10 Juli 2021

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

 In diesem Blog versuche ich, Leseerlebnisse für mich festzuhalten und für andere nachvollziehbar zu machen, meist nicht durch gedankliche Aufschlüsselung, sondern indem ich Passagen, die mir beim Lesen wichtig erschienen, festhalte.

Der Gedanke dahinter ist, dass ich viele Werke nicht mehrmals werde lesen können, dass ich aber einzelnes daraus mehrmals lesen können will. 

Im Fall von Marcel Proust sehe ich es inzwischen anders. Ich benutze die Reflexion anderer, um festzuhalten, weshalb ich keinen Versuch gemacht habe (und auf absehbare Zeit auch nicht machen werde),  in sein Werk einzudringen. 

Dazu zunächst Arno Widman, der ein Zitat Walter Benjamins anführt:

In Prousts Welt von Arno Widman, FR 10.7.21

"[...] Walter Benjamin schrieb 1929: „Das überlaute und über alle Begriffe hohle Geschwätz, das uns aus Prousts Romanen entgegenkommt, ist das Dröhnen, mit welchem die Gesellschaft in den Abgrund [dieser Einsamkeit] hinabstürzt.“ [...]

Das Geschwätz ist einerseits Ausdruck dieser Einsamkeit wie auch die die Welt vernichtende Kraft, das schwarze Loch, das alles, was ist, anzieht und vernichtet. Es sei denn, man gibt sich diesem Geschwätz wie allen anderen Belanglosigkeiten des Daseins hin, man praktiziert eine „tiefe Komplizität mit Weltlauf und Dasein“ und entreißt so Minute für Minute dem Abgrund, indem man Kunst aus ihr macht. Die Augenblick für Augenblick verloren gehende Zeit wird nicht irgendwann irgendwo wieder gefunden. Sie wird mit jeder vom Dichter beschriebenen Minute gerettet. Der Autor hält die Welt an. [...]" (Arno Widman)

Ich habe meinerseits nicht die Absicht, diese Welt zu retten, sondern erlebe den Versuch, ein lebensfreundliches Umfeld für kommende Generationen zu retten. 

Dass dazu immer wieder der Blick auf literarisch gestaltete Welt früherer Zeiten gehört, ist Teil meines Selbstverständnisses seit meiner Jugend.

Hier ein Zitat aus Prousts Werk mit dem Angebot, selbst weiter zu lesen (Der Anfang des 3. Romans von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit":

"Das Piepen der Vögel morgens kam Françoise abgeschmackt vor. Bei jedem Wort der »Bonnen« fuhr sie in die Höhe; es war ihr lästig, wenn sie ihre Schritte hörte, und sie fragte sich, was sie nur treiben! Wir waren umgezogen. Gewiß machten die Dienstboten, die sie in dem sechsten Stock über unserer früheren Wohnung hörte, nicht weniger Lärm; aber die kannte sie, mit ihrem Kommen und Gehn hatte sie sich angefreundet. Jetzt gab sie gequält sogar auf die Stille acht. Und da unser neues Viertel so still schien wie der Boulevard, an dem wir bisher wohnten, laut war, trieb – schwach, von fern gehört wie ein Orchestermotiv – das Lied eines Vorübergehenden der Françoise in ihrem Exil die Tränen in die Augen. Wohl hatte ich mich über sie lustig gemacht, [...]

Übrigens war auch von andern Gesichtspunkten als dem der Wohltätigkeit das Viertel – und zwar bis auf weite Entfernung – für den Herzog nur eine Verlängerung seines Hofes, eine ausgedehntere Rennbahn für seine Pferde. Hatte er gesehn, wie ein neues Pferd trabte, ließ er es anspannen und durch die nächsten Straßen fahren, der Bereiter mußte neben dem Wagen herlaufen, das Pferd am Zügel halten und es vor dem Herzog auf und abtraben lassen; Herr von Guermantes stand auf dem Trottoir, hochaufgerichtet, lang und mächtig, im hellen Mantel, die Zigarre im Munde, den Kopf erhoben und spähte durch sein Monokel bis zu dem Augenblick, in dem er auf den Sitz sprang, selbst kutschierte, um das Pferd auszuproben, und schließlich mit dem neuen Gespann abfuhr, um in den Champs-Elysées seine Mätresse zu treffen.

(Marcel Proust: Die Herzogin von Guermantes 1. Band, 1. Kapitel)

"[...] Prousts Hauptwerk ist Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (À la recherche du temps perdu) in sieben Bänden. Dieser monumentale Roman ist eines der bedeutendsten erzählenden Werke des 20. Jahrhunderts.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist eine fiktive Autobiographie mit raffinierter Struktur: Ein weitgehend anonymes „Ich“, das aber möglicherweise "Marcel" heißt, erzählt von seinen zum Teil vergeblichen Versuchen, sich an seine Kindheit und Jugend zu erinnern.

Was ihm willentlich nicht gelingt, ermöglichen ihm schließlich eine Reihe „unwillkürlicher Erinnerungen“ – Sinnesassoziationen, die Erlebnisse der Vergangenheit auf intensive Weise vergegenwärtigen und damit erinnerbar machen; das berühmteste Beispiel ist der Geschmack einer in Tee getauchten Madeleine, der den Ort seiner Kindheit, Combray, in ganzer Fülle wiederauferstehen lässt. Am Ende des Romans entschließt sich das „Ich“, die auf diese Weise wiedererlebte und damit „wiedergefundene“ Zeit nun in einem Roman festzuhalten.

Während die historisch zuerst entstandenen Anfangs- und Schlussteile des Romans hauptsächlich die Erinnerung und das Erinnern thematisieren, wird im Mittelteil, etwa ab Mädchenblüte, das schon gleich zu Anfang in Aussicht gestellte "ungeheure Bauwerk der Erinnerung" durch präzise, perspektivisch wechselnde, teilweise ironisierende Beschreibungen der mondän-dekadenten Gesellschaft der Jahrhundertwende und des Innenlebens ihres Betrachters (des Erzählers) aus kleinsten Beobachtungsatomen mosaikartig aufgebaut. Prousts Technik, auch noch den winzigsten Details allein schon durch ihre ausufernde Beschreibung Funktion zuzuweisen, hat später der Nouveau Roman weiter vervollkommnet.

Literaturhistorisch bedeutend ist Prousts Roman vor allem deshalb, weil er mit einer bis dahin ungekannten Konsequenz die Subjektivität der menschlichen Wahrnehmung inszeniert, mit all ihren Nachteilen und Möglichkeiten: So zeigt er einerseits, dass kein Mensch die Wirklichkeit oder Wahrheit als solche erkennen kann, sondern allenfalls eine subjektive Wahrheitsvorstellung besitzt. Andererseits entfaltet jeder Mensch in seiner subjektiven Wahrheit eine einzigartige Welt, jeder Mensch ist ein eigener Kosmos.

Das Erzählen und damit die Literatur werden von Proust als eine Möglichkeit entdeckt, anderen Menschen zumindest Teile dieser einzigartigen, subjektiven Welt eines „Ich“ zugänglich zu machen.

Das Motiv der versagenden Erinnerung, mit der ein „Ich“ sich quält und an der es die prinzipielle Unzugänglichkeit der Wirklichkeit erfährt, wird in der französischen Literatur vor allem von Claude Simon aufgegriffen und neu bearbeitet, nun mit Bezug auf die Kriege des 20. Jahrhunderts. [...]" (Wikipedia: Marcel Proust)


Marcel Proust – „Er blickt ohne Scheu in die Abgründe des Menschen“ von Judith von Sternburg FR 10.7.21 Interview mit Ina Hartwig über die Aktualität der „Suche nach der verlorenen Zeit“
"[...] Das größte Missverständnis besteht darin, Proust als Autor zu begreifen, der die Belle Époque als etwas Schönes feiert. Er feiert aber rein gar nichts als schön, obwohl viel von schönen Dingen die Rede ist im Roman. Prousts Blick auf die Gesellschaft ist sezierend und analytisch. Er ist kein gutmütiger Autor. Manche glauben, es ginge darum, elegante Hüte aufzusetzen, Champagner zu trinken und den Adel zu bewundern. Aber das ist Unsinn. Die Salons der „Recherche“ sind nur die Kulisse einer untergehenden Gesellschaft, einer Aristokratie, die nicht begriffen hat, dass ihre Macht ein für allemal beendet ist. Die Dreyfus-Affäre hat im Roman die Funktion, die Gesellschaft der Dritten Republik als eine gespaltene zu zeigen. [...]

Lesen wir Proust zu verklemmt? Ist er moderner als wir heute? 
 Jedenfalls blickt er ohne Scheu – und ohne sie zu bewerten – in die Abgründe des Menschen. Er hat sich immer sehr für Grausamkeit interessiert. An der Figur des Charlus ist das gut festzumachen, denn Charlus ist grausam und sadomasochistisch unterwegs. Auch die einflussreiche Köchin der Familie, Françoise, die in ihrer Küche herrscht wie einst Ludwig XIV. an seinem Hof, ist grausam. Sie quält ein schwangeres Küchenmädchen mit unverhohlener Lust. Die Franzosen sind da anders gestrickt sind als die romantischen Deutschen. Sie haben die Revolution in den Genen, und Grausamkeit – Stichwort de Sade – begreifen sie als revolutionäre Energie und nicht als etwas, das uns moralisch gefährde. [...]"

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