"[...] Die Natur selbst, deren anhaltende Beobachtung das sicherste Mittel gegen die Ausschweiffungen der Schwärmerey ist, scheint auf der andern Seite durch die unmittelbaren Eindrücke, so ihr majestätisches Schauspiel auf unsre Seele macht, die erste Quelle derselben zu seyn.
Das angenehme Grauen, so uns beym Eintritt in den dunkeln Labyrinth eines dichten Gehölzes befällt, beförderte ohne Zweifel den allgemeinen Glauben der ältesten Zeiten, daß die Wälder und Hayne von Göttern bewohnt würden. Der süsse Schauer, das Erstaunen, die gefühlte Erweiterung und Erhöhung unsers Wesens, die wir in einer heitern Nacht beym Anblick des gestirnten Himmels erfahren, begünstigte vermuthlich den Glauben, daß dieser schimmervolle, mit unzählbaren nie erlöschenden Lampen erleuchtete Abgrund eine Wohnung unsterblicher Wesen sey.
Aus dieser Quelle kommt es vermuthlich, daß die Landleute, denen ihre Arbeiten keine Zeit lassen, die verworrenen Eindrücke, so die Natur auf sie macht, zu deutlicher Erkenntniß zu erhöhen, überhaupt abergläubischer als andre Leute sind; daher die körperlichen Geister, womit sie die ganze Natur angefüllt sehen; daher die unsichtbare Jagden in den Wäldern, die Feen, die des Nachts auf den Fluren im Kreise tanzen, die freundlichen und die boshaften Kobolte, der Alp, der die Mädchen drückt, die Berg-Geister, die Wasser-Nixen, die Feuer-Männer, und wer weiß, wie viel andre Hirn-Gespenster, von denen sie so vieles zu erzählen wissen, und deren Würklichkeit bey ihnen so ausgemacht ist, daß man sie nicht läugnen kan, ohne in den Augen der meisten von ihrer Classe entweder albern oder gottlos zu scheinen.
Nehmen wir nun alle diese Umstände zusammen, welche sich vereinigten, der romanhaften Erziehung unsers jungen Ritters ihre volle Kraft zu geben, so werden wir nicht unbegreiflich finden, daß er nur noch wenige Schritte zu machen hatte, um auf so abentheurliche Sprünge zu gerathen, als seit den Zeiten seines Landsmanns, des Ritters von Mancha, jemals in ein schwindlichtes Gehirn gekommen seyn mögen."
Wieland: Don Silvio, 1. Buch 3. Kapitel (gutenberg.org)
Wie Don Sylvio mit den Feen bekannt wird
Zum Unglück für seine Vernunft befanden sich unter den Büchern, womit eine grosse Kammer des Hauses angefüllt war, eine Menge Feen-Märchen, wovon Don Pedro ein grosser Liebhaber gewesen war [...] Allein, vermuthlich wollte die Fee, die sich in das Schicksal des jungen Sylvio mischte, nicht zugeben, daß er seine Bestimmung verfehlen sollte; und da er einst in Abwesenheit seiner Tante, deren Ernsthaftigkeit und ewige Sittenlehren ihm sehr beschwerlich zu werden anfiengen, in der Bücher-Kammer herum stöberte, um sich etwas zur Zeitkürzung auszusuchen, so gerieth er, es sey nun von ungefehr oder durch den geheimen Antrieb der besagten Fee, auf ein starkes Heft von Feen-Märchen. Er steckte es voller Freude zu sich, und zog sich, so geschwind er konnte, in den Garten zurück, um den Werth seines Funds ungestört erkundigen zu können; denn es schwante ihm schon beym Anblick der Titel, daß es sehr angenehme Sachen seyn müßten.
Die Kürze dieser Erzählungen war das erste, wodurch sie ihm gefielen, so sehr war er der dicken Folianten müde, woraus er seiner Tante täglich etliche Stunden lang vorlesen mußte. So bald er aber eine oder zwey davon durchlesen hatte, war nichts dem Vergnügen zu vergleichen, das er darüber empfand, und der Gierigkeit, womit er alle die übrigen verschlang.
Ein gewisser Instinct, der auch die einfältigsten unter den jungen Leuten lehrt, was sie ihren Aufsehern sagen dürfen oder nicht, warnte ihn, seine liebe Tante nichts von der Entdeckung merken zu lassen, die er gemacht hatte; allein der Zwang, den er sich hierüber anthun mußte, machte ihm die Feen nur desto lieber, und er würde die ganze Nacht durch gelesen haben, wenn man, wie Tasso ehmals in seinem Gefängniß wünschte, bey den Augen einer Katze lesen könnte. Denn die Vorsicht der Donna Mencia für seine Gesundheit, und für die Ersparung der Kerzen hatte ihm schon von langem her die Mittel zu gelehrten Nacht-Wachen benommen.
Allein, so bald der Tag anbrach, war er schon wieder munter; er nahm sein Heft unter seinem Haupt-Küssen hervor, durchlaß mit fliegenden Blicken ein Märchen nach dem andern, und wie er mit der ganzen Sammlung fertig war, fieng er wieder von vorn an, ohne es müde zu werden. So oft er konnte, begab er sich in den Garten oder in den angränzenden Wald, und nahm seine Mährchen mit. Die Lebhaftigkeit, womit seine Einbildungskraft sich derselben bemächtigte, war ausserordentlich, er las nicht, er sah, er hörte, er fühlte. Eine schönere und wundervollere Natur, als die er bisher gekannt hatte, schien sich vor ihm aufzuthun, und die Vermischung des Wunderbaren mit der Einfalt der Natur, welche der Charakter der meisten Spielwerke von dieser Gattung ist, wurde für ihn ein untrügliches Kennzeichen ihrer Wahrheit.
Dieser Punct fand desto weniger Schwierigkeit bey ihm, da er durch seine bisherige Lebensart vollkommen dazu vorbereitet war. Denn seit dem Anfang seiner Studien, der mit den Verwandlungen des Ovidius gemacht worden, war ihm bisher kein einziges Buch in die Hand gekommen, das ihm richtigere Begriffe hätte geben können; im Gegentheil verschiedene Schriftsteller aus den Zeiten, da die Pythagorisch-Cabbalistische Philosophie durch ganz Europa im Ansehen stund, hatten durch ihre systematische Träumereyen von Planetarischen und Elementarischen Geistern, von Beschwörungen, geheimnisvollen Zahlen, und Talismannen, und von jener vorgeblichen Weisheit, die ihren Besitzer zum Meister der ganzen Natur machen könne, ihn so sehr in seinen Einbildungen befestiget, daß selbst die wundervolle Haselnuß der Babiole, und das Stück Leinwand von vier hundert Ellen, welches der Liebhaber der weissen Katze aus einem Hirsen-Körnlein auspackte, und sechsmal durch das feinste Nadel-Oehr zog, in seinen Augen nichts unbegreifliches hatte.
Es hinderte ihn also nichts, sich dem Vergnügen gänzlich zu überlassen, welches er aus den Feen–Mährchen schöpfte, von denen er nach und nach unter der Maculatur, die den Boden der Bücher-Kammer deckte, noch eine grosse Menge hervor zog, wovon immer eines abentheurlicher als das andre war, und worinn er eine Unterhaltung fand, die er um alle Lustbarkeiten der Welt nicht vertauschet hätte.
Er konnte nicht so vorsichtig seyn, daß seine eben so strenge als scharfaugichte Aufseherin nicht endlich die Ursache seiner häufigen Spatziergänge in das Lustwäldchen entdeckt, und ihm eine sehr scharfe, sehr gelehrte und sehr langweilige Strafpredigt deßwegen gehalten hätte; allein das diente, wie es zu gehen pflegt, zu nichts anderm, als daß Don Sylvio behutsamer wurde, und sich besser in Acht nahm, seine Neigungen und angehende Entwürfe vor ihr zu verbergen.
Die Wahrheit zu sagen, er hatte sie jederzeit mehr gefürchtet als geliebt; allein seit dem sein Gehirn mit Florinen, Rosetten, Brillianten, Cristallinen, und wer weiß, wie vielen andern überirrdischen und unnatürlich schönen Schönheiten angefüllt war, so wurde er nicht selten versucht, die gute alte Tante für eine Art von Caraboße anzusehen, deren tyrannische Ober-Herrschaft ihm von Tag zu Tag unerträglicher wurde.
Sie mochte also sagen, was sie wollte, die Bezauberungen, die Schlösser von Diamanten und Rubinen, die verwandelten oder in Thürme und unterirdische Palläste eingesperrte Princessinnen und die zärtlichen Liebhaber, die unter dem wunderthätigen Schutz einer guten Fee den Nachstellungen einer bösen glücklich entgehen, blieben im gänzlichen Besitz seiner Einbildungs-Kraft; er las nichts anders, er staunte und dichtete nichts anders, er gieng den ganzen Tag mit nichts anderm um, und träumte die ganze Nacht von nichts anderm."
Wieland: Don Silvio, 1. Buch 4. Kapitel (gutenberg.org)
[...] In kurzem gieng er noch weiter; er bemühte sich die Phantasien, womit sein Kopf angefüllt war, zu realisiren, und sich, so gut er konnte, in die Feen-Welt zu versetzen.
Er gab deswegen allem was um ihn war, Namen aus seinen Mährchen. Ein artiges Hündchen, das er hatte, mußte an statt Amorett, wie es vorher hieß, Pimpimp heissen, weil das Hündchen der Princeßin Wunderschön so geheissen hatte; und er verstieß eine aschfarbe Katze mit weissen Pfoten, die sein Günstling gewesen war, um einer ganz weissen willen, die zu Ehren der Princeßin Weißkätzgen mit allen ersinnlichen Höflichkeiten überhäuft wurde. [...]
Inzwischen legte er in einer Ecke seines Gartens eine Art von Laube an, die dem Blumen-Schloß ähnlich seyn sollte, worinn die Fee Immerschöne die süssen Augenblicke, die sie in den Armen ihres geliebten Schäfers genoß, vor ihrem Hofe zu verbergen pflegte. Er ließ etliche Linden, die er dazu bequem fand, so zurichten, daß ihre Stämme die Grundpfeiler, die untersten Aeste den Fußboden, und ihre Wipfel das Dach dieses seltsamen Lusthauses wurden; die Wände waren von Myrthen mit Rosenhecken und Geißblatt durchwunden [...] In diesem Cabinet brachte er oft halbe Nächte mit Träumereyen über die wunderbaren Begebenheiten zu, die er sich wünschte, und die er in kurzem zu erfahren hofte. Unvermerkt schlief er über diesen phantastischen Betrachtungen ein, und günstige Träume setzten die Abentheuer fort, worinn er wachend sich zu verirren angefangen hatte. Eine schöne Princeßin die er liebte, war gemeiniglich der Gegenstand davon; nur war das beschwehrliche dabey, daß er sie allemal in der Gewalt der Fee Fanferlysch oder einer andern neidischen alten Hexe sah, die seiner Liebe die verdrießlichsten Hindernisse in den Weg legte. [...] Der Gedanke einen unsichtbaren Feind von solcher Wichtigkeit zu haben, beunruhigte unsern jungen Helden nicht wenig; jedoch da er in seinen Mährchen keinen von Feen oder Zauberern verfolgten Prinzen gefunden hatte, der nicht von einer andern Fee beschützt worden wäre, so ermunterte ihn die Hofnung wieder, daß er nicht der erste seyn werde, an dem diese Regel eine Ausnahme leiden sollte.
Weil es nun in der Feen-Welt eben so wie in unserer Alltags-Welt der Gebrauch ist, daß man selten jemand Dienste zu leisten pflegt, von dem man nicht eben dergleichen oder noch grössere zurück erwartet; so wünschte sich Don Sylvio nichts so sehnlich, als eine Gelegenheit zu bekommen, sich die Dankbarkeit irgend einer grosmüthigen Fee verbinden zu können.
Indem er einst in diesen Gedanken an einem Graben in seinem Garten vorbey gieng, sah er auf der andern Seite einen Storch, (einige Nachrichten sagen, wiewohl ohne genugsamen Grund, daß es eine Störchin gewesen) im Begriff einen artigen Laubfrosch zu erhaschen, der unbesorgt quackend im Gras herum hüpfte.
Don Sylvio würde auch aus blossem Antrieb seines Herzens, welches sehr gütig und mitleidig war, nicht saumselig gewesen seyn, dem nothleidenden Frosche zu Hülfe zu kommen; Allein der Gedanke, daß es vielleicht eine Fee und wohl gar eben der wohlthätige Frosch seyn könnte, so der Princeßin Mufette und ihrer Mutter so gute Dienste geleistet hatte, setzte ihm Flügel an; er sprang über den Graben, und verjagte mit einem Stecken, den er eben in der Hand hatte, den langbeinichten Erbfeind der Frösche in eben dem Augenblick, da er im Begriff war, den kleinen unschuldigen Quäcker hinunter zu schlingen. Der Storch ließ seinen Raub fallen und entfloh, und das Fröschchen sprang in den Graben, ohne sich zu bekümmern, wem es seine Rettung zu danken habe.
Don Sylvio blieb an dem Graben stehen und erwartete, daß es in Gestalt einer schönen Nymphe, oder doch mit seiner Rosen-Haube auf dem Kopf wieder hervor kommen werde, um sich für einen so wichtigen Dienst gar schön bey ihm zu bedanken: er wartete über eine halbe Stunde, aber zu seiner nicht geringen Befremdung wollte weder Frosch noch Nymphe zum Vorschein kommen.
Eine so ungewöhnliche Undankbarkeit an einer Fee war ihm unbegreiflich. [...]
An einem anderen Tage ging er auf Schmetterlingsjagd. Er "ließ nicht nach, bis er endlich so glücklich war den Papilion zu erhaschen, der ihm mehr Mühe gemacht hatte, als jemals eine Spröde, seit dem es Spröden gibt, ihrem Liebhaber gemacht hat. [...] Er bildete sich so gar ein, (denn Einbildungen kosteten ihn nichts) daß er so laut geseufzt habe, als ein Papilion nur immer seufzen kan.
Mehr brauchte es nicht, um ihn auf seine gewöhnliche Grille zu bringen, und es kam ihm ganz wahrscheinlich vor, daß es vielleicht eine Fee oder eine verwandelte Princeßin seyn möchte. Denn, dachte er, ist die Prinzeßin Burzeline eine Heuschrecke gewesen, so kan eine andre eben so gut ein Sommer-Vogel seyn. Er besann sich also keinen Augenblick ihm die Freyheit wieder zu schenken, um die er ihn so beweglich zu bitten geschienen hatte.
Der erledigte Sommer-Vogel flatterte fröhlich davon; und Don Sylvio gieng ihm nach, voll Erwartung, was daraus werden möchte, als er ein paar Schritte vor sich etwas im Grase blinken sah, welches seine Aufmerksamkeit an sich zog. Er hob es auf, und fand, daß es eine Art von Kleinod war, mit grossen Brillianten besetzt, und an einer Schnur der feinsten Perlen befestiget. Er betrachtete es auf allen Seiten, aber wie groß war sein Erstaunen, als er, von einem ungefehren Druck auf eine Feder, die er nicht bemerkt hatte, einen grossen Türkis in der Mitte auf die Seite springen, und ein kleines sehr künstlich auf Email gemachtes Brustbild entdecken sah, welches eine junge Schäferin von ungemeiner Schönheit vorstellte. [...] Don Sylvio mußte also nothwendig von der Schönheit dieser Schäferin ausserordentlich gerührt werden, da sie unter den Figuren, an die er seine Augen hatte gewöhnen müssen, nicht anders ausgesehen hätte, als wie Latona unter den Einwohnern von Delos, als sie in Frösche verwandelt, ihr am Ufer entgegen quäkten. Kurz, es deuchte ihn unmöglich, daß Gracieuse, Bellebelle, die Schöne mit den goldnen Haaren, oder Venus selbst so schön gewesen seyn könnten, und er wurde vom ersten Anblick an so verliebt in dieses Bildniß, als es jemals ein irrender Ritter, oder ein Arcadischer Schäfer in seine Dulcinea oder Amyrillis gewesen ist.
Endlich, rief er in seiner Entzückung aus, endlich hab ich sie gefunden, sie, die ich mit ahnender Sehnsucht überall suchte, die ich zu lieben bestimmt bin, und o! daß keine zu kühne Hofnung mich täusche! sie, die mein glückliches Schicksal bestimmt hat, mich durch ihre Liebe den Göttern an Wonne gleich zu machen. O! gütige Fee, die du meiner dich annimmst, wer du auch seyst, dir allein danck ich dieses überraschende Glück! Wer anders als du legte in dieser öden Wildniß, die vielleicht vor mir keines Menschen Fuß betreten hat, dieses himmlische Bildniß in meinen Weg? O! [...]
Bald darauf begegnete er dann wirklich der guten Fee. Davon berichtete er seinem Diener Pedrillo:
"Ich war nicht lange auf und nieder gegangen, so sah ich einen plötzlichen Glanz, der die Bäume und Gesträuche weit umher vergüldete. Ich stutzte auf, und erblickte eine feurige Kugel in der Luft, die weit höher als der Mond zu schweben schien, und sich langsam gegen den Ort, wo ich stund, herab senkte. Du kanst dir nicht vorstellen, Pedrillo, wie groß die Freude war, die ich über diesen Anblick empfand.
Die Freude? unterbrach ihn Pedrillo, nun wahrhaftig, Herr, ihr seyd doch nicht wie andre Leute gemacht; ich würde über ein solches Wunderzeichen gleich zu Tod erschrocken seyn, und ihr konntet euch freuen? Sagte ich dir nicht, daß ich keine Zwischenreden haben wollte? versetzte Don Sylvio; wenn ich mich freute, so hatte ich eine sehr gute Ursache dazu; denn ich wußte wohl, daß es eine Fee war, und mein Herz sagte mir vor, daß es diejenige sey, die ich suchte. Meine Erwartung betrog mich nicht. Die feurige Kugel, die im Annähern immer grösser wurde, zersprang nah über mir mit einem grossen Knall, und an ihrer statt sah ich eine wunderschöne Dame auf einem Wagen von Carfunkeln, der von zween feuerfarben geflügelten Schlangen gezogen wurde. Um sie her flatterten auf einer kleinen silbernen Wolke eine Menge Salamander, in Gestalt kleiner geflügelten Knaben von überirrdischer Schönheit; ihre Haare schienen gekräuselte Sonnenstralen, ihre Flügel Feuerflammen, ihr Leib weisser als der Schnee im Sonnenschein, und die Farbe der Morgenröthe schimmerte um ihre Stirn und auf ihren Wangen. Dem ungeachtet wurden sie alle von dem Glanz der Fee verdunkelt, welcher so blendend war, daß mir das Gesicht davon vergangen wäre, wenn sie die Vorsicht nicht gebraucht hätte, mich mit ihrem Stabe zu berühren.
Don Sylvio, sagte sie zu mir, ich bin die Fee Radiante, welcher du neulich in der Gestalt eines kleinen Frosches ein Leben gerettet hast, von welchem so verächtlich es schien, dasjenige abhieng, worinn du mich jezt siehest. Du weißst, daß wir alle hundert Jahre acht Tage lang die Gestalt irgend eines Vogels oder Thiers annehmen müssen, daß wir in dieser Zeit den Gebrauch aller unsrer Macht verliehren, und allen Zufällen ausgesetzt sind, denen die thierische Natur unterworffen ist. Die acht Tage, in denen ich genöthiget war ein Laubfrosch zu seyn, waren bis auf etliche Stunden verstrichen, als das Vergnügen, mich bald wieder in meiner eigenen Gestalt zu sehen, mich unvorsichtig genug machte, meinen Graben zu verlassen, und mich der Gefahr auszusetzen, die mir ohne deine großmüthige Hülfe verderblich gewesen wäre. Der Schrecken, den ich in dem Schnabel des Storchs ausgestanden hatte, hielt mich ab, dir sogleich für meine Errettung zu danken, und da ich in wenigen Stunden meine eigne Gestalt wieder erlangt hatte, nöthigten mich die Salamander, deren Königin ich bin, meine ersten Augenblicke ihren Angelegenheiten zu schenken. Allein so bald ich wieder Zeit hatte an die Meinigen zu gedenken, erinnerte ich mich, wie viel ich dir schuldig sey, und dachte auf Mittel, dir meine Dankbarkeit zu beweisen. Meine Bücher, die ich zu Rathe zog, belehrten mich, daß du vom Schicksal bestimmt seyest eine gewisse Princeßin zu lieben, aber daß deinem Glück Schwierigkeiten entgegen stünden, die du ohne einen mächtigen Beystand schwerlich zu besiegen vermögend seyn werdest. Ich komme nun dir diesen Beystand anzubieten. Deine Geliebte wird von der Fee Fanferlüsch verfolgt, weil sie sich nicht überwinden konnte, einen gewissen Zwerg zu heurathen, der ein Neffe dieser Fee ist, und wegen seiner grünen Farbe der grüne Zwerg, oder auch, weil er gemeiniglich auf einer Bremse zu reiten pflegt, der Bremsen-Reiter genennt wird. Weil die Princeßin unbeweglich blieb, so ist sie vor kurzem von dieser grausamen Fee in einen blauen Papilion mit purpurfarbem Saum verwandelt worden, mit der Bedingung, daß diese Bezauberung nicht eher aufhören solle, bis sie in diesem Zustand einen geliebten Liebhaber gefunden hätte, der ihr den Kopf und die Flügel abreissen würde. Unglücklicher Don Sylvio! der blaue Sommer-Vogel, den du diesen Morgen fiengest, war deine Princeßin; sie sah dich im Walde, und liebte dich so bald sie dich sah; sie floh nur vor dir, weil sie sehen wollte, ob du ihr nachgehen würdest; und ließ sich willig fangen, so bald sie versichert war, daß sie dir selbst in Gestalt eines Sommer-Vogels nicht gleichgültig sey. Als sie sich in deiner Hand sah, bemühte sie sich dir zu sagen, wie angenehm ihr diese Gefangenschaft sey; aber die grausame Fanferlüsch hatte ihr auch die Sprache geraubt, und sie konnte nichts hervor bringen als einen Seufzer, den du unglücklicher Weise für ein Zeichen hieltest, daß sie den Verlust ihrer Freyheit beklage. Dein mitleidiges Herz bewog dich, sie wieder fliegen zu lassen; sie flatterte traurig fort, würde aber vermuthlich bald wieder zurück gekehrt seyn, wenn sie nicht in eben demselben Augenblick den grünen Zwerg erblickt hätte, der auf seiner Bremse angeritten kam, und die Zähne so abscheulich gegen sie blöckte, daß sie sich vor Angst zehen tausend Flügel wünschte, um desto schneller entfliehen zu können. Zum Glück für sie war ich eben im Begriff dich aufzusuchen; ich sah die Gefahr, worinn sich die arme Princeßin befand, und eilte ihr zu Hülfe, nachdem ich einem meiner Salamander befohlen hatte, das Bildniß der Prinzeßin in deinen Weg zu legen. Ich setzte dem grünen Zwerge nach, welcher, zu schwach sich mit mir in einen Kampf einzulassen, alle mögliche Gestalten annahm, um mir zu entwischen. Endlich verwandelte er sich in eine kleine Wolcke, allein ich ward es so gleich gewahr, und drückte ihn zwischen meinen Händen so fest zusammen, daß er in Tropfen zerfloß. Die Leute, die unten im Feld arbeiteten, sahen daß es Blut regnete, und hielten es für eine böse Vorbedeutung. Der grüne Zwerg befand sich so übel in dieser Presse, daß er in seine eigene Gestalt zurück trat; allein er behielt sie nicht lange; ich verwandelte ihn in einen elfenbeinernen Zahnstocher, mit der Bedingung, daß er seine natürliche Gestalt nicht eher wieder bekommen sollte, bis er gedient hätte, den hintersten Stockzahn eines achtzigjährigen Mädchens auszustochern, die noch eine unbefleckte Jungfer wäre.
Beym Element, unterbrach ihn Pedrillo, ich bin der Fee Radamante ihr gehorsamer Diener, aber sie denkt nicht, was sie thut; auf diese Art wird der arme grüne Zwerg ewig ein Zahnstocher bleiben; denn seht ihr, Herr Don Sylvio, ich will nicht Pedrillo heissen, wenn ihr mir in der alten und in der neuen Welt eine achtzigjährige Jungfer finden könnt, die noch Zähne auszustochern hat, oder ein achtzigjähriges Mädchen mit Zähnen, die noch eine Jungfer ist.
Dafür laß ich den grünen Zwerg sorgen, versetzte Don Sylvio, wenigstens wird er lange genug suchen müssen, daß ich nichts von ihm zu besorgen habe. Aber sagte ich dir nicht schon zweymal, daß ich nicht unterbrochen seyn will? wenn wir gute Freunde bleiben sollen, Herr Pedrillo, so laß michs nicht zum drittenmal sagen.
Gut, Herr, erwiederte Pedrillo, fahret nur fort, und erzürnet euch nicht; ich will so still seyn wie eine Maus, ihr wisset, daß ich sonst kein Plauderer bin, aber wie ihr von dem Zahnstocher und von der achtzigjährigen Jungfer – – – –
Zum Henker, rief Don Sylvio, du verfluchtes Plaudermaul, du fängst ja wieder von vornen an – – – –
Nein, Herr, sagte Pedrillo, ich wollte nur sagen, daß ich euch nicht mehr unterbrechen will, und daß ich es auch dißmal nicht gethan hätte, wenn nicht der Zahnstocher – – – –
Ich wollte, schrie Don Sylvio, daß du selbst ein Zahnstocher wärest; so höre doch und schweige, oder das soll das letzte Wort seyn, das du jemals von mir gehöret hast.
Diese Drohung erschreckte den Pedrillo, der seinen jungen Herrn überaus lieb hatte; er legte die Hand auf den Mund, zum Zeichen, daß er nichts mehr sagen wolle [...]
Wieland: Don Silvio, 1. Buch 5.-10. Kapitel (gutenberg.org)
Don Silvios Tante will ihn mit einer spukhässlichen Frau verheiraten. Das erklärt er sich dadurch, dass eine böse Fee ihre Gestalt angenommen hat.
"Ganz gewiß ist es die boshafte Fanferlüsch, die ihre Gestalt
angenommen hat, um desto gewisser die Anschläge zu zerstören,
welche die wohlthätige Radiante zu meinem Glück gemacht hat. Ich
habe Merkmale, Pedrillo, die mir keinen Zweifel übrig lassen, denn
so gut auch diese anmaßliche Donna Mencia sich zu verstellen wußte,
so bemerkte ich doch in der Unterredung, die ich mit ihr hatte,
etlichemal etwas gräßliches in ihren Augen, das meine Tante niemals
gehabt hat. Kurz; denn ich kan mich jetzt nicht umständlich heraus
lassen, ich habe über diesen Punct nicht den mindesten Zweifel.
Fanferlüsch wird die Verwandlung des grünen Zwergs erfahren haben,
und, um zu verhindern, daß ich mit Hülfe der mächtigen Radiante
nicht dazu gelange den blauen Papilion zu entzaubern, ist sie in
Gestalt der Donna Mencia hieher gekommen, um mich zu einer Heurath zu
nöthigen, die ich verabscheuen würde, wenn gleich diejenige, die
sie mir zur Braut aufdringen will, eben so schön wäre als sie
abscheulich ist. " (Wieland: Don Silvio 2. Buch 4. Kapitel)
"Die Gelegenheit war günstig, der Liebhaber ungestümm, die Schöne
schwach; Kurz, sie thaten, was Jupiter selbst in dergleichen
Umständen oft gethan hatte; [...]" (Wieland: Don Silvio 2. Buch 7. Kapitel)
"Das schlimmste war, daß sich, nachdem sie kaum eine Stunde lang
gewandert waren, der Himmel mit Wolken zu bedecken anfieng, die ihnen
kaum so viel Heiterkeit übrig liessen, daß sie einen Weg in dem
Gehölze finden konnten, ob es gleich keines von den dichtesten war.
Dieser Umstand ermangelte nicht die Einbildung des armen Pedrillo
vollends in Verwirrung zu setzen. Es fielen ihm auf einmal alle
Gespenster-Historien ein, die er von seiner Kindheit an gehört
hatte, er glaubte alle Augenblicke etwas verdächtiges zu sehen, und
zitterte bey dem mindesten Geräusch, das er merkte, so laut oder
noch lauter als ein Klopfstockischer Teufel. Du schnatterst ja als ob
du das Fieber hättest, sagte endlich Don Sylvio, der schon lange
gemerkt hatte, wo es ihm fehlte. Um des Himmels willen; gnädiger
Herr, stotterte Pedrillo, und faßte ihn dabey beym Rock, seht ihr
nichts? Ich sehe Bäume, so gut als man sie im Dunkeln sehen kan,
versetzte Don Sylvio. GOtt steh uns bey! sagte Pedrillo keuchend,
seht ihr dann den greulichen Riesen nicht, der dort auf einmal aus
dem Boden hervor kommt, dort linker Hand? Er wird immer grösser und
grösser, und streckt, deucht mich, wohl hundert Arme gegen uns aus,
seht ihr, er kommt immer näher. – – – –
Ich glaube, du bist nicht klug, erwiederte Don Sylvio; thu die Augen
besser auf, und schäme dich, daß du einen Baum für einen Riesen
ansiehest. GOtt gebe nur, daß es nicht noch etwas ärgers als ein
Riese ist, versetzte Pedrillo. Ein Baum sagt ihr? Wo hat denn ein
Baum Arme und Füsse? Ich sage dir alberner Tropf, antwortete Don
Sylvio, daß es ein Baum ist; was du für Arme ansiehst, sind seine
Aeste, er scheint immer grösser zu werden, weil der Grund, worauf
wir gehen, etwas erhaben ist, und er kommt uns immer näher, weil wir
auf ihn zugehen. Wenn du so furchtsam bist, daß du Eichbäume für
Riesen ansiehst, so möcht ich wohl wissen, wofür du die würklichen
Riesen halten wirst, die uns vielleicht noch aufstossen werden? Was
mich betrifft, so schwör ich dir, daß alle Bäume in diesem Walde
zu Riesen werden könnten, ohne daß ich sie fürchten würde. Ich
bitte euch, mein lieber Herr, versetzte Pedrillo, redet nicht so
laut; die Haare stehen mir zu Berge, wenn ich euch so reden höre.
Die Riesen könnten euch beym Worte nehmen; glaubt mir Herr, ein
einziger würde euch so viel zu thun geben, daß ihr genug hättet.
Ich bitte euch ums Himmels willen, geht ihm aus dem Wege, und thut
ihm nichts; es daurte mich nur mein junges Blut; der Popanz würde
keinen Unterschied machen, und ich müßte dran glauben, so
unschuldig ich immer bin. Das dachte ich wohl, antwortete Don Sylvio
lachend, daß es dir nur um deine eigne Haut ist; aber besorge
nichts; die Fee Radiante hat dich ja ausdrücklich zu meinem
Gefährten ernannt, und du stehest also unter ihrem Schutz so gut als
ich selbst. Ich sag es dir noch einmal, wenn aus jedem Baum in diesem
Walde ein Riese würde, und aus jedem Blatt ein junger Feldteufel
hervor kröche, so hätten wir doch nichts zu besorgen." (Wieland: Don Silvio 3. Buch 1. Kapitel)
Als Don Silvio und Pedrillo schlafen, werden sie von zwei sehr jungen Frauen entdeckt, die von Don Silvios Schönheit ganz hingerissen sind. Als Pedrillo erwacht, hält er die etwas ältere wegen ihrer vornehmen Kleidung für eine Fee.
Wer die Dame gewesen, welche Pedrillo für eine Fee angesehen.
Pedrillo, den wir von nun an, oder eigentlicher zu reden, von dem Augenblick an, da ihn die reitzende Laura zum erstenmal angelächelt hatte, als einen Menschen betrachten müssen, von dem ohne Unbilligkeit nicht gefordert werden kan, daß er diejenige Gegenwart des Geistes zeigen soll, wodurch einer, der bey sich selbst ist, sich zu unterscheiden pflegt; Pedrillo, sage ich, hatte die beyden Damen, die ihm in dem vorigen Capitel erschienen, schon eine geraume Zeit aus dem Gesicht verlohren, ehe es ihm einfiel, daß er nicht übel gethan hätte, sich zu erkundigen, wie sie hiessen, oder wo man sie erfragen könnte.
Weil es aber eben so wenig billig wäre, wenn unsre Leser, die vermuthlich nicht verliebt sind, diese Zerstreuung des verliebten Pedrillo entgelten müßten; So halten wir uns verbunden, die Neugier zu befriedigen, die wir uns schmeicheln in ihnen erregt zu haben, indem wir ihnen, ohne die geheimnisvolle Zurückhaltung, womit die Romanen-Dichter uns zuweilen etliche Capitel lang im Zweifel lassen, wer diese oder jene Person sey, mit der sie uns in irgend einem Wirthshauß oder auf der Landgutsche zusammen gebracht haben, jedoch in gröstem Vertrauen, (denn in der That darf Don Sylvio noch nichts davon wissen,) entdecken wollen, wer diese Damen wären, und durch was für einen Zufall sie an den Ort gekommen, wo sie, zum Unglück für die Ruhe ihres Herzens, den schönen Sylvio schlafend und seinen getreuen Achates wachend angetroffen.
Diejenige, welche Pedrillo ihrer Gestalt und ihrer Juwelen wegen für eine Fee angesehen hatte, nannte sich Donna Felicia von Cardena, und befand sich in einem Alter von achtzehn Jahren, die Wittwe von Don Miguel von Cardena, der die Discretion gehabt hatte, ungefehr zwey Jahre nach ihrer Vermählung im siebenzigsten seines Alters zu sterben, und sie als Erbin der unermeßlichen Reichthümer zu hinterlassen, mit deren Erwerbung er beynahe sein ganzes Leben in Mexico zugebracht hatte.
Sie wohnten seit ihrer Vermählung zu Valencia, einer Stadt, die ihrer Schönheit und angenehmen Lage wegen von den Spaniern Vorzugsweise die Schöne genannt wird. Allein so bald Donna Felicia durch den Tod ihres Alten Meisterin von sich selbst wurde, entschloß sie sich, aufs Land zu ziehen, wo sie einem gewissen romanhaften Schwung ihrer Phantasie und ihres Herzens sich ungehinderter überlassen konnte.
Die Poeten hatten bey ihr ungefehr die nehmliche Würkung gethan, wie die Feen-Märchen bey unserm Helden. Wenn dieser seine Einbildungs-Kraft von Verwandlungen, Zaubereyen, Princeßinnen, Popanzen und Zwergen voll hatte, so war die ihrige mit poetischen Gemählden, arcadischen Schäfereyen und zärtlichen Liebesbegegnissen angefüllt; und sie hatte sich den frostigen Armen eines so unpoetischen Liebhabers als ein Ehmann von siebenzig Jahren ist, aus keiner andern Absicht überlassen, als weil die Reichthümer, über welche sie in kurzem zu gebieten hofte, sie in den Stand setzen würden, alle die angenehmen Entwürfe zu realisieren, die sie sich von einer freyen und glücklichen Lebensart, nach den poetischen Begriffen, machte.
(Wieland: Don Silvio 3. Buch 10. Kapitel)
Eilftes Capitel.
Eines von den gelehrtesten Capiteln in diesem Wercke.
Der Geschmack der Leute in der Welt ist so verschieden, daß wir nicht davor stehen können, ob sich nicht Leser finden werden, die sich für die Dame Laura, ob sie gleich nur eine Schöne von der zweyten Classe, oder, um uns gelehrt auszudrücken, eine Dea minorum Gentium ist, vielleicht stärker intereßiren als für ihre Gebieterin selbst. Sollte es solche Liebhaber geben, so werden sie vermuthlich nicht wohl auf uns zu sprechen seyn, daß wir ihnen nicht auch einen Auszug der Geschichte der schönen Laura mittheilen. Allein wir ersuchen sie, sich zu erinnern, daß wir bereits so viel von diesem jungen Frauenzimmer gesagt haben, als man nöthig hatte, um zu sehen, daß sie eine artige, hübsche, witzige und ziemlich lebhafte kleine Person war, und dieses ist, däucht uns, das merkwürdigste, was wir von ihr sagen konnten. Denn was ihre Geschichte betrift, so war sie ein Kammer-Mädchen, und die Geschichte der Kammer-Mädchen ist, wie man weiß, wenigstens nach dem ordentlichen Lauf der Natur, in der ganzen Welt eine und eben dieselbige.
Der berühmte P. Sanchez merket in seinem eben so keuschen als lehrreichen Buche, de Matrimonio an, daß eine angehende Liebe anders auf eine junge Wittwe, und anders auf ein junges Mädchen würke; die erste, sagt er, wird davon munter, aufgeweckt, muthwillig; da man hingegen an der andern ein in sich selbst hinein gezogenes Staunen, und eine stille Schwermuth bemerkt, welche (setzt dieser vortreffliche Mann hinzu) die Würkung des geheimen innerlichen Abscheus ist, den die Seele vor der Gefahr empfindet, aus dem glorreichen Stande der Engel herab zu stürzen, und in eine grobe materielle Leidenschaft zu sinken, die in ihren Folgen endlich zu einer so unanständigen Verkörperung führt, als diejenige ist, wodurch die Welt mit Sünden bevölkert wird.
Wir haben eine zu tiefe Ehrfurcht für die H. Inquisition, als daß wir uns unterstehen sollten, einen so grossen Mann auch nur des kleinsten Irrthums zu beschuldigen; wir wollen also lieber sagen, die Natur habe sehr unrecht gethan, daß sie, ohne die geringste Achtung für die Autorität eines Mannes, der so viel neue Sünden erfunden hat, in der schönen Felicia und ihrer Vertrauten gerade das Wiederspiel von seiner Beobachtung zu würken sich erkühnt habe. Denn so widersinnisch es immer scheinen mag, so gewiß ist es, und so wenig können wir läugnen, daß auf der Reise nach Lirias, wovon jetzt die Rede ist, die junge Wittwe staunend und stillschweigend, und das Mädchen, ungeachtet der Gefahr, vor der ihrer jungfräulichen Seele hätte schauern sollen, so fröhlich und bey so guter Laune war, daß die allerseraphischste Schwester der H. Clara in Versuchung hätte gerathen mögen, sich an ihren Platz zu wünschen. Sie hatten bereits ein ziemliches Stück Weges zurück gelegt, ohne daß Donna Felicia, so begierig auch die muntere Laura auf das Signal wartete, ihren Einfällen Luft zu machen, nur einen einzigen Laut von sich gegeben hätte; es wäre dann, daß man einen Seufzer hieher rechnen wollte, der ihr ungefehr entwischte, eigentlich zu reden aber nur ein Fragment von einem Seufzer war, indem sie ihn eben noch früh genug ertappt hatte, um zwey Drittel davon in ihren verschwiegenen Busen zurück zu drücken. [...]"
(Wieland: Don Silvio 3. Buch 11. Kapitel)
"Daß dieser unbekannte Schläfer der schönste unter allen Sterblichen sey, das hatten ihnen ihre Augen gesagt, und sie breiteten sich mit desto größrer Gefälligkeit über diesen Punct aus, da sie noch keine Gelegenheit gehabt hatten, andre Verdienste an ihm kennen zu lernen. Aber wer er sey, und ob sein Stand und seine moralischen Eigenschaften mit einer so einnehmenden Aussen-Seite übereinstimme, das war eine Frage, gegen deren Bejahung Donna Felicia tausend Zweifel zu erregen wußte, um das Vergnügen zu haben, sie von Lauren beantwortet zu sehen. Nachdem sie nun alles, was nur möglich war, dafür und dawider gesagt hatten, so wurde man endlich einig, daß es im äussersten Grad unwahrscheinlich sey, daß ein Jüngling, dessen Gestalt die Natur mit allem Fleiß dazu gemacht zu haben scheine, um eine vortreffliche Seele anzukünden, nicht der edelste, der tugendhafteste, der tapferste, der angenehmste, mit einem Wort, der liebenswürdigste unter allen, die jemals von Weibern gebohren worden, seyn sollte. [...]
Allein was sollte man aus dem bezauberten Sommervogel, der Princeßin, den Feen und dem Zwerge machen, welche Pedrillo in seine Geschichte eingeflochten hatte? Was sollte man von der Ernsthaftigkeit, dem aufrichtigen Gesicht und dem zuverläßigen Ton denken, womit dieser Bursche, der die Mine gar nicht hatte, als ob er seinen Zuhörerinnen etwas hätte weiß machen wollen, sie versichert hatte, daß sein Herr in eine bezauberte Princeßin verliebt sey, die er mit Hülfe einer grossen Fee zu erlösen im Sinn habe? [...]
Von einem Liebeshandel, worinn Don Sylvio jemals verwickelt gewesen seyn sollte, wollte der Barbier nicht das geringste wissen; hingegen verschwieg er nicht, daß er in der That etwas sonderbares und romanhaftes an sich habe, so ihm jedoch nicht übel lasse, und daß er aus einem gewissen Gespräch, das sie vor etlichen Wochen mit einander geführt, so viel ersehen hätte, daß Don Sylvio einen ausserordentlichen Geschmack an den Feen-Märchen finde, und sich in den Kopf gesetzt habe, daß es lauter wahrhafte Geschichten seyen, daß es würklich Feen gebe, und daß es gar nichts seltsames seyn würde, wenn ihm selbst dergleichen Dinge begegneten. Diese Nachrichten enthielten bey nahe alles, was Donna Felicia zu ihrer Beruhigung nöthig hatte. Allein ob gleich der romanhafte Schwung seiner Einbildungskraft etwas desto angenehmeres für sie hatte, weil er mit ihrer eigenen Sinnesart sympathisierte; So war sie doch auf der andern Seite nicht sehr vergnügt, daß er die Liebe zur Feerey bis zu einem Grad der Schwärmerey trieb, der ihn zu einer Art von Narren machte. Vielleicht, dachte sie, ist er in eine idealische Princeßin verliebt, die er nie gesehen hat, und damit seine Liebe ein desto feen-mäßigers Ansehen bekomme, hat er sich selbst beredet, daß sie von einer Fee, die sich seines Nebenbuhlers annimmt, in einen Sommervogel verwandelt worden sey. Diese Einbildung däuchte sie närrisch genung; aber wenn Don Sylvio lächerlich war, in eine blosse Idee verliebt zu seyn, war es Donna Felicia weniger, da sie über diese arme Idee eyfersüchtig war? [...]
(Wieland: Don Silvio 4. Buch 7. Kapitel)
Inzwischen setzte Don Sylvio mit seinem getreuen Achates, unter mancherlei Gesprächen, wozu ihre Begebenheiten Anlaß gaben, seine irrende Reise fort, und ruhete von Zeit zu Zeit in den anmuthigen Gebüschen aus, womit die bezaubernden Landschaften von Valencia, wie mit Kränzen durchwunden sind. Sie befanden sich würklich in einem kleinen Cypressen-Wald, wohin sie die zunehmende Hitze getrieben hatte, und wo sie sich an der lachenden Aussicht über die blühenden Ebnen ergötzten, die sich zu beyden Seiten des Guadalaviars verbreiteten; als Pedrillo plötzlich eine Entdeckung machte, welche allen Bekümmernissen, Liebesschmerzen und Herumirrungen unsers Helden auf einmal ein erwünschtes Ende zu versprechen schien. Hey sa, gnädiger Herr, rief er, Freude über Freude, wir haben unsre Princeßin gefunden, oder meine Augen müssen bezaubert seyn; seht ihr den blauen Sommervogel nicht, der dort um die Rosenstauden herum flattert? Pedrillo betrog sich nicht gänzlich; es war würklich ein blauer Sommervogel, und Don Sylvio wünschte zu sehr, daß es seine Princeßin seyn möchte, als daß er einen Augenblick daran gezweiffelt hätte. Ich will auf diese Seite herüber gehen, gnädiger Herr, sagte Pedrillo, und ihr schleicht indessen allgemach auf ihn zu; er soll uns nicht entwischen, und ich denke, die Princeßin braucht euch nur zu sehen, so wird sie euch von selbst in die Hände fliegen. [...]
Der Sommervogel schien würklich die Hofnung des Pedrillo zu rechtfertigen; er flog in kleinen Kreisen dem Don Sylvio entgegen, und dieser näherte sich ihm schon mit ausgestreckter Hand, von Freude und Sehnsucht zitternd; als der Unstern unsers armen Liebhabers einen andern weißgrauen Sommervogel herbey führte, der den blauen kaum erblickte, als er mit der Dreistigkeit, die dieser verbuhlten Gattung von Geschöpfen eigen ist, auf ihn zuflog, und sich nicht scheute vor den Augen seines Nebenbulers sich Freyheiten heraus zu nehmen, zu denen er desto mehr berechtiget zu seyn glaubte, da es ihm vermuthlich nicht in den Sinn kam, daß seine geflügelte Schöne eine Princeßin seyn könnte. Don Sylvio gerieth, wie man denken kan, über diese Verwegenheit in eine desto grössere Wuth, da er in dem Widerstand des blauen Schmetterlings einen neuen Grund zu sehen glaubte, daß es ganz gewiß seine Princeßin sey; er warf sich also dazwischen, und war glücklich genug, seinen muthwilligen Nebenbuhler mit einem Stabe, den er in der Hand hatte, zu Boden zu schlagen. Allein die vermeynte Princeßin war indessen in der Angst davon geflogen, und je schneller ihr Don Sylvio und Pedrillo nacheilten, desto schüchterner flatterte sie vor ihnen her, vermuthlich, weil sie noch immer von dem weißgrauen Schmetterling verfolgt zu werden glaubte. Von ungefehr trug sich zu, daß drey oder vier Mädchen aus einem benachbarten Dorfe, um von ihrer Arbeit auszuruhen, am Ufer des Flusses sich in den Schatten gesetzt hatten, und sich damit belustigten, aus den Blumen, welche häuffig um sie her blühten, Kränze zu flechten. Der blaue Schmetterling hatte seine Verfolger so weit hinter sich gelassen, daß sie ihn kaum noch mit den Augen erreichen konnten; und weil er sich jetzt ausser Gefahr glaubte, so fieng er an, wieder ruhiger zu werden, und schweifte so lange von Blume zu Blume, bis er einer von den vorbesagten Dirnen in die Hände gerieth, die ihn haschte, und zum Zeitvertreib an einem Faden, den sie um seine Füsse band, um sich her flattern ließ. Don Sylvio, der schon nahe genug war um dieses Spiel zu beobachten, sagte zu Pedrillo: Nun hab ich einmal den Aufschluß des Traumgesichts, dessen Erklärung mir gestern Morgen so viel zu schaffen machte; es war eine Warnung der Fee, meiner Freundin, die mich das, was mir jetzo begegnet, im Traum vorher sehen ließ, damit ich nicht unvorsichtig in den Schlingen meiner Feinde gefangen würde. Siehst du die Nymphe, die dort im Schatten sitzt, und den blauen Sommervogel an einem Faden um sich her flattern läßt. Eine Nymphe, sagt ihr? antwortete Pedrillo; Sapperment, Herr Don Sylvio, sie sieht einer Nymphe gerad so gleich als einem Fuder Heu; Es ist ein Grasmädchen, so gut als die andern, die dort im Schatten beysammen sitzen. Ich bin zu sehr gewohnt, erwiederte Don Sylvio, daß du alles besser wissen willst als ich, als daß ich mich über deine Unverschämtheit entrüsten sollte. [...]
(Wieland: Don Silvio 4. Buch 8. Kapitel)
Zur Fortsetzung (Teil 2)
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Jan Philipp Reentsma: Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur (Rezensionen bei Perlentaucher, weitere Rezensionen) und in diesem Blog