07 September 2023

Daniel Kehlmann: Ruhm

 Roman in 9 Geschichten

Als ich in der ZEIT eine der Geschichten las und dazu erklärt wurde, der Roman bestehe aus neun Erzählungen, in denen nur über Namen  Zusammenhänge angedeutet würden, war ich enttäuscht. Ich blieb es beim Lesen, bis ich zu der Erzählung "Rosalie geht sterben" (S.51-77) kam. 

Weil sie an einem unheilbaren Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt ist, der im Endstadium sehr schmerzhaft sein soll, meldet sich  Rosalie bei einem Schweizer Sterbeverein an. Auf ihrem Flug nach Zürich schläft sie ein. Als sie aufwacht, ist das Flugzeug in Basel gelandet, weil  Zürich im Nebel liegt. Durch diese Abweichung von ihrem Plan frustriert verhandelt sie mit dem Erzähler, er solle sie leben lassen (S.64). Er lehnt das ab: 

"[...] Rosalie, was hier mit dir geschieht, ist dein Zweck. Dafür habe ich dich erfunden. Theoretisch könnte ich vielleicht eingreifen, aber dann wäre alles sinnlos! Das heißt: ich kann es eben nicht.

Blödsinn, sagt sie. Gerede. Irgendwann wirst auch du an der Reihe sein, und dann wirst du betteln wie ich.
Das ist doch etwas anderes!
Und du wirst nicht verstehen, warum für dich keine Ausnahme gemacht wird.
Das kann man nicht vergleichen. Du bist meine Erfindung, und ich bin…
Ja?
Ich bin real!
So?
Vertrau mir. Es wird nicht weh tun. Dafür wenigstens kann ich sorgen, das verspreche ich dir. [...] (S.64)
Als der Vertreter des Sterbevereins, Herr Freytag, in der Tür steht (S. 73), greift der Erzähler dann doch ein, Kurz berichtet er, was sein ursprünglicher Erzählfortgang war, den er jetzt unterbrochen hat (S. 74, und dann:) 
"Ich hatte alles durchdacht. und jetzt? 
Jetzt ruiniere ich es. Ich reiße den Vorhang weg, werde sichtbar, erscheine neben Freytag in der Lifttür. [...] Rosalie, du bist gesund. Und wenn wir schon dabei sind, sei auch wieder jung. Fang von vorne an! (S.75)
Sie geht als 20-jährige weiter.
Der Erzähler: "Und zugleich, ich kann es nicht leugnen, kommt mir die absurde Hoffnung, dass dereinst jemand dasselbe für mich tun wird. Denn wie Rosalie kann ich mir nicht vorstellen, dass ich nichts bin ohne die Aufmerksamkeit eines anderen, ja daß meine bloß halbwahre Existenz endet, sobald dieser andere den Blick von mir nimmt – so wie eben jetzt, da ich diese Geschichte endgültig verlasse, Rosalies Dasein/ erlischt. Von einem Moment zum nächsten. Ohne Todeskampf, Schmerz oder Übergang. (S.76/77) Es folgen noch drei Sätze auf Seite 77.

"Stimmen" (S. 7-23) Der IT-Techniker wird auf seinem neuen Handy stets als Ralf angesprochen. Er wird von den Anrufen so verwirrt, dass er schließlich mal versucht, auf die Anrufe zu reagieren, als wäre er selbst Ralf und mal so antwortet, als nähme er den Anrufenden nicht für voll.
Gegengeschichte: "Der Ausweg" (S.79-93) Der Schauspieler Ralf Tanner erlebt einen Identitätsdiebstahl, den er sich nicht erklären kann. Seine Bekannten reagieren hysterisch auf ihn, weil der IT-Techniker von S.7ff.  sie mit seinen Zufallsbemerkungen von ihrem Bekannten entfremdet hat.

"In Gefahr" (S. 25-50) Der Schriftsteller Leo Richter beklagt sich über die anstrengenden Touren, wo er immer vor Botschaften und anderen Gesellschaften auftreten muss, seine Agentin Elisabeth hat Mühe, ihn bei der Stange zu halten.
Gegengeschichte: "Osten" (S. 95-119) Maria Rubinstein ist anstelle von Leo Richter mit einer Reisegruppe auf einer Reise in einen heißen kleinen Land. Alles ist kafkaesk unverständlich und unerträglich. Sie wird von ihrer Gruppe getrennt, die nach China weiterreist und bleibt hilflos zurück. Sie versteht nicht die Sprache, kann die Schrift nicht lesen. Ihr Handy ist ohne Strom, ihr Visum abgelaufen. Völlig abgeschnitten von allen arbeitet sie schließlich, um wenigstens Trinken und Essen zu bekommen für eine Einheimische in deren Wohnung wie eine Sklavin..
"Antwort an die Äbtissin" (S. 121-131) Der Lebenshilfeautor M. A. Blancos schreibt an eine  Äbtissin, angesichts von Schmerz sei jede Behauptung, es gäbe Sinn eine "von wohligen Lügen" (S.29). Er beschließt Selbstmord.
"Ein Beitrag zur Debatte" (S.133-158) Der Internet-Nerd Mollwitz würde unheimlich gern in Leo Winters Geschichten vorkommen, aber es gelingt ihm nicht.
"Wie ich lag und starb" (S. 159-190): Der Leiter der Arbeitsgruppe von Mollwitz (in einem Telekommunikationszentrum) steht zwischen Luzia seiner Geliebten, einer Chemikerin, und seiner Frau Hannah, die älter als er ist und von den er einen Sohn hat. Hannah und seinen Sohn sieht nur am Wochenende. - Weil er versucht, seiner Frau und seiner Geliebten vorzuspielen, er liebe nur sie, kommt er mit seiner Arbeit nicht zurecht und wird so für die Vertauschung der Handynummern des Schauspielers Tanner und der IT-Technikers (S.7ff.) verantwortlich.
"Gefahren" (S.191-203): Der Schriftsteller Leo Winter und seine Agentin Elisabeth befinden sich in einem Kriegsgebiet. .Die Heldin seiner Geschichten, Lara Gaspard, tritt auf: 
"Sie sind… " Elisabeth rieb sich die Stirn. "Waren sie nicht… In Amerika?"
"Eine lange Geschichte. Sehr verwickelt. Mein ganzes Leben besteht aus verwickelten Geschichten.".
"Erstaunlich", sagte Rottmann, "wie ähnlich Sie beide sich sehen."
"Finden Sie?" Fragte Lara. 
Elisabeth stand auf und ging wortlos hinaus. 
Sie lehnte sich an die Blechwand. Es war immer noch heiß [...] Erst nach ein paar Sekunden bemerkte sie, dass Leo neben ihr stand.
"Das alles passiert nicht wirklich", sagte sie, "Oder?"
"Hängt von der Definition ab." Er zündet sich eine Zigarette an. "Wirklich. Dieses Wort heißt so viel, daß es gar nichts heißt."
"Deswegen bist du so souverän. So besonnen und allem gewachsen. Das hier ist deine Version, das ist das was du daraus gemacht hast. Aus unserer Reise damals und aus dem, was du über meine Arbeit weißt. Und natürlich ist Lara da."
"Lara ist immer da, wenn ich da bin.
"Ich wusste, du machst das mit mir. Ich wusste, ich komme in eine deiner Geschichten! Genau das wollte ich nicht!"
"Wir sind immer in Geschichten." Er zog an der Zigarette, der Glutpunkt leuchtete auf und dann senkte er sie und blies Rauch in die warme Luft. "Geschichten in Geschichten in Geschichten. Man weiß nie, wo eine endet und wo eine andere beginnt! In Wahrheit fließen alle ineinander. Nur in Büchern sind sie säuberlich getrennt." " (S.200/201)


Die Frauen sind in einer Lebenssituation, der Schriftsteller lebt nur für und in seinem Roman. 
Ruhm als Klammer/Leitmotiv: Mollwitz will ihn, Maria Rubinstein ist verloren, wo man sie nicht kennt. Der IT-Techniker ist wütend über sein Handy, weil es ihn in ein fremdes Leben zieht, der Schauspieler verzweifelt, als er feststellt, dass man ihm seine Identität gestohlen hat. Elisabeth, die nie eine Figur in Leos Geschichten sein wollte, muss feststellen, dass sie offenbar schon längst als Lara in seinen Geschichten vorkommt. Als Idol für die Leser, aber nicht als sie selbst.

Zitate:
"In diesem Moment läutete ihr Telefon." (In Gefahr I, S.50)
"Ihr Telefon läutete. Sie achtete nicht darauf." (In Gefahr II, S.203)

Das sind jeweils die letzten Sätze der - getrennten - Erzählabschnitte.