08 Juni 2021

Vischer: Auch Einer - In Norwegen

Zum größeren Zusammenhang sieh: Herr Rau: Lehrerzimmer Auch Einer (1879) – Teil 3

"Norwegen. Christiania. Schlimmes kann doch auch Gutes tragen, zum Beispiel Sorge vor Emphysem ein freies Jahr. Möchte schon lang Italien sehen, aber auch Norwegen. Gut, gut, Herr Doktor, Sie wollen mich nach Italien, aber da ist Juli und August zu heiß, dagegen in Norwegen die Zeit der hellen Nächte, also zuerst Norden, dann Süden! Durchgesetzt und – einmal ein Glück – ein Stellvertreter geschickt zur Hand, Urlaub herausgeschlagen, fort, fort!

Wie freier schon die Brust, seit ich das Meer wieder gesehen! Eigentlich zum erstenmal; denn damals auf Sylt und Föhr habe ich es noch nicht so recht verstanden, brachte noch nicht Ernst genug. Zuerst groß, unendlich in Stille. Dann mäßig bewegt, also alles sehen dürfen: die Großheit der Horizontale, Helldunkel, Farbe, Durchsichtigkeit, Spiel der Reflexe und der herrlichen, schwanenhalsigen Bogenlinien! Die Seele jauchzte mir. O, da gibt es viel Gott! [...]


O Rappe, o Rappe, dein Sattel ist leer,
Sag an, was bringst du für traurige Mär'?
    Merk auf, Herr Olaf!

›Dein Liebster ist hin, daß Gott sich erbarm',
Ihn wieget die Nixe im schneeweißen Arm!‹
    Merk auf, Herr Olaf!

›Bei den Fischen wohnt er im tiefen Meer,
Die Sonne siehet er nimmermehr.‹
    Merk auf, Herr Olaf!«

Wer könnte die Töne dieses Gesangs beschreiben! Schweres Dunkel, sich verdichtend, anschwellend, war ihre Grundstimmung. Bei den Lockworten der Nixe gingen sie in eine schmelzende Süßigkeit über, wurden heißer und heißer, man meinte den wollüstigen Jubel zu hören, der nach den gezogenen Klagelauten aus den Wirbeln der Nachtigallstimme auflodert. Sie sanken in ein tiefes Weh gegen das Ende, aber wirklich am Ende, beim letzten Verse stieg wie ein Geist aus den gesungenen Tränen des Mitleids ein Etwas hervor und mischte sich unsagbar mit ihnen, – ein Etwas – Triumph und Schadenfreude wären ein plumper Ausdruck; auch wenn ich es umschreiben wollte: »dahin kann ein Weib einen Mann bringen,« es wäre nackt und roh übersetzt, o, es war unheimlich und doch unwiderstehlich! – Die letzten Töne verklangen im Echo der Felsen, und jetzt sah sie wieder zurück, diesmal auf mich. Wer kann sagen, was über ihr Angesicht zuckte! Ein Schatten von Ernst, dann wieder Lust, Reiz, Wonne, Mutwille, Witzgeist, Spott, Uebermut, helles Siegesfrohlocken, das beim Himmel noch etwas andres besagte, als: »so kann ich singen!« Aber wer hätte das triplex aes circa pectus bewahrt! Ja, so konnte sie singen – und? – [...]


Bergen. Alter Königssitz; jetzt still trotz Handelsverkehr. Eingemietet in einer »Stube« der alten Hansekaufleute. Getäfelt, behaglich. Deutsche Erinnerungen. Tüchtige alte Stadt; bürgerlich, angenehm philisteriös; Holzhäuser, mit weißer Oelfarbe angestrichen; Almendingsplätze, zum Teil anziehend langweilig mit Gras bewachsen. Festung darüber, hoch auf den mastenreichen Hafen herabschauend. Will arbeiten, einmal wieder etwas lesen, nur selten hingehen. Es regnet viel, mir jetzt recht. Goldrun auf der Herreise lang still, dann voll Spott, höhnte auf Registraturen, Amtsstuben, Sitzen, Verdorren. – Jetzt still und zahm.

Man hat die griechischen Studien wieder aufgenommen; Phädon, dann soll es an den Oedipus König. Ich muß doch teilnehmen; man lädt mich sehr ein.

*

Stille Tage. Gesammelte Abende. Dieser Dyring ist doch dem wilden Wesen ein Halt. Wie sanft ist sie, wenn sie an seinen Blicken hängt, auf seine Worte lauscht! Seine hohe Stirn, sein tiefes Auge breitet Meeresstille aus. Arnhelm in einer wahren Andacht, oft wie verzückt. Das Griechische fließt wie Honig des Hymettus von ihren Lippen; wie ertönt da das klangvolle ος der Endungen!

*

Merkwürdig, wie der Tod Leben entzünden kann! Ueber dem Phädon, dem sterbenden Sokrates gibt's viel zu denken an ihn. Der Tod ist pures Nichts, sage ich; der Tod ist, wobei man überhaupt nichts denken kann. Entweder ich lebe, dann bin ich nicht tot, oder ich bin tot und dann lebt keiner, der es bedauerte, daß er tot ist. Man hat Angst davor, sich einmal tot vorzufinden, aber der Tote sucht und sieht sich ja nicht. Daher ist es purer Unsinn, an den Tod zu denken. Wenn nur die Phantasie nicht wäre, die uns zwingen will, uns vorzustellen als im Tode lebend und uns tot wissend! Eine Witwe hat mir erzählt, sie habe den plötzlichen Tod des Vaters dem kleinen Töchterchen einen Tag lang verheimlicht, dann aber das nicht länger gekonnt. Das Kind schweigt eine Weile und sagt dann: aber da wird der Vater traurig sein, daß er tot ist! – Genau wie die alten Völker: Schattenleben im Scheol, im Hades; – tot und im Tod so viel lebend, um zu wissen, wie unangenehm der Tod sei. – Was ist nun das Uebel? Es braucht Denken, viel Denken, diese Phantasie fernzuhalten, als stäken wir lebend im Tod, und zu begreifen, daß man an den Tod schlechthin nicht denken soll. So kommt es, daß man vor lauter Denken, warum man an den Tod nicht denken soll, zuviel an den Tod denkt. [...]

Drontheim. Da wär' ich! Frei! Weit weg! Wie am Ende der Welt! – Wild auf wilden Wegen weiter, immer weiter. – Frei? Wenn nur die Träume nicht wären – auch ins Wachen herein! Diese beständige Bangigkeit, dies Weh in der Herzgrube! Ich fürchte keinen Menschen und bin doch so atemlos zusammengeschnürt – Träume voll Todesangst – ich bin vergeistert, wohne im Reich der Dämonen. * Hätte mich das Ungetüm zerrissen bei Jostedalsbrä, mir wäre wohl besser. Die Bärenjagd mitmachen, – ich hoffte eine Kraftkur für die arme Seele. Im ewigen Schnee, am Eis der Gletscher: Ausstürmen, Kühlung! Will es ohne Schuß wagen, mit angepflanztem Haubajonett. Bär steht, Stoß fehlt. Die Rotjacke hat mich mit wohlgezieltem Schusse gerettet. Unkraut verdirbt nicht. Aber Tatzenhieb über die Schulter. Gut, daß der Doktor die Jagd mitmachte, der Schwede Erik hat mich in den Gard bringen lassen, verbunden. Wundfieber. Wilde Phantasien: Goldrun, goldglänzende Bärin, haut mich über die Brust, schleppt mich hinter den Ovsthusfoß, umarmt mich dort als Meerfräulein, verwandelt sich plötzlich in den Wolf Fenrir. – Am andern Tage wieder hell, doch schwach. Der Doktor gar guter, gesund nüchterner junger Mann. Sitzt an meinem Lager, der Ton seiner Stimme, der Blick seiner Augen so ehrlich und beruhigend; erzählt: hat sich als Arzt in Bergen nieder gelassen, holt bald seine Braut von Schottland herüber. Wird nicht müde, sie zu rühmen, wie reiches Seelenleben, und dabei so sanft, gut, brav; Vater ein Schotte, Mutter auf Perugia; heißt Cordelia, »und,« sagt er, »ist auch Cordelia«. Malt sich rührend sein nahes Glück auf, – wie die Zimmer einrichten – alles. Mir tönt das wie ferne Glocken, wie alte Sage von der ins Meer versunkenen Stadt. Einfaches Menschenglück! – Für mich nie! * Geheilt weitergewandert. Ueber wüste Hochebenen, todeseinsam. Oft hungernd fortgeschleppt, bis ein ärmlicher Säter mich aufnahm. Ein Schneehuhn flattert auf, ein Fuchs schleicht, keine Menschenseele. An Bergseen schwerträumend. Hinab? Unter? Nein, weiter! Ich sehe Gestalten im Geist über diese Wüsten schreiten, kriegerische, abgemagert, zerlumpt, ungebeugt, ein jugendlich Haupt ihr Führer. König Sverrir, der du mit deinen kühnen Banden einst hier ringend mit Kälte, Schnee, Hunger umhergeirrt, Kriegern in Birkenrinde gekleidet, oft der Verzweiflung nahe, sich fragend, ob sie sich nicht lieber hoch von den Klippen stürzen oder gegenseitig töten sollten, – hast ausgehalten mit deiner Schar, ein halb Jahrhundert gekämpft gegen Priesterherrschaft, drunten im Sognefjord in blutiger Seeschlacht gesiegt, – o, so etwas! wer mir das brächte! – Aber will aushalten! Will mich nicht schämen vor euch Heldengeistern. Bin Mann. [...]

Als sie mich wegschüttelte, als ich den Kopf an den Schrank schlug, da fiel mir Siegfried ein: »Daz im sin Houbet lute an eime Schamel erklank«. Er hat dann das wilde Weib bezwungen, dafür hat sie ihn morden lassen. – Bin ich fertig mit ihr? Daß aber doch auch das Denken nichts, gar nichts helfen will! Besinne mich auf alle Weisheitssprüche – was ich nur aufgraben kann, aus dem gefrornen Gedächtnis heraushauen – Sprüche Salomonis, Weisheit der Brahmanen, Sakja-Munis herrliche Arzneien gegen die Leidenschaft, Konfutses Weisheit, Sieben Weise Griechenlands, Plato – ach, über dem fällt mir der sanfte Gang in Westfjorddalen wieder ein, unsre Plato-Abende in Bergen, jede Stunde, wo sie gut war und vernünftig – – fort, weiter; die Stoiker, Markus Aurelius, der reine Kühlbrunnen seines Εἰς ἑαυτὸν –, Goldworte des Neuen Testaments –: da taute aus Knabenzeit wieder in mir auf: »Denen, die den Herrn lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen,« – die Augen wurden mir feucht –; mein Spinoza – Kant – der fiel mir nach langer Zeit wieder ein, sein ehrliches Schriftchen: »Von der Macht des Gemütes, durch den bloßen Vorsatz seiner kranken Gefühle Meister zu werden«, – u. s. w. u. s. w. u. s. w. – Und alles umsonst! Die Leidenschaft ist eine profunde Sophistin. Was sagt sie? Sie sagt: alles ganz wahr und schön, mag auf alle Fälle passen, nur auf diesen nicht; der ist von absoluter Besonderheit. Das Diese kämpft gegen die Wahrheit und Macht des Allgemeinen, will sich in seiner zäh gebackenen Dichtigkeit nicht von ihm perforieren lassen. Ja die Diesheit, das ist etwas gar Dunkles, Schweres, ein großes Geheimnis. [...]

Mein Zentrum ist außer mir, heißt Goldrun, läuft um, wo es – wo sie mag, mißhandelt mich, entehrt mich. Ich bin nicht mehr Ich. * Dämonisch ist das Weib, dessen Reiz noch fortwirkt, während man sie schon verachtet – Eine Definition unter andern, es gibt noch mehrere. * Oft war sie zwischen Herrschsucht, Siegeshohn ganz untertänig, mehr als recht. Der Hochmut und der Sklavensinn, Die sind in einer Schublad' drin. [...]

        Jetzt schnaube nur, Dampf, und brause! Jetzt rolle nur, Rad, und sause! Es geht nach Hause, nach Hause! Du kannst nicht jagen, o Wagen, Wie meine Pulse mir schlagen! Zur Geliebten sollst du mich tragen! Vorüber, ihr ragenden Stangen! Verschwindet, ihr Meilen, ihr langen! Wer ahnt mein Verlangen und Bangen! Auf den Bänken, wie sie sich dehnen! Wie sie schwatzen und gaffen und gähnen! Es ist nichts, wonach sie sich sehnen. Dort raset der Sturm durch die Tannen, Zum Dampfe noch möcht' ich ihn spannen, Daß er rascher mich reiße von dannen! Hinweg aus dem plappernden Schwarme, O, hin an die Brust, an die warme, In die offnen, die liebenden Arme! * Lekanger am Sognefjord. Getroffen. – Sjöstrand eine Lustaue, als wäre man in Italien, Fruchtgarten an Fruchtgarten. Vögel girren und schlagen, Eichen und Eschen flüstern, Bäche rieseln, groß brandet die Woge. Aber welche Berge, welche Schneehäupter ragen herüber wie Ewigkeit in den Moment der Wonne! Ja hier, hier! Gönne mir mein Glück in deinem heiligen Hage, deiner alten Friedens- und Opferstätte, du Jugendgott mit den blühenden Wangen, gönne mir's, Baldur! Hast's auch Frithjof nicht mißgönnt, als er herübersteuerte von Framnäs. des Vaters Haus, auf seinem Schiff Ellidi, und sie besuchte, die Gespielin seiner Kindheit, die holde Ingeborg, ihm verweigert von den stolzen Brüdern Helgi und Halfdan und verwahrt in deinem Heiligtum! 

Selige Tage, nur Tage, denn noch scheint die Mitternachtssonne unsern Entzückungen. [...]

Diese Nacht, wie ich so die Schlummernde, Hingegossene beschaute, warum kam denn plötzlich ein Grauen über mich? Ich bin doch so sehr im Vollglück. Und warum beim Anblick von Dyrings Bild, das sie als Medaillon am Busen trägt? Er war doch so eine platonische Natur, so ernst, so edel! * Warum wächst denn dies Grauen und muß mir einfallen, wie Faust in der Helena, die ihm der Teufel zuführt, ein Gerippe umarmt? * Habe den griechischen Einladungsbrief wieder gelesen. Wo war meine Nase? Zur Lust locken hart am Grabesrande des väterlichen Freundes! – Und sollte er, er sterbend sie an mich –, ist's glaublich, wenn ich mich gewisser Blicke – doch nein, diese Mißgeburt stoße aus, mein krankes Hirn! – Aber der Brief! Ein Geflick aus Lappen der Sapphobruchstücke! – * Mit ihrem Griechisch ist es auch so weit nicht her, als ich meinte. Dyring und Arnhelm haben ihr immer geschickt nachgeholfen. [...]

Ich meine immer, ich müsse ihr recht fürchterliche Predigten halten und dafür solle sie mich recht küssen. Vereinigter, gleichzeitiger Kußregen und Ohrfeigenregen – so steht's hier ums Wetter, dies wäre meine Losung. [...]

Du reizend Ungeheuer,     

Neig her den schönen Leib! 

Reich mir den Kelch voll Feuer,     

Du wunderbares Weib! 

Willst du mich küssen, drücken,     

Werd' ich mich nicht entziehn, 

Spür' ich in meinem Rücken     

Den Dolch auch immerhin. 

Wie salzlos wär' die Liebe,     

Wie matt ihr Himmelsgold, 

Wenn sie aus einem Triebe     

Allein bestehen sollt'! 

Da ist man erst gerühret,     

Das ist der rechte Spaß, 

Wenn Haß die Liebe schüret     

Und Liebe schürt den Haß. 

In unsrem Liebesorden     

Mag man das Schlichte nicht, 

Da möchte man sich morden,     

Wenn man sich heiß umflicht. 

Sag, welches Erdgeists Laune     

Hat dich so stolz gebaut? 

Mir graut, indem ich staune,     I

ch staune, wie mir graut. 

Sag, welcher wilde Dichter     

Hat dich, o Weib, erdacht? 

In dir die Himmelslichter     

Gemischt mit Hadesnacht? 

Du winkst mir in den Wagen,     

Es ist schon eingespannt, 

Zwei Rappen uns wohl tragen –     

Du weißt, in welches Land. 

Da bin ich schon zur Stelle,     

Die Geißel schwinge frei! 

Nun im Galopp zur Hölle!     

Hurra, ich bin dabei! 

Soll ich's ihr zum Lesen geben? Entsetzlich! Unmöglich! Und doch! – »So war ich mit ihm.« Mit dem Platolehrer! – Sind mit dem Knaben Arnhelm zwei gleichzeitig, drei so gut als gleichzeitig! Denn daß sie mit dem jungen Schöngeist auch »so war«, wie könnt' ich noch zweifeln! – Und hingesagt hat sie's leichtweg, als verstände sich's nur so von selbst!"

(Vischer: Auch Einer Kapitel 18)



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