28 Februar 2022

Stifter: Der Nachsommer - Marmorgestalt, Kunst und Glück

 "Die Tage verflossen wie die in den vergangenen Jahren. Nur eine einzige Ausnahme trat ein. Man begann nach und nach von den Bildern zu sprechen, man sprach von der Marmorgestalt, welche auf der schönen Treppe des Hauses stand, man ging öfter in das Bilderzimmer und besah verschiedenes, und man verweilte manche Augenblicke in der dämmerigen Helle der Treppe, auf welche von oben die sanfte Flut des Lichtes hernieder sank, und vergnügte sich an der Herrlichkeit der dort befindlichen Gestalt und der Pracht ihrer Gliederung. Ich erkannte, daß Mathilde in der Beurteilung der Kunst erfahren sei, und daß sie dieselbe mit warmem Hetzen liebe. Auch an Natalien sah ich, daß sie in Kunstdingen nicht fremd sei, und daß sie in ihrer Neigung etwas gelten. Ich machte also jetzt die Erfahrung, daß man in früherer Zeit, da ich mein Augenmerk noch weniger auf Gemälde und ähnliche Kunstwerke gerichtet hatte, und dieselben einen tiefen Platz in meinem Innern noch nicht einnahmen, mich geschont habe, daß man nicht eingegangen sei, in meiner Gegenwart von den in dem Hause befindlichen Kunstwerken zu sprechen, um mich nicht in einen Kreis zu nötigen, der in jenem Augenblicke noch beinahe außerhalb meiner Seelenkräfte lag. Mir kam jetzt auch zu Sinne, daß in gleicher Weise mein Vater nie zu mir auf eigenen Antrieb von seinen Bildern gesprochen habe, und daß er sich nur in so weit über dieselben eingelassen, als ich selber darauf zu sprechen kam und um dieses oder[425] jenes fragte. Sie haben also sämtlich einen Gegenstand vermieden, der in mir noch nicht geläufig war, und von dem sie erwarteten, daß ich vielleicht mein Gemüt zu ihm hinwenden würde. Mich erfüllte diese Betrachtung einigermaßen mit Scham, und ich erschien mir gegenüber all den Personen, die nun durch meine Vorstellung gingen, als ungefüg und unbehilflich; aber da sie immer so gut und liebreich gegen mich gewesen waren, so schloß ich aus diesem Umstande, daß sie nicht nachteilig über mich geurteilt, und daß sie meinen Anteil an dem, was ihnen bereits teuer war, als sicher bevorstehend betrachtet haben. Dieser Gedanke beruhigte mich eines Teiles wieder. Besonders aber gereichte es mir zur Genugtuung, daß sie mit einer Art von Freude in die Gespräche eingingen, die sich jetzt über bildende Kunst entspannen, daß also das nicht unsachgemäß sein mußte, was ich in dieser Richtung jetzt äußerte, und daß es ihnen angenehm war, mit mir auf einer Lebensrichtung zusammen zu treffen, welche für sie Wichtigkeit hatte.

Eines Tages, da die Blüte der Rosen schon beinahe zu Ende war, wurde ich unfreiwillig der Zeuge einiger Worte, welche Mathilde an meinen Gastfreund richtete, und welche offenbar nur für diesen allein bestimmt waren. Ich zeichnete in einer Stube des Erdgeschosses ein Fenstergitter. Das Erdgeschoß des Hauses hatte lauter eiserne Fenstergitter. Diese waren aber nicht jene großstäbigen Gitter, wie man sie an vielen Häusern und auch an Gefängnissen anbringt, sondern sie waren sanft geschweift, und hatten oben und unten eine flache Wölbung, die mitten gleichsam wie in einen Schlußstein in eine schöne Rose zusammenlief. Diese Rose war von vorzüglich leichter Arbeit, und war ihrem Vorbilde treuer, als ich irgendwo in Eisen gesehen hatte. Außerdem war das ganze Gitter in zierlicher Art zusammengestellt, und die Stäbe hatten nebst der Schlußrose[426] noch manche andere bedeutsame Verzierungen. Es war fast gegen Abend, als ich mich in einer Stube des Erdgeschosses, deren Fenster auf die Rosen hinausgingen, befand, um mir vorläufig die ganze Gestalt des Gitters, die außen zu sehr von den Rosen verdeckt war, zu entwerfen. Die einzelnen Verzierungen, deren Hauptentwicklung nach außen ging, wollte ich mir später einmal von dorther zeichnen. Da ich in meine Arbeit vertieft war, dunkelte es vor dem Fenster, wie wenn die Laubblätter vor demselben von einem Schatten bedeckt würden. Da ich genauer hinsah, erkannte ich, daß jemand vor dem Fenster stehe, den ich aber der dichten Ranken willen nicht erkennen konnte. In diesem Augenblicke ertönte durch das geöffnete Fenster klar und deutlich Mathildens Stimme, die sagte: »Wie diese Rosen abgeblüht sind, so ist unser Glück abgeblüht

Ihr antwortete die Stimme meines Gastfreundes, welche sagte: »Es ist nicht abgeblüht, es hat nur eine andere Gestalt.«

Ich stand auf, entfernte mich von dem Fenster und ging in die Mitte des Zimmers, um von dem weiteren Verlaufe des Gespräches nicht mehr zu vernehmen. Da ich ferner überlegt hatte, daß es nicht geziemend sei, wenn mein Gastfreund und Mathilde später erführen, daß ich zu der Zeit, als sie ein Gespräch vor dem Fenster geführt hatten, in der Stube gewesen sei, der jenes Fenster angehörte, so entfernte ich mich auch aus derselben und ging in den Garten. Da ich nach einer Zeit meinen Gastfreund, Mathilden, Natalie und Gustav gegen den großen Kirschbaum zugehen sah, begab ich mich wieder in die Stube und holte mir meine Zeichnungsgeräte, die ich dort liegen gelassen hatte; denn der Abend war mittlerweile so dunkel geworden, daß ich zum Weiterzeichnen nicht mehr sehen konnte."

(Adalbert Stifter: Der Nachsommer, 2. Band, 2. Die Annäherung, S.424-26)

sieh auch: 2. Band 3. Der Einblick S.456-85

27 Februar 2022

Hugo von Hofmannsthal (Werkausgabe)

Wikipedia

 FAZ

kritische Werkausgabe

Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hrsg. von Anne Bohnenkamp (seit 2004), Heinz Otto Burger (bis 1977), Rudolf Hirsch (bis 1996), Clemens Köttelwesch (1980-1988), Detlev Lüders (bis 1980), Mathias Mayer (seit 1996), Christoph Perels (seit 1989), Edward Reichel (seit 1993), Heinz Rölleke (seit 1974), Martin Stern (bis 1974), Ernst Zinn (bis 1990). Frankfurt am Main: S. Fischer, seit 1975 

Die Idee einer kritischen Werkausgabe, die Hofmannsthals gesamten Werknachlass aufarbeiten und das bisher verstreut publizierte Oeuvre mit allen Entwürfen in stringenter Anordnung präsentieren sollte, wurde erstmals von Rudolf Borchardt am Nachmittag von Hofmannsthals Beerdigung geäußert. Seitdem wurden die Möglichkeiten einer kritischen Ausgabe immer wieder diskutiert. 1963 fanden die Erben und der S. Fischer Verlag mit dem Freien Deutschen Hochstift einen Partner, der bereit war, das Unternehmen konkret in Angriff zu nehmen.

Anfang 1967 wurde dort eine Redaktion eingerichtet, die, gefördert durch die Fritz Thyssen Stiftung, zunächst die Handschriften ordnete und systematisch auswertete. 1969 begannen die editorischen Arbeiten, [...]

Die Editionsprinzipien der Ausgabe sehen die Wiedergabe aller von Hofmannsthal veröffentlichten und nachgelassenen Werke, Fragmente und Notierungen vor. Geboten werden die Werke in der beim Abschluss des genetischen Prozesses erreichten Gestalt. Der kritische Apparat stellt die Entstehungsgeschichte der Texte dar, erfasst sämtliche Überlieferungsträger, gibt die Notizen und Entwürfe wieder und verzeichnet die Varianz. Er bietet Zeugnisse zur Entstehung aus Briefen, Tagebüchern sowie anderen Aufzeichnungen Hofmannsthals und seiner Zeitgenossen. Die Texterläuterungen bringen neben Wort- und Sachkommentaren vor allem Zitat- und Quellennachweise sowie Hinweise auf Anspielungen und Parallelstellen im Werk Hofmannsthals. 

Die Kritische Ausgabe wird Ende Februar 2022 mit Erscheinen des vierten Bandes der Werkgruppe "Reden und Aufsätze" [1920-1929] (SW XXXV) abgeschlossen. Damit liegen 40 Bände in 42 Teilbänden vor, die 28.500 Druckseiten, dokumentiert 1100 Werke, Pläne und Entwürfe, darunter knapp 340 Gedichte und Gedichtentwürfe. Ein Band der Werkausgabe dokumentiert die annotierte Arbeitsbibliothek des Dichters, ein weiterer Hofmannsthals tagebuchähnliche Aufzeichnungen (dazu ein Band Kommentar).

https://freies-deutsches-hochstift.de/forschung/hofmannsthal/kritische-ausgabe/

19 Februar 2022

Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen (in vollständigerer Darstellung)

 Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen, Berlin 2020 (Rezensionen von Christian ModehnErich Garhammer (pdf) und 4 in perlentaucher sowie weitere hier)

"These: Außerhalb der Aktualität angesiedelt, handelt Theopoesie, auf den ersten Blick betrachtet, von den in der Bibliothek der Menschheit gespeicherten Versuchen, Gott oder die Götter zum Sprechen zu bringen: Entweder reden sie unmittelbar selbst oder sie werden von den Dichtern mittelbar in ihrem Tun und Denken wiedergegeben. [...] Religionen berufen sich in ihren theopoetischen Gründungsdokumenten auf mehr oder weniger elaborierte literarische Verfahren, auch wenn die begleitende Dogmatik dazu dient, diese Tatsache vergessen zu machen. Religionen sind »literarische Produkte, mit deren Hilfe die Autoren um Klienten auf dem engen Markt der Aufmerksamkeit von Gebildeten konkurrieren«."

Religiöse Aussagen werden also als Narrative gesehen und dementsprechend der Untertitel Theopoesie. (vgl. Theopoiesis. Das Verfertigen Gottes und der Religion in der nachkantischen Denkbewegung In: Kritik der neomythischen Vernunft Author: Linus Hauser)

Die Spätantike habe in "mediologischer Sicht erst im 19. Jahrhundert" geendet. (S.179)

S.179/80 Demokratisierung der Realitätsbeschreibung durch die Soziologie, Aufzählung von Autoren

Eine typische Formulierung. Es geht darum, dass die Soziologie vermehrt quantifizierende Methoden verwendete, um sich in der Exaktheit an die Naturwissenschaften anzunähern:

"Nichts freilich garantiert, dass die Gesellschaft sich in den an sie gesendeten Beschreibungen erkennt. Sie ist von Differenzen der Lebensstile, der Gesinnungen, der Besitzverhältnisse, der Bildungsstandards so tief zerklüftet, dass keine Botschaft "an alle" sie je erreichen kann. In dieser Lage erscheint es plausibel, anschaulichen Bildern den Rücken zu kehren und die sozialen Strukturen anhand von Zahlen, Kurven und Statistiken offenzulegen. Die metrische Soziologie verzichtet auf Alltagswissen, Intuition tacid  knowledge und Lebensähnlichkeit, Um an ihrem hybriden und ausweichenden Gegenstand mit Hilfe der Zahlensprache und der Graphen Regelmäßigkeiten, Konstellationen und Strömungsrichtungen nachzuweisen, die der wahrnehmenden und teilnehmenden Beobachtung entgehen." (S. 180)

Auf den ersten 50 bis 100 Seiten wurde häufig in diesem aufzählenden, aber nicht differenzierenden, sondern verunklarendem Stil geschrieben. Bei diesem Stil, ist es schwer, Aussagen kurz zusammenzufassen, aber eine Zumutung für den Leser, inhaltlich relevante Aussagen wörtlich zu zitieren. Deshalb werde ich vermutlich vermehrt nur grobe Inhaltsangaben für länger Abschnitte liefern, wenn überhaupt.

Freilich, Sloterdijk vermag es durchaus anschaulich und prägnant zu schreiben: Das Verhältnis von Fürst und Panegyriker sei wie das vom Inhalt und der Außenhülle der Kanne: Wärme wird zurückgestrahlt. Oder: Rom sei das Silicon Valley der Redner gewesen. Freilich, stets kleidet er es so ein, dass es nicht zu leicht verstanden werden kann, z.B. so:

"Die Geschichte der erhöhenden Rede lässt sich als Geschichte des wechselseitigen Austauschs von Königslob und Gotteslob erzählen. Es waren in erster Linie die Könige, die Cäsaren, die Fürsten, die mithilfe ihrer angestellten Panegyriker das Schwungrad der erhebenden Diskurse am Laufen hielten. [...] Monarchien sind, technisch interpretiert, wie Thermoskannen gebaut: Wärmestrahlen (Machtstrahlen) werden von der Hülle reflektiert; sie verhindern über längere Zeit die Abkühlung. Daher sind gut etablierte Monarchin als Systeme der Entropie-Verzögerung zu verstehen. Solange die Königtümer in ihrem theologisch verstärkten Selbstlob-Kontinuum nachhaltig tätig waren, wirkte ihr Glanz auf ihren Bestand zurück." (S. 191/92)

oder so:

"Bis ins fünfte Jahrhundert blieb Rom das Silicon Valley der Oratoren; sie erprobten mithilfe von Kombinationen aus ciceronischen, quintilianischen, platonischen und stoischen Programmen eine Fülle an wortreichen Simulationen existenzieller Souveränität – anknüpfend an die seit dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung ausgegebene Devise der Sophisten, der Mensch sei ein Wesen, dass nie in die wortlose Hilflosigkeit (griechisch amechania, Abwesenheit von Tricks und Hilfsmitteln versinken dürfe." (S. 196)

II. Teil Unter hohen Himmeln
Kap 13: Erdichtetes Zusammengehören
"Der Wirkungsraum des Dichtens, der Träumens und des Halluzinierens wie der des Rezitierens, des Imitierens, des Umformulierens und des Re-Inszenierens hingegen wird ernster genommen als bei herkömmlichen Unterscheidungen von Dichtung und Wahrheit üblich. Herodot empfand keine Scheu zu sagen, Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre Götter gegeben" (S141/42)
"Dem Wirkungsraum der primären Poesie wird besser gerecht, wer in Betracht zieht, wie dichtendes Tun vom Ursprung der Sprache her in Welterzeugungen eingebunden ist." (S.142) Sprache schafft in Begriffen Wirklichkeit, Grammatik ist Soziologie vor der Soziologie", insofern sie Akteure, Aktionen, Tatfolgen, Attibute und Ähnlichkeiten kennt. Protagoras Satz "Der Mensch ist das Maß von allem" ist mit der Polis-Gesinnung zusammen zu sehen, die den einzelnen in ein Wir einbindet. Die griechischen und römischen Kulte schaffen durch die ständigen Rituale eine Gemeinsamkeit, in die alle eingebunden sind. (S.144/45)
Weil alle das Gleiche taten, stellte sich die Frage, ob es einen Sinn habe, nicht. 
"Die religiöse Dissonanz führte [...] erst im römischen Imperium erst durch das Auftreten von Juden und Christen zu unlösbaren Konflikten." (S.146) Vorher stellte das Nebeneinander viele Götter kein Problem dar, weil alle in gleichgeartete Riten eingebunden waren.

Kap. 14: Götterdämmerung und Soziophanie 
"Wenn Claude Lévi Strauss vorzeiten in den Humanwissenschaften Unruhe verbreitete mit seiner Aussage, man könne das Funktionieren einer 'Kultur' nur von außen erkennen, so hat seine These inzwischen den größten Teil ihres Streitwerts verloren. Das Außen-Stehen und Sich-von-außen-Sehen ist für uns im Lauf des 20. Jahrhunderts zum Grundzug der eigenen Lage geworden – insbesondere was das Erbe des Christentums altokzidentaler und europäischer Prägung betrifft. Die Lage der Außen-Stehenden fällt uns auch in Bezug auf den 'Humanismus' zu, der vom 15 Jahrhundert bis zu den preußischen Reformen des frühen 19. Jahrhunderts ein pädagogisch erfolgreiches remake griechisch-römischer Motive ausgebildet hatte. Humanismus und humanities haben seit längerem den Geist der Zeit nicht mehr für sich. Nach 1914 wurde manifest, wie sehr die klassische Bildung in den Nationalimperien Europa als sich von den technischen, politischen und massenmedialen Verhältnissen der Modernität entfremdet hatte". (S. 166/67)
Mit dem Auftreten der Gesellschaft (Soziophanie)  wird in Europa das Christentum nach eineinhalb Jahrtausenden als gesellschaftsbestimmende Kraft langsam abgelöst. 
Außerhalb des religiösen Raums wird das gemeinsame Befolgen von Regeln zunächst an den Sprachen deutlich. "Tatsächlich waren die ersten geschriebenen Grammatiken von Landessprachen älter als die expliziten politischen Verfassungen." (S.173) "In der Gesellschaftsdämmerung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts erwachten neue Götter [...] Volk, Nation, Handel, Industrie, Presse, Literatur, Kunst, Freiheit, Frechheit, Radikalität." (S.177)
"Die Offenbarung des Wahren und Wesentlichen geht nicht mehr von oben aus" (S.178) "Die Realität [...] schickt ihre Zeugen vor sich her. [...] Der zum Sprechen gebrachte Himmel hat die Kioske erreicht." (S179)

Kap.15: Herrlichkeit: Poesien des Lobs
"Während die biblische Genesis eine Schöpfung vorführt, die durchgehend auf monoton parallel geformten Machtworten beruhte – archetypisch: "es werde Licht und es ward Licht" [...] und somit expeditive Logokratie, die unverzügliche Herstellung von Zuständen durch Befehl, zum Inhalt hat, ausgenommen die Schaffung des Menschen die ins handwerkliche Fach überwechselt [...] neigten sich die hellenischen Vorstellungen über das Herkommen der Welt der Ewigkeitsvermutung zu; auch Aristoteles [...] ergriff für sie Partei." (S. 187)

Kap.16: Poesie der Geduld
Die frühen Formulierer der Para-Monotheismen im Zweistromland, auch Summotheismen oder Henotheismen genannt, standen vor der Aufgabe, mit der Ambivalenz des Gottes zurechtzukommen – eines Gottes, der ganz aus Mutwille, Alleskönnen und Allesdürfen besteht; er tritt zuweilen auf als Berserker, der mit dem Riesenspielzeug Katastrophe spielt. 
Er streut seine Zuneigungen und Abneigungen aus wie ein Über-Krösus, der sich von seiner Fülle erleichtert.
Aus der klinischen Perspektive moderner Zeit liegt auf der Hand, dass die ersten Reichsgötterfiguren, nicht anders als ihre ranggleichen Rivalen, unter dem litten, was man eine schwere Persönlichkeitsdissoziation nennt: sie machte es ihnen unmöglich ihren Anhängern unter einem kohärenten Profil entgegenzutreten. Schon bei kleineren Kultverletzungen verloren sie die Fassung und tobten ihre Kränkungen auf infantil destruktive Weise aus. Wie man bei den Nachfolgern des römischen Augustus – Tiberius, Caligula, Claudius und Nero – den furor Caesarum sich ausprägen sah, so verrieten die Götterporträts des alten und jüngeren Orients von Marduk, Ahura Mazda, JHWH bis zu Allah eine Art furor deorum, ein Wüten im Zustand stetiger Majestätsbeleidigung, das zwischen Ordnungswidrigkeiten und Verbrechen nicht zu unterscheiden weiß: so wird Evas und Adams Biss in den falschen Apfel mit der Vertreibung aus dem Paradies geahndet – was die Sterblichkeitsstrafe impliziert –, indes Kain, der Mörder seines Bruders, unter Gottes Protektion unangetastet überleben und als Städtegründer tätig werden soll." (S.207/08)

"Der Poesie der Geduld kommen, wie die Auflösungen der Geschichten zeigen, nicht nur protostoische, sondern auch protoevangelische Qualitäten zu. Sie beantworten die Frage: Gibt es ein Leben nach dem Unglück? Da die bejahende Antwort hier nicht ausbleibt, sind die Geschichten mehr als Stücke 'weisheitlicher' Literatur. Sie weisen bereits einen Zug von Guter Nachricht auf. Doch gäbe, wer im Buch Hiob auch schon die Spur des Messianischen erkennen möchte, nicht dem Hang Überinterpretation nach?
 In Geschichten wie der vom duldenden Gerechten geht es nicht um das Kommen eines Erlösers, erst recht nicht darum, von den Toten aufzuerstehen. Wunderbar genug ist es, sich vom Unglück zu erholen – so wie sich der nach Jerusalem zurückgekehrte Teil des Volkes vom Unglück des Exils in Babylon erholte, dank Kyros, dem Messias, der aus Persien kam. (S. 217/18)

Kap.17: Poesien der Übertreibung: Religiöse Virtuosen und ihre Exzesse

"Nimmt man zur Kenntnis, dass die heiligen Bücher des Volkes Israel die Entrückung beziehungsweise die Himmelreise als ein nahezu stereotypes Motiv in den Berichten von Berufungen zum Prophetenamt kennen, so bei Jesaja, Jeremia und Ezechiel (die ihrerseits in der Nachfolge des Elia stehen), fällt auf die Angaben des Paulus ein verändertes Licht: Da der Briefschreiber vor dem dissidenten Teil der korinthischen Gemeinde seine Autorität als Apostel [...] zur Geltung bringen wollte, ist der Hinweis auf ein Entrückungserlebnis auch als Teil seiner Legitimationsstrategie gegenüber lokalen Skeptikern zu verstehen [...] Er stellte sich jedenfalls nicht auf eine Stufe mit den Empfängern landläufiger Charismen wie Weissagung, Dichtung, Zungenreden oder Geistheilung. Im übrigen darf nicht übersehen werden, dass auch Mohammed das jüdische Pensum der Himmelsreise summa cum laude bewältigt haben soll." (S. 226/27)
"Versteht man die verzögerten Exekutionen [Kreuzigung oder Schlimmeres] als Komparative des schweren Todes, so wäre die Steigerung zum schwersten erreicht, sobald das gedehnte Sterben unter der Folter über den Tod hinaus verlängert werden könnte. Diese Verlängerung hat das Christentum, unter Wiederverwendung altiranische Motive, durch die Institutionalisierung der Hölle mit ihrem nie erlöschenden Feuer im Imaginären verwirklicht – eine Errungenschaft, die der Islam als Religion der rigiden Zweiwertigkeit sich eifrig zu eigen machen sollte- Er war, wie das Christentum vor der Erfindung des Purgatoriums, eine Religion ohne Zwischenlösungen. [...] der Übergang vom Komparativ zum Superlativ des Leidens kann erfolgen, sobald die Forderung nach der Erhaltung der leidensfähigen Seele über den Tod hinaus als erfüllbar erklärt wird." (S.232/33)

 Zur Vermeidung ewiger Höllenstrafen suchten manche Gläubige schon im irdischen Leben in äußerste Entbehrung und äußerste Qualen auf sich zu nehmen: z.B. Säulenheilige, Flagellanten, Mumifizierung bei lebendigem Leib (S.245-58)

Kap.18: Kerygma, Propaganda, Angebotsoffensiven oder: Wenn die Fiktion nicht mit sich spaßen lässt
"Gemeinsam ist dem Christentum und dem Islam das kritische Intervall zwischen den prophetischen Interventionen der Neuerer bis zur Verschriftlichung ihrer Botschaften. Jesus war kaum drei Jahre lang öffentlich in Erscheinung getreten; Mohammeds Vortrags– und Cheftätigkeit soll rund 32 Jahre umspannt haben. Eine etwa gleich lange Zeit ist vermutlich bis zur Kodifizierung des Korans unter dem dritten Kalifen Uthman (gest. 656) vergangen." (S. 266)
"Ein Umstand ist nicht missverständlich: die Predigten der ersten Impulsgeber waren erfüllt von der Gewissheit, ihre Aussagen würden sich nicht im Wind des Wandels rasch zerstreuen. Die Verkünder gingen darauf aus, dass ihre Botschaften von den ersten Hörern zu neuen Hörern weitergetragen würden. Für solches Weitertragen bot die christliche Nachahmung früh den Begriff kerygma, Verkündigung, an – der Zeithorizont für diese Tätigkeit war nicht weitergespannt als bis zum Ende der lebenden Generation. Es wäre widersinnig, den ersten Anhänger in Jesu zu unterstellen, sie sollten oder wollten einen universalen 'Missions'-Auftrag erfüllen. Das 'Ende der Welt' (genauer: der Ablauf der Zeiten, aionos) von dem im nachösterlichen Taufimperativ bei Mathäus die Rede ist, mag von späteren Deutern terminiert worden sein, wie es ihnen beliebte: im Verständnis des Sprechers und der Hörer bezog er sich auf ein dicht bevorstehendes Ereignis." (S. 267/68) 
"Zu den Geburtsfehlern des christianismos gehört dass unaustilgbare Universalismusmissverständnis. Es war bei Paulus angelegt (oder in ihn hineingelegt) und wurde bereits von den Verfassen der Evangelien in ihre Berichte kopiert. Paulus – falls nicht auch seine Briefe auf spätere Fälschung zurückgehen – scheint in der Gewissheit gelebt zu haben, die Zeit sei knapp; folglich muss es nahe gelegt haben mit dem Verlust der meisten zu rechnen. Johannes ging soweit, das Leitmotiv der göttlichen Tragödie im Prolog seines Evangeliums auszusprechen: der Logos kam herab in die Welt, die von ihm geschaffen worden war, und die Welt erkannte ihn nicht. [...] Niemand konnte sich darüber im unklaren sein, dass nur eine kleine Minderheit der Lebenden zu den Erwählten zählen werde – wobei Griechesein, Sklavesein, Frausein nicht mehr als Gründe der Ausschließung vom auserwählten Volk zweiter Ordnung gelten durften." (S. 269/70)
"Kein Prophet tritt auf, der nicht den Sound seines Gottes im Ohr hätte, bevor er das erste Wort hervorbringt." (S. 272)
"Die neuen Glaubensdoktrinen setzten eine profunde Verlegenheit in die Welt: Wer würde sich einer Heilsbewegung anschließen wollen, solange deren Prediger verfügen, die Vorfahren der Neugläubigen könnten in den jetzt geoffenbarten Heilsraum normalerweise nicht nachträglich eingemeindet werden; ja sie dürften von Glück sagen, wenn sie in einer mild klimatisierten Zone der Unterwelt, der Vorhölle, angesiedelt würden? 
Als einschneidende Erwählungsreligion entworfen – 'Viele sind berufen, aber wenige auserwählt' (Matthäus 22,14) –, kann das Christentum, um vom Islam nicht zu reden, auf Dauer nicht verhehlen, dass es zur Desolidarisierung der jetzigen und künftigen von den vergangenen Generationen einlädt: 'Folge mir und lass die Toten ihre Toten begraben!' (Matthäus 8,22) Ist dies ausgesprochen, wird die Menschenwelt – traditionell als die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten aufgefasst [...] von zwei Desolidarisierungen zerklüftet: die erste trennt die wenigen Rekuperierbaren unter den früheren Toten von den zahllosen Toten zweiten Grades [...] die zweite zerspaltet die Weltpopulation der Lebenden in die der rettbaren Gläubigen und jene, die auch heute nach Ablauf ihrer Zeit aus den Büchern des Lebens gelöscht werden, weil sie den Weg des Heils nicht fanden oder ihn, obwohl bekannt gemacht, nicht gehen wollten.
Man stößt hierbei auf einen Wesenszug, der den Selbstwiderspruch des mit Erwählung gekreuzten Universalismus zum Vorschein bringt. An alle kann sich nur wenden, wer latent überzeugt ist, dass nicht alle folgen. Es verrät einen tiefgründigen Aspekt der ansonsten an Seltsamkeiten nicht armen Mormonen-Bewegung [...] wenn sie nicht nur für die Taufe Verstorbener plädierte, sondern die rückwirkende Erlösung von Angehörigen vergangener Generationen für möglich erklärte." (S. 288/89)

Angebotsoffensive Mission

"Seine bleibende Bedeutung erhielt der jesuitisch geprägte Terminus 'Mission' durch sein Potential zur Vorausprojektion. Es geschah nicht zufällig, dass er an der Schwelle zur Neuzeit konzipiert wurde. In dem zu Ende gedachten Bogen der Mission verbirgt sich, was man vom 18. Jahrhundert an 'Weltgeschichte' nennen würde. Das konjunkturelle Zusammenspiel von Missionsgeschichte und Weltgeschichte ergab sich aus dem Umstand, dass den Entdeckern, Eroberern und Emissären, den Naturwissenschaftlern und Fernhändlern aus den seefahrenden Nationen Europas von Anfang an Geistliche zur Seite gestellt waren, die auf die Ausweitung der empirischen Menschheit dank der Auffindung zahlloser peoples of colour mit einer planetarischen Dehnung ihre Sendungsbewusstsein antworteten." (S. 296)

Schillernd glänzende Formulierungen:

Ein "Charaktertypus, der sich nach Bedarf als Seefahrer, als Konquistador, als Kolonialgouverneur, als Gutsverwalter, als Soldat, als Pflanzer und Fernhändler und schließlich als Missionar ausprägen ließ." Mit dem katholischen Missionaren betrat eine Variante aktivistischer Mystiker die historische Bühne. Die geistlichen Agenten – anfangs vor allem Absolventen der jesuitischen Willensschule – gingen an ihre Aufgaben mit einen Elan, als wollten sie Alexanderzüge in der Soutane gewinnen. Man könnte glauben, die von den ägyptischem und syrischen Wüstenmönchen in Kampagnen nach innen mobilisierten Kräfte hätten sich nach einem Moratorium von nahezu zwölfhundert Jahren ins Offensive gewendet. 
(S.296/97)

Mit Reizwörtern und Reizbildern, z.B. "Kapitalismus" werden Pawlowsche Reflexe der Abstoßung erzielt. (S.300-302)

"Was die Theopoesien im Zeitalter national-imperialer Aussendungen betrifft, die von den katholischen, namentlich den franziskanischen, dominikanischen und jesuitischen, später auch von den protestantischen Ordenszentralen lanciert wurden, nicht zu vergessen jene, die die holländischen und britischen Ostindien-Geschäfte begleiteten, so brachten sie Globus-weit das Portrait eines kosmisch kompetenten, expansionslustigen, gemeinschaftsstiftenden und zugleich mit jeder einzelnen Seele intim verwobenen Gottes zur Geltung." (S.302)
"Theologie, die den Unterschied zwischen Eindringlichkeit und Zudringlichkeit wenig respektierte" (S.304)
Levinas "These vom unbedingten Vorrang des 'Anderen'" (S.305)
So kommt es zu einer neuen Art der Erbsünde (Augustinus): "unvermeidbare Unterlassungssünde" (S.305), wenn man die Leiden der Menschen in der Ferne nicht ebenso ernst nimmt wie die in unmittelbarer Nähe. (S.305)
Vgl. bei Jaspers "metaphysische Schuld", das "Solidaritätsdefizit unter endlichen Wesen" (S.306)

Kap.19: Von Prosa und Poesie der Suche

"fast alle religiösen Sätze, Regungen und Gefühle" entstehen durch Gewohnheit. (S.307) William unterscheidet in "The Will to Believe" zwischen Glauben durch Enkulturation und "Eigenleistung des erwachsenen Gläubigen" (Sloterdijk, S.306) und sieht sie als Leistung im Unterschied zum üblichen theologischen Verständnis von Glauben als Gnadengabe Gottes.
Coleridge spricht von "the willing suspension of disbeleive(Sloterdijk, "willentliche Außerkraftsetzung von Ungläubigkeit", S.309)
In den USA wurde Glauben als selbstverständlich angenommen. "Atheismus konnte man sich nur wie einen Hungerstreik gegen das Jenseits vorstellen" (S.310)

Von 7,7 Milliarden Menschen sind 2,3 Milliarden Christen und zwar in 30.000 "Formen rechtlich autonome Kirchentümer" (S. 312) 1,75 Milliarden Muslime (also isind über 50% der Weltbevölkerung Monotheistien) ,1,0 Milliarden sind Hinduisten 0,5 Milliarden Buddhisten, 14 Millionen Juden. Nicht zuzuordnen und damit als Atheisten bezeichnet sind 1,2 Milliarden.. De facto rechnet sicher ein Teil der angeblich Gläubigen dazu, also sind circa 20 % der Menschheit nicht gläubig..
Vom Kinderglauben her kommend "lässt sich die Annahme nicht vermeiden, es gebe auf der Erde mindestens 6 Milliarden ehemalige Animisten" (S. 314)

Kap. 19: Von Prosa und Poesie der Suche

Individualismus
"Sobald das katholische Angebotsmonopol gebrochen war, strömten in den folgenden Jahrhunderten zahllose Fabrikate auf den nun zu Recht so genannten religiösen Markt – eines mehr als das andere darauf berechnet, den Stimmen der Nachfrage und den Stimmungen von Milieu und Zeitalter Ausdruck zu verleihen." (S. 315) 

"Wer nach Gründen für die individualistische Erosion der gegenwärtigen 'Weltgesellschaft' sucht, sollte nicht bei der neo-antiliberalen Diagnose 'Geist des Kapitalismus' stehen bleiben. Der Wettbewerb um das knappe Gut 'Erwählung' reicht bis ins Zeitalter der Europa prägenden Reformation und zurück – und von dort in die alten metaphysischen Apotheken des Nahen Orients.
Mit dem Willen zum Glauben kommt der Wunsch nach bevorzugten Glaubensinhalten in den Blick – an erster Stelle die Erwähnung zum ewigen Leben; der Wunsch wurde von der Annahme gestützt, irdische Erfolge erlaubten den Erfolgreichen, auf ihre Erwähnung zu schließen. Seither bewegt sich der Strom moderner Praxis als eine Summe aus Vektoren sich selbst wahrmachenden Wunschdenkens.
Die Expansion der kürzlich aus Nordamerika nach Brasilien überspringenden Pfingstkirchen spricht eine klare Sprache: Es sind die Nachfragenden, die die Bewegung stark machen, indessen deren Designer importieren, wonach am Empfangsort am meisten verlangt wird: Begehrt sind rigide moralische Regeln, schlichte Dogmen, konkrete Aussichten auf sozialen Erfolg, gemeinschaftlicher Halt, Schutz der Kinder, Bindung der Männer an die Familie, Immunisierung gegen Kriminalität und Drogen und nicht zuletzt enthusiastische gemeinsame Feiern. Mit der Trias von Jubel, Arbeit und Struktur orientieren sich die wachsenden pfingstlichen und evangelikalen Kirchen des globalen Südens an der Nachfrage von Populationen, die aus ihren ökonomischen, sozialen, kulturellen und spirituellen Defizit kein Geheimnis machen. Ihr deutlich bekundetes Haltbedürfnis treibt eine Popkultur schlichter Formeln an." (S.316)

"In der europäischen Moderne folgte die religiös nachfragende Haltung der einzelnen mehr den Gesetzen der Vermischung als denen der Rechtgläubigkeit. Die Hoch-, Spät- und Nachmoderne ähnelt der hellenistischen Antike durch ihren Synkretismus. Wo sie von Elementen höherer Bildung geprägt war, sympathisierte sie mit Lehren, die nicht aus abgenutzten Traditionen stammten; sie neigte zur Skepsis gegen Kanzelgetön und Dogmatismus. Entkirchlichung und spirituelle Rezeptivität bildeten für sie keinen Widerspruch. Abstrakte Menschenfreundlichkeit war ihr Erkennungszeichen. [...] Wer so gestimmt ist, findet Gehobenes in der Literatur, Erbauliches in der Weisheit aus dem Osten, Erhabenes in klassischer Musik, Pathetisches in Staatsbegräbnissen, Absurdes bei Kierkegaard, Tröstliches in der Diskretion von Hospizseelsorgern, Numinoses vor einer Anselm-Kiefer-Wand und einen Hauch von Höchstem beim Blick von Land's End aufs offene Meer." (S.317)
"Das explizit artikulierte Nachfrageverhalten in puncto Wahrheit, Sinn und Lebensführung – in hochreligiöser Sprache: der Erlösung, der Erleuchtung, der Befreiung, der Ungeborenheit – zeigt sich in den unzähligen Varianten einer Poesie der Suche. Sie gehört ins beginnende Zeitalter der Ausbrüche existentiell beunruhigter einzelner aus den Gehäusen des Herkommens, wie sie sich in der indischen Legende vom jungen Siddharta Gautama bekundet, dem überbehüteten Sohn eines vornehmen Kshatriya, eines Angehörigen der Kriegerkaste, der auf seinen vier Ausfahrten aus dem väterlichen Palast die Negativität des Daseins entdeckte. Sie trat ihm vor Augen in den Gestalten eines zerfallenden Greises, eines Fieberkranken in Agonie und eines verrottenden Leichnams; einer der Legenden vom Werden des Buddhas zufolge wurden die drei Erscheinungen dem jungen Shakyamuni von den Göttern wie Testbilder an den Wegrand gelegt, um eine Schocktherapie einzuleiten. [...] Das fünfte Hausverlassen des späteren Buddhas mündet in eine Suche ohne Wiederkehr; ihretwegen ließ er seine Frau, seinen Sohn [...] und 'die Welt' zurück." (S. 317/318)
"Zu den Hauptmerkmalen des Weges gehören: die Begegnung mit einem einzelnen, der auf den asketischen modus vivendi verweist; die Entscheidung zum Aufbruch oder Abschied (buddhistisch: 'Hausverlassen'; christlich: peregrinatio, Nachfolge; hinduistisch: sanyas Rückzug in Entsagung); die Versuch-und-Irrtum-Phase, in Form des Anschlusses an diverse Lehrer und Lehren, gefolgt von umfassenden Enttäuschungen; die große Krise, bis hin zur Erkrankung, Depression und Suizidimpuls; die Resignation, die Aufgabe der Suche; die Ankunft, das Finden, die Erleuchtung." (S. 319) 
"Erst wenn das vorstellende Suchen resigniert oder, um im mystischen Dialekt zu sprechen, wenn es alles 'läßt', kann das Gesuchte sich im Subjekt als dessen eigener Regungsherd vergegenwärtigen. Das Gesuchte ist das Suchende. Die großen Ziele: Wahrheit, Gott, Sinn, Natur, Glück, Weisheit, Erlösung, Erleuchtung und so weiter liegen außerhalb des Denkspieles 'Erreichen'. Sie haben keinen anderen Ort als im Spontanitätskern der Unruhe, die sich auf die Suche gemacht hat." (S. 320)

"Die Poesien der Suche prägen sich in Weg-Geschichten aus. Sie weisen gemeinsam das Merkmal auf, daß Aufbruch und Suchbewegungen erzählbar sind, der Zustand des Suchens nach der Ankunft nicht. Da es für einen, der gefunden hat, nichts zu erzählen gibt, kann nachträglich behauptet werden, es habe von vornherein nichts zu finden gegeben." (S. 322)

Jean-Paul Sartre hatte "unter Rückgriff auf Nietzsches Diktum bemerkt: 'Er ist tot: er hat zu uns gesprochen, und jetzt schweigt er [...]. Vielleicht ist er aus der Welt hinausgeglitten wie die Seele eines Toten, vielleicht war es nur ein Traum. [...] Gott ist tot, aber der Mensch ist deswegen nicht gottlos [athée] geworden." (S.325)
" 'Der Mensch' ist kein Mängelwesen; er bildet einen Abschnitt im Bogen des Elans, der vage Optionen und wählbare Ziele generiert. Freiheit und Spielraum wachsen miteinander. Von Anfang an ist der Mensch ein Luxuswesen, das durch die 'Körperausschaltung', das heißt die Entspezialisierung seiner physischen Ausstattung, in die privilegierte Verlegenheit der Weltoffenheit gelangte: Vor allem profitiert er durch die Entlassung der Hände zur Polyvalenz der Zugriffe und die grenzenlose Zunahme seiner Sprachbegabung. [...] " (S.326/27)

"Aus Versuchen, Unbestimmtheit aufzulösen, Verwirrung zu beseitigen und Erstaunen zu reduzieren, entstanden im Lauf kultureller Revolutionen alle Disziplinen und Instanzen rationaler Praxis: die Orakel, die priesterlichen Zeichenlesekünste, [...] in summa die wesentlichen Ausprägungen der beratenden, zitierenden, abwägenden, orientierenden Vernunft. Das gemeinsame Merkmal dieser Disziplinen zeigt sich darin, daß sie anfangs so gut wie ohne Ausnahme in religioide, mythische, kultische Muster eingewoben auftraten. Und doch: Einbindungen dieser Art erwiesen sich nachträglich allesamt als lösbare Allianzen; nicht auflösbar blieb die Verbindung mit der Schriftlichkeit, die zu verschiedenen Zeiten, in Mesopotamien und Ägypten zuerst, in die Zivilisationen eindrang und komplexere Strukturen der Gedächtniskultur im Zusammenspiel von Buch und Erinnerung ermöglichte. Die kulturellen Evolutionen der vergangenen dreitausend Jahre haben demonstriert, daß von diesen rationalen Disziplinen jede einzelne fähig war, sich aus der Symbiose mit den Sphären von Göttermythos, Ritus und Opferhandlung zu emanzipieren. Der Mythos der 'Achsenzeit' war ein ungeeigneter, obgleich nicht ganz blinder Versuch, für die zeitversetzten Anfänge der diversen Emanzipationen in weit auseinander liegenden Kulturen einen Oberbegriff zu bilden.

In Bezug auf das Phänomen 'Religion' besagen diese Emanzipationen: Was 'Religion' hieß, war seit je ein joint venture aus Jenseits- und Diesseitspraktiken, nicht selten mit extravaganten und theatralischem Zügen ausgestattet. [...] Man begreift, daß Menschen in aller Welt die Verbindung mit ihren Vorfahren kultivieren, doch die lokalen Künste des Andenkens sind eigengesetzlich. Sie lösen kein Problem, sie geben Rätseln eine Form. Dem geschundenem Maskenträger [von 10 m hohen Masken] erwiesen die Stammesgenossen Dank, indem sie nach dem Fest die Wunden an seinen Schultern versorgten."(S.327/28)

"Aus einer Bibel, auch wenn sie im Besitz von Abraham Lincoln war, folgt für die Außenpolitik so wenig wie für die Staatsfinanzen. Für die Dauer einer Minute wird in Washington das Jenseits zu Tisch gebeten; danach ist wie zuvor der Pragmatismus alleinbestimmend an der Macht" (S.328)

"Die Konsequenz dieser Verselbstständigung in, im Jargon der Systemtheorie 'Ausdifferenzierungen' genannt, erweist sich darin, dass die eingerichtete Religion mitsamt ihrer traditionell allbetreffenden Moral ihre vormals wie selbstverständlich angenommene Hyperkompetenz für sämtliche Bereiche nur noch simulieren kann. [...]

Fallen deutsche Soldaten in Afghanistan, wird ein Staatsminister die Ehrenzeremonie leiten, eventuell unter beihelfender Präsenz von Vertretern der Konfessionen. Bricht eine Pandemie aus, werden Kirchen, Synagogen und Moscheen geschlossen; Gesundheitsminister und Virologen interpretieren die Lage. "(S. 329)

[Über Religion:] "Hätte sie eine unbedingt eigene, unvertretbare, unübersetzbare unaufgebbare Funktion, so bestünde sie darin, dem Dasein eine Bedeutung, eine Wirkung, eine Strebung, eine Beziehung auf die 'Wahrheit' anzusinnen, die ohne die Daseinsspannung als solche, das Ausgesetztsein in eine überraschungsoffene Ereignisströmung, nicht erschienen sein könnte." (S.330)
"Ist dies festgestellt, folgen daraus zwei Dinge, die expressis verbis noch nie ausgesprochen wurden. Das erste besagt, daß die Religion beziehungsweise die Religiosität in der Gegenwart zum ersten Mal seit ihrem Auftauchen aus den Angst- und Ahnungsnebeln über paläolithischen Landschaften schlechthin frei geworden ist – frei im Sinne ihrer völligen Entlassung aus sämtlichen sozialen Funktionen; was freilich nur für die Weltgegenden gilt, wo nicht unter dem Vorwand moderner 'Religionsfreiheit' weiterhin handfeste zwangsgemeinschaftliche Zugehörigkeiten evoziert werden, wie sie unter anderem in der Türkei Erdoğans – trotz laizistischer Verfassung – fortbestehen und politische Forcierung erfahren." (S. 331)

"Der Staat darf nicht, was der Sekte erlaubt ist. Wer von Zivilreligion spricht oder eine solche für wünschenswert oder gar notwendig hält, beteiligt sich an zumeist regressiven Fiktionen; solche sind kaum besser als die Prätention der katholischen Kirche, die noch im Jahr 1864 durch den Mund des Papsts den Gedanken der Religionsfreiheit von Grund auf verwarf." (S. 332)
"[...] das Böckenförde-Diktum (1964) –, bezieht sich auf die Ära des Übergangs vom neuzeitlichen Staatskirchensystem zur säkularen, religionspluralistischen Situation. Nach deren Eintreten entsteht – soweit westeuropäische Verhältnisse betroffen sind – das soziale Kapital nur in geringerem Maß noch aus den vorsäkularen Überlieferungen. Es setzt sich zusammen aus tagespolitischen Sensibilitäten, bürgerschaftlichen Engagements, historischen und ethnischen Kenntnissen sowie allen Formen von Solidarismus und deren Artikulation in alten und neuen Medien. Deren Regeneration im Generationenprozeß nimmt zunehmend experimentelle Züge an; ihr Schicksal wird davon abhängen, in welchem Maße es gelingt, Rohsentimentalität aus Furcht, Ressentiment und Zuversicht in informierte Empathie, vormals Bildung genannt, umzuwandeln. [...]

Die zweite Freisetzung der Religion legt ihre Verwandtschaft mit zwei intimen Rivalen offen. [...] die Künste und die Philosophien, sofern die letzteren weisheitlich betrachtend blieben. Wenn zutrifft, dass die freigesetzte Religion sich mit der Deutung der Existenz in ihren allgemeinen Zusammenhängen, mit der Domestikation des Zufalls und mit der Gestaltung der Sterblichkeit befaßt, so liegt auf der Hand, warum sie auf diesen Feldern in ein rivalisierendes Verhältnis zu den betrachtenden Philosophin und den frei gestaltenden Künsten geraten ist. Die Künste, die sprachlichen wie die außersprachlichen, existieren bekanntermaßen als solche erst, seit sie sich aus der Dienstbarkeit der religiösen Kultur emanzipierten; die Philosophie spricht in ihrem eigenen Namen, nachdem sie ihre Anstellung als Magd der Theologie gekündigt hatte [...]
Das sichere Zeichen der jungen Freiheit für die Religion ist ihre überraschende, erhebende, skandalöse Nutzlosigkeit; sie ist überflüssig wie Musik; doch: 'Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.' [...]
Alle übrigen vormals bedeutsamen religionsförmigen Funktionen offiziellerer Art wie Kaiser- und Fürstenkult [...] erweisen sich nachträglich als sekundäre Leistungen, die, wie gesehen und geschehen an säkulare Agenturen abgegeben werden konnten, manchmal unter Verlusten, nicht selten mit gleichem oder besserem Erfolg." (S. 334/35)


"Was von den historischen Religionen bleibt, sind Schriften, Gesten, Klangwelten, die noch den einzelnen unserer Tage gelegentlich helfen, sich mit aufgehobenen Formeln auf die Verlegenheit ihres einzigartigen Daseins zu beziehen. Das übrige ist Anhänglichkeit, begleitet vom Verlangen nach Teilhabe." (S.336)


Die Rezension von  Jörg Seidel hat mich nicht getrogen: 

"Im letzten Abschnitt zieht Sloterdijk die Fäden seiner bis dahin scheinbar schwebenden gedankensatten Assoziationen überraschend straff zusammen – hier klärt sich die Frage »wozu?« endgültig – und begründet den notwendigen Autoritätsverlust des Religiösen in der Moderne: Sich verselbständigende »Diesseitspraktiken« haben der Religion und ihren Institutionen die Kompetenzen entzogen, befriedigen mit eigenen Mitteln den numinosen Bedarf; Religion ist »der Rest, der nach dem Abzug von allem bestehen bleibt, was in die Wissenschaft, die Ökonomie, das Justizwesen, die Philosophie usw. abwandert« und eine »Beihilfe zur Auslegung des Daseins« darstellt. Der Begriff der Religionsfreiheit erhält hier eine doppelte Bedeutung: die Religion sei frei, ihre sozialen Funktionen zu entlassen, sie müsse den sozialen Ensembles keine Zusammenhaltsmotive mehr liefern – diese sind also auch frei von der Religion –, sie müßten sich zum zweiten einer neuen Konkurrenz um die Existenzdeutung stellen, namentlich der Philosophie und der Künste. Religion erringt eine »erhebende, skandalöse Nutzlosigkeit, sie ist so überflüssig wie die Musik«. Sie erlangt Luxuscharakter, ihre Institution dürfe nun den Rang einer Körperschaft des öffentlichen Rechts beanspruchen." (Hervorhebungen von Fontanefan)

Auch von Sloterdijk: "Der Himmel kann es doch" Peter Sloterdijks Leidenschaft heißt Grau. Ein Gespräch über die Zeitenwende, seltenes Glück und den neuen farbenpolitischen Imperativ Interview: Peter Neumann DIE ZEIT Nr.18/2022 28.4.2022 (bei meinen Zeitungsausschnitten Germanistik unter S)


17 Februar 2022

Abbas Khider: Die Orangen des Präsidenten

  Abbas KhiderDie Orangen des Präsidenten (Wikipedia)

Aus einem Interview:

Die erste Phase der Flucht ist die härteste. Plötzlich ist man allein. Mit wenig Geld und

 der ständigen Angst, keine Aufenthaltsverlängerung zu bekommen. Wie findet man einen 

Arzt, wenn man krank wird? Wie bezahlt man ihn? Es gibt Momente, da fragt man sich, 

ob es nicht doch einfacher ist, in einer Diktatur zu leben, als so wertlos wie ein Hund 

auf der Straße. Man denkt an die Familie, die Freunde, man weint viel. Es ist kein Leben. 

In dieser Phase bleiben manche Leute jahrelang stecken.

ZEIT: Sie auch?

Khider: Ich konnte mich herauskämpfen. Aber es ist hart. Man kämpft gegen sich selbst, 

will am liebsten nichts mehr fühlen.

ZEIT: Warum sind Sie nicht in Libyen geblieben?

Khider: Nach vier Jahren wäre auch dort mein Pass abgelaufen. Viele wollten damals 

nach Europa, irgendwann auch ich. Meine Flucht endete dann in Bayern.

ZEIT: Sie haben in kurzer Zeit Deutsch gelernt, danach das Abitur nachgeholt und Literatur 

und Philosophie studiert. Wie haben Sie das geschafft?

Khider: Was mir geholfen hat, war, dass ich mich sehr für Grammatik interessiere. 

Ich hatte mich intensiv mit arabischer Grammatik auseinandergesetzt, das war eine gute 

Grundlage. (Das vollständige Interview)

Über das Buch:

Laila Mahfouz: Rezension zu Abbas Khiders Lesung Die Orangen des Präsidenten zur Lesung am 18. März 2011 im Rahmen der Leipziger Buchmesse, 431verstaerker.wordpress.com, 13. August 2011
Marlene Pellhammer: Abbas Khider: Die Orangen des Präsidenten, in: Allmende, 87 (Juli 2011), S. 104.
Jens Jessen, in: Die Zeit, 5. Mai 2011
Wolfgang Günter Lerch, Die Frucht der Freiheit. Abbas Khider porträtiert die Ära Saddam Husseins, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. April 2011
Andreas Pflitsch: Abbas Khider. Die Orangen des Präsidenten, in: Der Tagesspiegel, 16. März 2011

13 Februar 2022

Janáček: Das schlaue Füchslein

 Leoš Janáček (Wikipedia): Das schlaue Füchslein  (Youtube - Inszenierung von Walter Felsenstein 1961)

Dieter Schenk: BKA (Bundeskriminalamt)

 Dieter Schenk (Wikipedia)

  BKA - Die Reise nach Beirut Politischer Tatsachenroman (Rowohlt 1991) 

25 000 verkaufte Exemplare einschl. Taschenbücher 

"Ich begriff plötzlich, dass vieles, psychologisch gesehen, mit dieser Lagebesprechung zusammenhängt, wenn das Schlimme zum Normalen wird, wenn man in der Lage ist, sich Feinde auszudenken, wo sie nicht gerade 'greifbar' sind, wenn ein Popanz aufgebaut wird, wenn man dreihundert Beamte bei Laune halten will in langen Zeiten terroristischer Inaktivität, wenn man den Launen von dreihundert Beamten nachgibt, wenn der Erfolg gezeugt werden muss durch Inzucht. Die Lage ist die Blackbox der bundesrepublikanischen Terrorismusbekämpfung, ein Regelkreis, der sich aus sich selbst heraus immer wieder neu optimiert." (S. 63)

"Bittere Armut hat überall auf der Welt einen ähnlichen Geruch. Ich hatte ihn eineinhalb Tage später erneut in der Nase, in Glodock, einem Elendsviertel von Jakarta. Man kann ihn am besten als Mischung zwischen dem Gestank einer schwelenden Müllkippe und Verwesungsgeruch beschreiben, er ist auch in Afrika anzutreffen ebenso wie in Südamerika.
Glodock – auf der einen Seite eines kloakenhaften Baches verrichtete ein Mann seine Notdurft, gegenüber spülte eine Frau in demselben Wasser eine Kaffeekanne, und etwas oberhalb von ihr wusch eine andere Frau ihre Füße und Beine, die von tiefen Entzündungen übersät waren." (S.84/85)

"Die Bundesrepublik beabsichtigte, einige Millionen Mark als polizeiliche Entwicklungshilfe für Indonesien auszugeben. [...] Ich sollte herausfinden, wie dieses Geld sinnvoll angelegt werden könnte, denn der Schwerpunkt musste auf Rauschgiftbekämpfung liegen, weil man es anders 'politisch nicht hätte verkaufen können', so wurde ich instruiert.
Bereits bei den Reisevorbereitungen stellte ich fest, was ich auch im Lande selbst bestätigte: es gab in Indonesien überhaupt kein Rauschgiftproblem. Einer Bevölkerung von 147 Millionen standen 491 Rauschgift Fälle gegenüber. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik gab es damals 62.395 Fälle bei61 Millionen Einwohnern. Und als im Folgejahr die Rauschgiftkriminalität in Indonesien auf ganze 901 Fälle kletterte, konnte man, ohne zu lügen, von einer Steigerung um fast 100 % sprechen. Statistisch gewaltig, aber in absoluten Zahlen einen Witz.
Mit meiner Hilfe wurden also die Millionen im Staate der Todesschwadronen investiert:; der Polizeiminister sagte schmunzelnd, dass die Begründung den 'Umbrella' Rauschgift haben müsse." (S.83)
Als er in seinem Bericht die Wahrheit schreibt, wird dieser Bericht während seines Urlaubs umgeschrieben. (S.93-98 o.)

Weitere Publikationen:


Wikipedia: "Auf dem rechten Auge blind (2001)

Schenk belegt in seiner historischen Analyse der Entstehung des BKA, dass 1959 45 der 47 leitenden Beamten ehemalige Mitglieder der NSDAP waren, fast die Hälfte hatte sich aktiv an kriminellen Handlungen beteiligt. Fünf von ihnen waren Schreibtischtäter im Reichskriminalpolizeiamt, fünfzehn Mitglieder von Einsatzgruppen in Polen. Besonders die Laufbahn Paul Dickopfs und des "Charlottenburger Kreises" stehen im Zentrum seiner Untersuchungen.[1][2][...] Das BKA würdigt in der Selbstdarstellung seiner Geschichte die Arbeit Schenks: 

Erst durch seine grundlegenden Forschungen sei eine Aufarbeitung der Geschichte des BKA 

möglich und die Bedeutung ihrer Aufarbeitung deutlich geworden.[4][5][6]"

Vortrag: Personelle Kontinuitäten nach 1945 in der Polizei (BKA) (Mitschnitt eines Vortrags im Rahmen der Reihe "60 Jahre nach Kriegsende)

umfassende Liste

Schenk über die SOKO-Fernsehserie, die er anstieß und für die er viele Jahre als Fachberater arbeitete:

"[...]. Der uralte Krimi-Trick, den wirklichen Täter über lange Strecken als harmlos und unverdächtig erscheinen zu lassen, um ihn zum Schluß zur großen Überraschung aus dem Hut zu zaubern, ist nicht immer der beste. Denn so ist das Leben nicht. Täter haben ein Motiv, das sich finden läßt, nicht ohne Grund ist die Aufklärung von Mordfällen so hoch. Und die Polizei hat entweder gar keinen Verdacht und tappt zunächst im Dunkeln oder der Verdacht entwickelt sich irgendwann in eine bestimmte Richtung, die schließlich zum Erfolg führt. Keineswegs entspricht es polizeilicher Erfahrung, daß der Verdächtige unschuldig und der vermeintlich Unschuldige der Täter ist. Aber es muß auch Fiktion erlaubt sein, denn schließlich soll der Zuschauer unterhalten und nicht belehrt werden. Ein Fernsehkrimi ist keine Dokumentation, sondern fällt unter die Gattung Kunst und genießt verfassungsrechtlich die "Freiheit der Kunst". Die Qualität macht aus, wenn das Grundthema der Geschichte weder banal noch trivial ist und sich die Spannung nach und nach aufbaut, ohne daß der Bogen durch logische Fehler unterbrochen wird. Zum Schluß muß der Zuschauer das Gefühl haben, gemessen an seiner Alltags- und Lebenserfahrung weder manipuliert noch getäuscht worden zu sein. Nach den Gesetzen der Dramaturgie ist das filmische Showdown, der abschließende Höhepunkt legitim. [...]"


Auszüge aus einem Vortrag von Dieter Schenk von Anfang 2022

Über Südafrika:

Die Waffen lieferte Israel, wie ich erfuhr, obwohl Südafrika ähnliche Rassengesetzte praktizierte, wie sie einmal von den Nazis gegen die Juden angewandt worden waren. [...]

Mein Fahrer erzählte mir, dass das Gericht in Pretoria 130 Todesurteile verhängt hätte, alle seien gehenkt worden, nur einer unter ihnen war ein Weißer. [...]

Drei Monate danach meldeten zwei südafrikanische Obristen ihren Besuch im BKA an, was wegen des Embargos eigentlich gar nicht statthaft war. Der Vize-Präsident wollte sie im Namen der Amtsleitung begrüßen und ordnete an, dass ich daran teilnehmen soll. Ich ging davon aus, dass wir die eigentlich unerwünschten Besucher reserviert behandeln werden und er gut vorbereitet war. Ich traute meinen Ohren nicht, als er u.a. zu den Besuchern sagte: „Man muss sich schämen, wie unsere Presse wahrheitswidrig über Ihr Land berichtet.“ [...]

Laos:

"[...] Private Einladung beim deutschen Geschäftsträger, der vom unverhohlenen Abhören der Telefone berichtete. War mal das Abhörpersonal knapp, seien die Telefonverbindungen einfach stillgelegt worden. Der Geheimdienst bewies sogar Sinn für Satire. Der Geschäftsträger besprach mit seiner Frau am Telefon den Einkauf von Fleisch und Wurst, und als seine Frau zum Metzger kam, wurde es ihr bereits eingepackt überreicht.

Vietnam – ein Überwachungsstaat. Blockwartsystem, Geheimpolizei, Parteidiktatur. Kirchen waren zu Lagerhallen umfunktioniert, Tempel brutal zerstört. Hunderttausende flüchteten als Boatpeople. Ich besichtigte mit dem Botschafter ein Gebäude, das als Kanzlei vorgesehen war und beobachtete dabei zufällig eine uniformierte Kindergartengruppe: absoluter Gehorsam und Drill unter einer Kommandostimme der Kindergärtnerin.

Ich stand auf der eisernen Brücke über den Roten Fluss, die immer wieder von den Amerikanern bombardiert worden war und deren geschwungene Silhouette weltbekannt wurde – und dachte an Napalm, den Vietkong, die Kopfschüsse, die Krebskranken hier und an die Krankheitsrate bei den ehemaligen US-Soldaten, verursacht durch das Entlaubungsmittel „agent orange“, und ich dachte an die hohe Suizidrate unter Kriegsveteranen in den USA.

Tausende Intellektuelle verschwanden spurlos in Vietnam, viele erlitten die Todesstrafe wegen angeblich konterrevolutionärer Verbrechen oder wurden in Umerziehungslager jahrelang psychisch gefoltert.1

Obwohl Folter das schlimmste Menschheitsverbrechen überhaupt ist und obwohl fast jeder Staat die UN-Menschenrechtskonvention unterschrieben hat, zeigt sich, dass die Folter nicht auszurotten ist.

Drei Merkmale sind für Folter charakteristisch:

-die Begehung durch eine staatliche Instanz;

-die Intensität der Ausführung, hohe körperliche und/oder seelische Schmerzen zu bereiten;

-und die Intention, nämlich die Tötung, oder die Bestrafung oder das Erlangen eines Geständnisses, oder das Zerbrechen der Persönlichkeit und als Abschreckung gegen jede Form des Widerstandes.2

„Wir können Folter beschreiben oder definieren, aber wirklich erfassen können wir Folter nicht, wenn wir sie nicht selbst erlebt haben.“ (Manfred Nowak, UN-Sonderberichterstatter über Folter).3

Gefoltert wird auch durch Demokratien. Siehe zum Beispiel die USA durch die CIA in Guantanamo auf Kuba und andernorts. Outsourcing von Folter will ich nur erwähnen, aber jetzt nicht vertiefen. Auch gehe ich nicht drauf ein, dass Korruption und Menschenrechtsverletzungen zwei Seiten derselben Medaille sind. [...]

Als „Dank für Mogadischu“, dass nämlich die somalische Regierung den Einsatz der örtlich nicht zuständigen deutschen Spezialeinheit gestattet hatte, leistete die Bundesrepublik Entwicklungshilfe, und das Bundeskriminalamt bildete Beamte aus, richtete ein Kriminallabor ein. Ich ließ es mir zeigen, traf fingerdicken Staub, Flugrost, Feuchtigkeit, Schimmelbildung, defekte Geräte, korrodierte Batterien, alles in allem ein Gerätemuseum an.

Stattdessen fanden in Mogadischu an jedem Samstag auf dem zentralen Platz zur Volksbelustigung öffentliche Hinrichtungen statt. Das Foltergefängnis hieß „Godka“, das Loch.4 Hier wurden Geständnisse erzielt oder das, was man für Geständnisse hielt, jedenfalls nicht mit dem Sachbeweis einer labormäßigen wissenschaftlichen Kriminaltechnik erarbeitet.

[...] In der deutschen Botschaft erfuhr ich, dass ein Todesschwadron in San Salvador den Erzbischof Oskar Romero in seiner Kirche ermordet hatte. Die Mörder waren von der CIA trainiert worden. Der im Volk beliebte Bischof hatte am Tag zuvor in einer Predigt den Terror und die Unterdrückung durch Armee, Nationalgarde und Polizei angeprangert.5 [...]

[...] Unsere Botschaft in Sanaa, Hauptstadt des Jemen, hatte sich zweimal schriftlich beschwert, dass ständig fremde Fahrzeuge im Halteverbot vor der Kanzlei geparkt wurden. Eines Tages fuhr der Innenminister mit seinem Begleitkommando vor, stieg aus, schlug mit einem Baseballschläger die Scheiben der Falschparker ein und fuhr wieder davon. [...]

[...] Angola war ein sowjetischer Satelliten-Staat, und der DDR-Staatssicherheitsdienst hatte dort mit seiner Entwicklungshilfe das Sagen.6

Meine Einreise verlief jedoch ohne Komplikationen, dank Diplomatenpass wurde ich gar nicht kontrolliert.

Das verkrampfte Verhältnis der beiden Botschafter Deutschland-Ost und Deutschland-West im Umgang miteinander, das ich bei einem Empfang in Luanda beobachten konnte, wäre eigentlich eine weitere Darstellung wert. Die beiden einzigen qualifizierten Ärzte vor Ort kamen aus Ost-Deutschland und behandelten insgeheim auch die West-Deutschen. Als Honorar erbaten sie in der Regel die Hefte von SPIEGEL und STERN.

[...] El Salvador war so ein Staat, in dem viele Zivilisten verschwanden oder durch Todesschwadrone erschossen wurden, auch Gewerkschafter und Akademiker. Andere kamen in Incommunicado-Haft ohne Kontakt zu einem Anwalt oder zu Angehörigen.7 Ich schrieb 1988 das Gutachten und sicherte meine Erkenntnisse ab durch die exakte Buchführung der Erzbischöflichen Rechtsschutzstelle „Tutela Legal“ in San Salvador, die alle Vorfälle registrierte. 1259 Opfer gingen auf das Konto von Todesschwadronen. Ich berichtete, dass paramilitärische Gruppen - aber auch die einheimischen Sicherheitskräfte und Polizei - an den Todesschwadronen beteiligt seien.

Letzteres wollte die Amtsleitung des Bundeskriminalamtes nicht lesen. Sie bezweifelten nicht die Richtigkeit, aber Polizisten, die Todesschwadrone bilden, so etwas müsse nicht in einem BKA-Bericht stehen, das ging ihnen offensichtlich gegen den Strich. Ich weigerte mich, es zu ändern. Daraufhin wurden aus dem Text Sätze und Absätze entfernt, und das Gutachten ging unter meinem Namen wie gewöhnlich an das Bundesinnenministerium und an das Auswärtige Amt. Ich remonstrierte dagegen und wurde belehrt, dies sei nicht mein Text, sondern ein solcher des Bundeskriminalamtes, und was darin steht „bestimmen wir“. Außerdem verbot mir der Vize-Präsident, künftig Amnesty zu zitieren. Für mich war es Zensur. [...]

Die Zeit nach dem aktiven Dienst im Bundeskriminalamt.

Den Schlusspunkt der Auseinandersetzung mit dem BKA in Sachen Menschenrechte setzte ich im Jahre 2008 mit dem Buch “BKA – Polizeihilfe für Folterregime“. [...]


Mein Sachbuch „Tod einer Polizistin“ über Frauenfeindlichkeit und Mobbing in der Polizei, was auch eine Form von Menschenrechtsverletzung sein kann, führte dazu, dass nach Erscheinen eine Reihe von Opfern bzw. deren Angehörige mit mir Kontakt aufnahmen. [...]

Am 15. Dezember 2008 wurde ich als „Sachverständiger“ in den Innenausschuss des deutschen Bundestages geladen. Anlass war mein Buch „BKA. Polizeihilfe für Folterregime“, das in diesem Jahr erschienen war und das sich in einem Kapitel Afghanistan widmete.8 [...] Ich erinnere mich, wie bei der Anhörung und Diskussion um den heißen Brei „drumherum geredet“ wurde, um zu verschweigen, dass in Afghanistan eigentlich ein Krieg herrscht. Denn hätte man das eingeräumt, wäre verfassungsrechtlich ein Polizeieinsatz von vorneherein unzulässig gewesen. [...]

Ich verwies in meiner Stellungnahme und auch auf Fragen von Abgeordneten darauf, dass in Afghanistan von Polizei und Geheimdienst weiter systematisch gefoltert werde, das sei unerträglich und spreche dem bisherigen siebenjährigen deutschen Engagement Hohn. [...]

Außerdem erwähnte ich Fakten, die sich auch in den letzten Wochen nach dem Desaster in Afghanistan im Juni bis September 20219 als durchaus aktuell erweisen.

Anmerkungen:

1 AI Jahresbericht 1981, Sozialistische Republik Vietnam

2 Amnesty International: Stop Folter. Hintergrundinformation zur Folter (2014), S. 3; vgl. Dieter Schenk: BKA. Polizeihilfe für Folterregime. Mit einem Vorwort von Barbara Lochbihler, AI-Generalsekretärin der Deutschen Sektion, Dietz-Verlag Bonn, 2008

3 Manfred Nowak: Folter. Die Alltäglichkeit des Unfassbaren, Wien 2012, S. 7

4 AI-Jahresbericht 1981, Somalische Demokratische Republik

5 vgl. Dieter Schenk: BKA Polizeihilfe, S. 35

6 AI Report 1981, 1989, Volksrepublik Angola

7  AI Report 2020, Republik El Salvador; vgl. Dieter Schenk: Interview am 21.6.1994 von Ernesto Cardenal, Kath. Priester, Menschenrechtsverteidiger u. Kultusminister von Nicaragua, Poet u. Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1980 in der Frankfurter Rundschau; Datenbank FR, Dok. Nr. 06061858

8 Dieter Schenk: BKA Polizeihilfe, S. 255-263

9 Abzug der letzten Bundeswehreinheiten am 30.6.2021, der US-Truppen Ende August 2021