen genossen und sie von Tag zu Tag mehr mit seiner Liebe entzündet hat. O! wenn ich mir denke, wie sie die schwellenden Segel ihres geliebten Flüchtlings auf offner See erblickt, wie über alle Maßen elend erscheint sie mir da! Denke ich aber an ihr Ende, so halte ich sie für weniger beklagenswert. Gewiß empfand ich bei Panfilos Trennung einen ebenso heftigen Schmerz als Dido bei Äneas' Flucht, aber mir war die Erlösung durch den schnellen Tod versagt, der sie aller ihrer Leiden enthob.

Es erschien mir auch die trauernde Hero in ihrem tiefen Jammer. Mir war, als sähe ich sie, wie sie von ihrem hohen Turm an das Meeresufer herabsteigt, um den kühnen Leander in ihren Armen aufzunehmen, und wie sie nun mit dem Schrei des heftigsten Jammers den toten Geliebten erblickt, der von den Wellen ans Ufer gespült nackt auf dem Meeresstrande liegt. Mit ihrem Gewand trocknet sie von seinem bleichen Gesicht das salzige Meerwasser und badet ihn mit ihren Tränen. Ach! wie erfüllt mich dieses Bild mit so unendlichem Mitleid! Ja! ihr Schicksal rührte mich tiefer als das aller übrigen Frauen, und sooft ich meines eigenen Schmerzes auf Augenblicke vergaß, habe ich den ihren beweint. Doch ich erkannte, daß sie zwei Mittel besäße, Trost zu finden: sterben oder den Toten vergessen. Eines von diesen ergreifen hieß ihren Schmerz endigen. Ein unwiederbringlicher, ganz hoffnungsloser Verlust kann das Herz zwar heftig, aber nicht lange betrüben.

Doch die Götter verhüten, daß mir solches je widerfahre! Für mich bliebe in solchem Falle kein anderer Rat als sterben. Mögen die Götter das Leben meines Geliebten so sehr verlängern, als er selbst es wünscht! Aber solange er unter den Lebenden ist, so lange kann meine Hoffnung nicht sterben. Sehe ich nicht alles Irdische in ewiger Bewegung und Abwechslung? Und muß dies nicht in mir den Glauben wachhalten, daß er einmal zu mir zurückkehren wird, wie er ehemals bei mir war? Gleichwohl breitet diese unerfüllte Hoffnung über mein ganzes Leben die schwerste Trauer und Unruhe, und so kann ich wohl behaupten, daß ich mehr leide als alle andern. Ich habe französische Romane gelesen, in denen, wenn man ihnen Glauben beimessen darf, Tristan und Isolde als das zärtlichste und treueste Liebespaar dargestellt sind. Sie haben, so liest man da, ihre jungen Jahre in Freude und im Schmerz der Sehnsucht hingebracht, und damit sie, die sich so innig liebten, vereinigt würden, haben sie freiwillig die irdischen Freuden verlassen, nicht ohne großen Schmerz, wie es scheint. Freilich kann man verstehen, daß sie diese Welt mit großem Weh verlassen mußten, wenn sie glaubten, daß sie ihre Freuden im Jenseits nicht wiederfinden würden. Hatten sie aber im Gegenteil die Überzeugung, daß sie ihnen dort ebenso blühen würden wie hier, so muß das Sterben freudevoll gewesen sein und der Tod leicht, der vielen hart und voller Angst, mir nur ein Freund zu sein scheint. Und wie kann jemand behaupten, daß etwas schmerzhaft sei, was er nie erfahren hat? Gewiß niemand; wie, daß etwas schwer sei, was nur einmal und in solcher Schnelligkeit geschieht?

So endigten Isolde und Tristan in einem Augenblick ihre Freuden und ihre Schmerzen. Mir aber ist eine lange Zeit in Leiden hingegangen, die die genossenen Freuden ohne Zweifel überwiegen. Zu der Reihe der unglücklich Liebenden gesellt sich auch Phädra, die durch ihre mißleitete Wut Ursache an dem schrecklichen Tod dessen wurde, den sie mehr als sich selbst liebte. Was in ihr vorging, weiß ich nicht, aber das weiß ich, daß mich von solchem Verbrechen nichts anders als ein schneller Tod hätte reinigen können. Doch da sie, wie man weiß, noch, das Leben ertrug, so hatte sie gewiß den Geliebten vergessen, wie man die Toten, die unwiederbringlich sind, zu vergessen pflegt. Ähnlich wie ihr erging es der Laodemia, Deiphile, Argia, Evadne, der Deianira und mehreren anderen, die entweder durch den Tod oder durch ein unvermeidliches Vergessen von ihrem tiefen Leide geheilt wurden. Und also blieb ich einzig in meinem Schmerz. Was kann die Flamme oder der glühende Stahl oder das geschmolzene Metall schaden, wenn der Finger es schnell berührt und ebensoschnell wieder verläßt? Sehr viel gewiß; aber nichts im Vergleich damit, wenn der ganze Körper lange Zeit in der Glut verweilen muß. Alle, deren Leiden ich eben geschildert, berührte der Schmerz nur flüchtig wie den Finger am Metall, ich aber bin ihm ganz und gar ausgesetzt.

Aber nicht allein die Qualen der Liebenden, auch andere Wunden, die das Schicksal geschlagen, schienen mir der Betrachtung und der Tränen wert; wenn es wahr ist, daß glücklich sein nur eine Abstufung des höchsten Unglücks ist. Unter die vom Schicksal hart Verfolgten gehören vor allem Jocaste, Hecuba, Sophonisbe, Cornelia und Cleopatra. O! von welchem Elend, fähig auch den stärksten Mut zu erschüttern, finden wir Jocasten ihr Leben hindurch verfolgt! Als zarte Jungfrau ward sie mit Laius, König von Theben, verheiratet und mußte die erste Frucht ihres Leibes den wilden Tieren zur Speise aussetzen, um von dem unglücklichen Vater abzuwenden, was die Gestirne ihm doch unabwendbar bereitet hatten. O welch unendlichen Schmerz muß sie als Mutter und Königin dabei gefühlt haben! Durch die Vollstrecker ihres Willens von dem Tode ihres unglücklichen Kindes überzeugt, ward ihr Gemahl nach Verlauf der Zeit von ebendem, den sie geboren hatte, elendiglich getötet; sie selbst aber ward die Gattin des unbekannten Sohnes und gebar ihm vier Kinder. Und so sah sie sich mit einem Male als Gattin und Mutter eines Vatermörders und erkannte in ihrem Gemahl ihren Sohn, nachdem er sich selbst der Augen und des Königreichs beraubt und damit seine Schuld kundgetan hatte.

Wer sich in ihre Lage versetzen kann, der wird fühlen, wie unendlich sie, die, schon dem Alter nahe, der Ruhe und des Seelenfriedens mehr bedurfte, bei solchem Geschick leiden mußte. Aber die noch nicht mit ihr versöhnten Götter bereiteten ihr der Qualen noch mehr. Nach einem zwischen ihren Söhnen abgeschlossenen Vertrag sollten sie sich in die Zeit der Regierung teilen. Was geschah in Wirklichkeit? Sie wurde von dem treulosen Bruder in die Stadt eingeschlossen, ein großer Teil Griechenlands unter sieben Könige verteilt, nach vielen Schlachten und Feuersbrünsten töteten ihre beiden Söhne einander, die Regierung fiel einem Fremden anheim, und ihr Sohn und Gemahl wurde verjagt. Sie sah die alten Mauern ihrer Erbstadt fallen, die einst von Amphion durch den Schall seiner Laute erbaut waren. Ihr Reich wurde zerstört, und als sie selbst ihr Leben endigte, ließ sie ihre Töchter einem vielleicht schimpflichen Leben als Beute zurück. Sagt, was konnten Götter, Welt und Schicksal mehr gegen diese Unselige tun? Alle Qualen waren erschöpft, und ich glaube, daß selbst in der Hölle nicht größeres Elend zu finden ist. Sie hat jeden Schmerz und auch jede Schuld erfahren. Und keiner wird sein, der sagt, daß meine Leiden diesen verglichen werden könnten; auch ich nicht, wenn mein Schmerz nicht der Schmerz der Liebe wäre.

Aber wer darf leugnen, daß Jocaste, wenn sie wußte, daß ihr Haus und ihr Gemahl der Götter Zorn verdienten, nicht alles für wohlverdient und gerecht erkennen mußte, was ihr begegnete? Gewiß mußte sie es, wenn sie weise war. Aber sie war töricht, und da ihr diese Erkenntnis mangelte, so fühlte sie auch ihr Unglück weniger, und ihr Schmerz war geringer. Wurde ihr aber die Gerechtigkeit ihres Schicksals bewußt, so mußte sie es ohne Unmut und gelassen ertragen.

Ich aber habe nie etwas verbrochen, was den gerechten Zorn der Götter hätte auf mich laden können oder müssen. Immer habe ich die Götter geehrt und durch Gebete und Opfer nach ihrer Gunst gestrebt, auch nie sie verachtet, wie einst die Thebaner getan. ›Aber‹, höre ich eine Stimme sagen, ›wie darfst du behaupten, daß du nicht jede Strafe verdient und viel verschuldet hast? Hast du nicht die heiligsten Gesetze übertreten und mit dem verbrecherischen Jüngling die eheliche Treue verletzt?‹

Ja, ich tat es; aber bedenkt, daß dies die einzige Schuld meines ganzen Lebens ist, durch die ich unmöglich so große Strafe verdienen kann. Erwägt, daß ich als zarte Jungfrau der Gewalt nicht widerstehen konnte, durch die selbst Götter und Heroen besiegt wurden. Auch bin ich nicht die erste, nicht die letzte und nicht die einzige. Beinahe die ganze Welt teilt mein Vergehen, und Sünden gegen die Gesetze, die ich verletzte, pflegt die Menschheit zu verzeihen. Auch deckt ein dichter Schleier meine Schuld, weshalb die Rache um vieles gemildert werden müßte. Sollten aber die Götter mit Recht gegen mich erzürnt sein und mein Verbrechen rächend heimsuchen wollen, müßten sie dann nicht ihre Blitze auf den schleudern, der meine Schuld veranlaßte und teilte? Ich weiß nicht, was mich zur Übertretung der heiligen Gesetze verführte, ob des Liebesgottes oder des Geliebten Göttlichkeit; durch wen es auch geschehen ist, beide hatten die größte Gewalt in Händen, mich auf die schmerzhafteste Art zu quälen; dies war also nicht eine Folge der begangenen Schuld, sondern ein eigener, selbständiger, überaus peinigender Schmerz. Soll ich ihn aber dennoch als den verdienten Lohn meiner Schuld betrachten, so würden die Götter gegen ihr gerechtes Urteil und ihre gewohnte Handlungsweise verfahren. Sie würden die Strafe nicht nach der Schuld abmessen; denn wer Jocastens Schuld und Strafe mit meiner eigenen vergleicht, der muß bekennen, sie sei zu gelinde bestraft und ich zu hart. ›Wie,‹ höre ich sagen, ›sie verlor ein Königreich, die Kinder, den Gemahl und endlich das eigene Leben und du nur den Geliebten allein?‹ Ja, aber dieser Geliebte war mir alles, mit ihm verlor ich jede Art von Glückseligkeit, und was in den Augen der Menschen für Glück gehalten wird, gewährt mir gerade das Gegenteil. Alles, Gemahl, Reichtümer, Stand, Verwandte und andere Dinge sind mir nur drückende Lasten und meinem Wunsch entgegen. Hätte ich sie verloren wie meinen Geliebten, so wäre mir zur Erreichung meiner Sehnsucht freie Bahn geblieben; ich hätte sie betreten, und wenn mich auch ein Zufall vom Ziel zurückgedrängt hätte, so standen tausend Wege offen, der Qual durch einen schnellen Tod zu entgehen. So aber bestätigt es nur meine Behauptung, daß alle Pein der andern nicht an meine heranreicht. [...] " (7. Buch)

Eine eindrucksvolle Demonstration dafür, wie die Perspektive einen vom neutralen Standpunkt betrachteten Vorgang verzerren kann, und dafür, wie ein Bericht aus der Perspektive einer Frau ganz von der Perspektive des männlichen Autors geprägt sein kann. 


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