30 Mai 2024

Fürst Pückler-Muskau: Andeutungen über Landschaftsgärtnerei

Fürst Pückler-Muskau und die Einrichtung von Parks 

Zitate:

"wenn der Park eine zusammengezogne idealisierte Natur ist, so ist der Garten eine ausgedehntere Wohnung. Hier mag also der persönliche Geschmack aller Art sich wohl ein wenig gehenlassen, ja sogar Spielereien und überhaupt das freieste Hingeben an die Phantasie erlaubt sein." (Andeutungen über Landschaftsgärtnerei) 

"ein Garten im großen Stil ist eben nur eine Bildergalerie, und Bilder verlangen ihren Rahmen" [Im Unterschied zum Park, dessen Grenze möglichst versteckt sein sollte, z.B. durch Ha-Ha-Gräben]

Text:

"[...] Jemand sagt sehr richtig: »Das künstlerische Produzieren ist wie eine Ehren- so auch eine Gewissenssache.«

Daher ist es dem echten Kunstsinn gar nicht möglich, sich mit etwas als nicht entsprechend oder gar völlig mißlungen Erkanntem zu begnügen. Er bringt lieber jedes Opfer, als den schändenden Fleck bestehen zu lassen, wäre es auch an sich nur ein untergeordneter Gegenstand, wie die Natur ja ebenfalls die Kleinste ihrer bewunderungswürdigen Schöpfungen mit eben der Liebe und emsigsten Sorgfalt ausstattet und vollendet, als sie den Größten und Erhabensten angedeihen läßt.

Obgleich ich bei meinen Anlagen in Muskau mich nie einen Augenblick von der Grundidee entfernt habe, die ich später zu entwickeln schicklichere Gelegenheit finden werde, so will ich doch gar nicht leugnen, daß sich viele Partien hier befinden, die nicht nur retouschiert, sondern oft gänzlich, einmal, ja drei und viermal umgeändert worden sind. Man irrt sehr, wenn man glaubt, daß durch dieses mannigfache Ändern Verwirrung entstehe, sobald dasselbe überhaupt nur mit Grund und Verstand, und nicht aus bloßer Laune vorgenommen wird, in welchem letztern Falle man sich allerdings sehr in acht zu nehmen haben würde, nicht bloße Veränderung für Verbesserung anzusehen. Sonst aber ist das Prinzip des nonum prematur in annum auch hier anzuwenden, und nicht mit Korrigieren und Feilen zu ruhen, bis man endlich das möglichst Beste als dabei Festzuhaltendes erreicht hat, welches oft die Zeit erst deutlich einzusehen lehrt; diese uns oft so lang werdende Zeit, deren Erfolge zu beobachten und zu berechnen, andere Künstler durch unbeschränkte Herrschaft über das ihnen zur Ausführung gegebene Material glücklich überhoben sind.

Als ich vor einigen Jahren eine geistreiche Dame in meinen Anlagen herumführte, äußerte sie gegen mich sehr bescheiden, »daß sie zwar nur wenig von der Sache verstehe, sich indes mancher pittoreskeren, grandioseren Gegend erinnere als die hiesige, etwas aber, was ihr immer von neuem wohltuend eben hier auffalle, sei die imposante Ruhe, die in dem Ganzen herrsche«. Nie hätte mir ein Lobspruch schmeichelhafter sein können, und ist er gegründet, so kann ich mein Werk in seiner Art für gelungen erachten. Dies danke ich dann aber hauptsächlich dem doppelten Grundsatze, stets nur einer Hauptidee gefolgt zu sein, und dennoch nie etwas bestehen gelassen zu haben, was im einzelnen früher verfehlt wurde.

Man sieht hieraus, wie mißlich es ist, einen fremden Künstler auf einige Tage oder Wochen, oder auch Monate kommen zu lassen, um sofort einen Plan zu machen, auf dem jeder Weg und jede Pflanzung, das Ganze mit allen Details schon genau angegeben ist; oder gar einem solchen Tausendkünstler nur eine Situationskarte zuzuschicken, worauf dieser frisch zum Werke schreitet und, ohne alle geistige Beziehung, ohne alle Lokalkenntnis der wahren An- und Aussichten, der Effekte von Berg und Tal, von hohen und niederen Bäumen, sowohl in unmittelbarer Nähe, als in der entfernteren Gegend seine Linien auf das geduldige Papier hinzeichnet, die sich zwar sehr sauber und hübsch dort ausnehmen können, in der Ausführung aber gewöhnlich etwas höchst Klägliches, Schales, Unpassendes, Unnatürliches und gänzlich Mißlungenes zur Welt bringen. Wer mit den Materialien der Landschaft selbst diese bilden will, muß nicht nur aufs genaueste mit ihnen bekannt sein, sondern auch überhaupt bei der Anlage wie bei der Ausführung, in gar vielen Dingen ganz anders zu Werke gehen, als der Maler auf der Leinwand. Die Schönheit einer wirklichen Landschaft ist, selbst nach einem möglichst treuen Gemälde, nur teilweise, nach einer Karte aber gar nicht zu beurteilen, und ich möchte im Gegenteil dreist behaupten, daß (außer in einer ganz platten Gegend ohne Aussicht, wo überhaupt nur sehr wenig geleistet werden kann) ein dem Auge ganz wohlgefälliger Plan, mit stets angenehm darauf hingeführten Linien, keine schöne Natur darstellen könne, denn um in dieser eine schöne Wirkung hervorzubringen, muß man grade oft die auf dem Papier am schroffsten und ungeschicktesten sich ausnehmenden Verbindungen wählen. [...]"

4. Sumpfiger Boden muß durchaus erst trockengelegt werden, wozu die englische Art vieler unterirdischer Abzüge aus großen Hohlziegeln, die auf Ziegelplatten gelegt werden, und dann sehr dauerhafte kleine Kanäle bilden, welche sich nicht wie Reisig und Feldsteinzüge alle Augenblicke verstopfen, am zweckmäßigsten sein möchten. Ist gehöriges Wasser, und Gefälle zum raschen Fließen desselben vorhanden, so kann man oft sehr liebliche offene Bäche damit bilden, die noch besser entwässern, und zugleich eine große Verschönerung gewähren. Sie müssen aber dann geschickt und naturgemäß geführt werden, sonst verunstalten sie statt zu zieren. Ich rate, für solche kleine Bäche, sie in großen und kühnen Hauptkrümmungen zu ziehen, mehr spitze als runde Bögen, die Ufer dann so flach als möglich zu planieren, um die Grasebene nicht zu schroff zu unterbrechen und zuviel Wiesenboden zu verlieren, dann aber erst dem Bette des Baches, durch Hinwegnehmen von Erde hie und dort, bald an der obern bald an der untern Kante der Ufer, so wie durch angebrachte Büsche, Steine oder Wasserpflanzen, die nötige Mannigfaltigkeit im Detail zu geben. Bei Übermaß an Wasser, und nur geringem Gefälle auf einer sehr unebnen und torfigen großen Wiese in meinem Park, zu deren Entwässerung viele offne Gräben durchaus nötig wurden, die in gewöhnlicher Art gezogen einen unangenehmen Anblick hervorgebracht hätten, bin ich auf den Gedanken gekommen, aus ihr eine Art Delta zu bilden, wodurch ich, dem früher empfohlenen Prinzip gemäß: Einheit durch Vielheit zu gewinnen – mit Hülfe einzelner Pflanzungen vieler Schilf- und Wassergewächse, wie der Belebung durch allerlei Wasservögel, ein ziemlich originelles, und dennoch ganz natürlich erscheinendes Ganze zuwege zu bringen hoffe. Daß zu gleicher Zeit Bewässerung oder Überrieselung, wo sie nur möglich ist, sorgfältig zu bewerkstelligen gesucht werden muß, versteht sich von selbst, und ist hierbei die gänzliche Überschwemmung auf einmal, einige Tage im Frühling, und nach jedem Grashiebe, wo man sie sich verschaffen kann, wohl der täglichen Überrieselung während der heißen Jahreszeit vorzuziehen, von der ich nie großen Nutzen verspürte. 5. Will man Rasenstücke für pleasureground und Gärten anlegen, so mische man die Grasarten ebenfalls nach Maßgabe des Bodens, jedoch mit Vermeidung aller groben Gräser, wie Honiggras, französisches Raygras, Knaulgras u. s. w. (S.573)

In unserm Boden und Klima wird man jedoch eine möglichst schöne und feste Grasnarbe, in kurzer Zeit, am sichersten durch das Legen oder Pflastern mit ausgesucht feinem Hutungsrasen erhalten, den man auf Feldrainen und Waldrändern wohl überall antrifft. Er wird in langen Streifen abgestochen und aufgerollt, dann auf den gut präparierten Boden ebenso wieder aufgelegt, mit hölzernen Pritschen festgeschlagen, etwaige Zwischenräume mit kleinern Stücken ausgestopft, ein wenig gute Gartenerde darübergestreut, hierauf noch etwas von der erwähnten Grassamenmischung obenaufgesät, und zuletzt alles gut eingewalzt und eingegossen. Dies gibt mit Sicherheit das gewünschte Resultat, und sollte später an ein oder der andern Stelle der Rasen etwas ausgehen, so habe ich oft erfahren, daß es hinlänglich war, solche Stellen nur beide wieder abzuschälen und gegenseitig die Rasen umzuwechseln, um auch beide wieder üppig grünen zu machen. Die spätere gute Behandlung ist jedoch die Hauptsache, ohne welche kein kurzer Rasen lange schön bleiben kann. Er muß nämlich bei nassem Wetter alle acht, bei trocknem alle vierzehn Tage gemäht, und wenigstens ebenso oft gewalzt werden, wobei es zweckmäßig ist, das Walzen dem Hauen vorausgehen zu lassen, einmal um kleine Steine und Erhöhungen, an denen die Sense hängenbleibt, vorher ein- und niederzudrücken, zweitens um die Streifen, welche die Walze auf dem Rasen zurückläßt und die mehrere Tage sehr schlecht aussehen, wieder durch das Mähen verwischen zu lassen. Die gewöhnlichen Kornsensen dienen auch beim Gras; jedoch verlangt die Operation größere Übung und einen sehr egalen Strich. Auch muß man, um alle stehenbleibenden Grasränder zu vermeiden, jeden Strich zweimal, hinauf und herab, mähen lassen. Die Morgenstunden, wo der Tau noch liegt, werden bei trockner Witterung am besten dazu benutzt. (S. 591)

Es ist auch ein Vorurteil, alles Moos in solchem Rasen vertilgen zu wollen. Viele Arten desselben bilden oft im Schatten der Bäume, wo kein Gras aushält, bei der erwähnten Behandlung von selbst einen Teppich, der an Weiche dem Sammet gleichkömmt, und an Frische den Rasen fast noch übertrifft. So erinnere ich mich, auf der Insel Wight eine weite Strecke Moosrasen dieser Art gesehen zu haben, der an Elastizität, Saftgrün und Dichtigkeit alles überbot, was mir je von Rasenstücken in England vorgekommen ist, und auch mir gelang es, unter hohen Bäumen sehr anmutige Plätze dieser Art zu bilden. Gleich nach dem Mähen wird das kurze, oft nur staubartige, Gras abgeharkt und hierauf der Rasen mit langen und scharfen Besen regelmäßig auf und ab gekehrt, bis er… (S. 605)

Zum gesamten Inhalt (projekt-gutenberg.org)



27 Mai 2024

Christa Wolf: Ein Tag im Jahr - 3. Folge

Zum vorigen Artikel zu "Ein Tag im Jahr"

Christa WolfEin Tag im Jahr

Nach einigen Monaten Pause habe ich die Lektüre wieder aufgenommen und zunächst den letzten Artikel etwas ergänzt. Jetzt geht es weiter mit der Lektüre

27.9.1960

"Annette ist endlich fertig. Sie ist ein bisschen bummelig und unordentlich, wie ich als Kind gewesen sein muss. Damals hätte ich nie geglaubt, dass ich meine Kinder zurechtweisen würde, wie meine Eltern mich zurechtwiesen. Annette hat ihr Portmonee verlegt. Ich schimpfe mit dem gleichen Worten, die meine Mutter gebraucht hätte: So können wir mit dem Geld auch nicht rumschmeißen, was denkst du eigentlich?

Als sie geht, nehme ich sie beim Kopf und gebe ihr einen Kuss. Mach’s gut! Wir blinzeln uns zu. Dann schmeißt sie die Haustür unten mit einem großen Krach ins Schloss.  
Tinka ruft nach mir. Ich antworte ungeduldig, setze mich versuchsweise an den Schreibtisch. Vielleicht lässt sich wenigstens eine Stunde Arbeit herausholen. Tinka singt ihrer Puppe lauthals ein Lied vor, dass die Kinder neuerdings sehr lieben: 'Abends, wenn der Mond scheint, ins Städtele hinaus…', die letzte Strophe geht so:
Eines Abends in dem Keller.
aßen sie von einem Teller
eines Abends in der Nacht.
hat der Storch ein Kind gebracht… 

Wenn ich dabei bin, versäumt Tinka nie, mich zu beschwichtigen: sie wisse ja genau, dass der Storch gar keine Kinder tragen könne, das wäre ja glatt Tierquälerei. Aber wenn man es singt, dann macht es ja nichts.

Sie beginnt wieder nach mir zu schreien, so laut, dass ich im Trab zu ihr stürze. Sie liegt im Bett und hat den Kopf in die Arme vergraben.

 Was schreist du so?

Du kommst ja nicht, da muss ich rufen.

Ich habe gesagt, ich komme gleich.

Dann dauert es immer noch lange, lange lange bange, bange, bange. Sie hat entdeckt, dass Wörter sich reimen können. Ich wechsle die Binde von ihrem zerschnittenen Fuß. Sie schreit wie am Spieß. Dann spritzt sie die Tränen mit dem Finger weg.  Beim Doktor wird’s mir auch weh tun.

Willst du beim Doktor auch so schreien? Da rennt ja die ganze Stadt zusammen. – Dann musst du mir die Binde abwickeln. – Ja, ja. – Darf ich heute früh Puddingsuppe? – Ja, ja. – Koch mir welche! – Ja, ja.

Der Fußschmerz scheint nachzulassen. Sie kratzt beim Anziehen mit dem Fingernägeln unter der Tischplatte und möchte sich ausschütten vor Lachen. Sie wischt sich die Nase mit dem Hemdenzipfel ab. He! Schreie ich, wer schneuzt sich da in Hemde? – Sie wirft den Kopf zurück, lacht hemmungslos: wer schneuzt sich da ins Hemde, Puphemde…?

Morgen habe ich Geburtstag, da können wir uns heute schon ein bisschen freuen, sagt sie. Aber du hast ja vergessen, dass ich mich schon alleine anziehen kann. – Hab’s nicht vergessen, dachte nur, dein Fuß tut dir zu weh. – Sie fädelt umständlich ihre Zehen durch die Hosenbeine: ich mach das nämlich viel vorsichtiger als du. – Noch einmal soll es Tränen geben, als der rote Schuh zu eng ist. Ich stülpe, einen alten Hausschuh von Annette über den verletzten Fuß. Sie ist begeistert: jetzt habe ich Annettes Latsch an!

Als ich sie aus dem Bad trage, stößt ihr gesunder Fuß an den Holzkasten neben der Tür. Bomm! ruft sie. Das schlägt ein wie eine Bombe! – Woher weiß sie, wie eine Bombe schlägt? Vor mehr als sechzehn Jahren habe ich zum letzten Mal eine Bombe detonieren hören. Woher kennt sie das Wort? 

Gerd liest in Lenins Briefen an Gorki, wir kommen auf unser altes Thema: Kunst und Revolution, [...]" (S.10/11)


1961:
"Als ich ins Zimmer komme, um sie zum Abendbrot zu rufen, klappt Tinka gerade einen der Bildbände zu: habt ihr nur Bilder von Arbeitern? – Warum? – Die will ich nicht mehr sehen. – Warum nicht? – Weiß nicht. Sie sind langweilig.– aber Arbeiter sind doch sehr wichtig. – Wichtig schon. Aber ich will sie nicht immer zusehen. – Was willst du denn lieber sehen? – Na, andere Menschen. Oder wie ich mit Berit im Kinderzimmer spiele…
Gerd ist entzückt. Literaturkritik auf hohem Niveau, sagt er  Der künftige Leser, meldet seine Ansprüche an. Das lass dir mal gesagt sein, Frau Autorin, keine Arbeiter, wenn’s möglich ist. – Dafür muss ich ihn boxen, Tinka wirft sich sofort auf seine Seite und stellt sich schützend vor ihn, während Annette mit ihrem Gerechtigkeitssinn findet, Vater hätte mir nicht die Freude an den Arbeitern verderben dürfen. Sie weiß, woran ich gerade schreibe. 
Das Abendbrot ist ziemlich turbulent, Tinka, versucht, mit durchsichtigen Tricks nacheinander aus jedem von uns rauszukriegen, was für Geschenke sie morgens zu erwarten hat, wir drei sind eine undurchdringliche Front, Annette hat es gern, wenn sie bei solchen Gelegenheiten zu den Erwachsenen zählt. Sie darf den Geburtstagstisch in meinem Zimmer mit aufbauen,  Die fünf Kerzen in den nassen Sand auf dem Teller stecken und ihn mit Asternblüten schmücken, während Tinka schon im Bett liegt und einsames, verstoßenes Kind spielt. Am Ende kriegen beide noch ihr Gute-Nacht-Lied, am liebsten 'Der Mond ist aufgegangen', weil es so viele Strophen hat. Nach der letzten Strophe sagt Tinka jedesmal: Aber wir haben zum Glück keinen kranken Nachbarn, nicht? " (S.37)

1979.

C. Wolf berichtet über eine Lesung aus 'Kein Ort. Nirgends', das Buch, das sie 1978 während der Arbeit daran noch Günderode-Scheiß genannt hatte. Zusammenfassend schreibt sie über das Gespräch danach und das Gespräch mit einer Lehrerin, zu dem sie mit ihrem Mann Gerd eingeladen wird: "Der Abend war außerordentlich." (S.268)  Es war ein Gespräch, wie man es sich bei Wolf vorstellt.

"Eine andere Bibliothekarin [...] sagte, was mich sehr berührte: Sie empfinde bei der Lektüre solcher Bücher wie der meinen, daß sie, die Leser, in ihren tiefsten Anliegen doch eigentlich wortlos seien und daß da ausgedrückt werde, was sie nicht sagen könnten. [...]

Es bleibt die Erkenntnis, dass Literatur bei uns oft als Ersatz für andere, vorenthaltene Möglichkeiten der Selbstverwirklichung herhalten muss." (S.264)

"Herr St. tritt auf den Plan. Zu tun, was einem Spaß mache, sei nun mal im normalen Alltagsleben selten möglich. Dann müsste man eben tun, was notwendig ist, und man werde merken, es mache einem dann oft auch allmählich Spaß: wenn etwas dabei heraus komme. Auf den Erfolg komme es allerdings an.

Ein schönes blondes Mädchen [... ] widersprach ihm: So sei doch die Frage nicht gemeint gewesen. Gemeint sei, wie man sich verhalten soll, wenn man andauernd etwas gegen seine Überzeugung tun müsse." (S.266)

"Im Raum lag eine deutliche Spannung zwischen der Tendenz, sich an konservativen Normen festzuhalten und einem Drang nach Neuem; einigen Gesichtern sah ich an, dass sie manchen Gedanken zum ersten Mal hörten, verblüfft lachten sie auf. Nicht einer verwahrte sich gegen irgendetwas, dafür war nicht die Atmosphäre. Man merkte, daß sie diese Fragen sonst nirgends aussprachen, daß sie aber auch wussten, wie weit sie gehen, wo sie nicht konkret werden durften." (S.267)

Noch einmal lese ich in den Einträgen ab 1990, besonders 1991, 1992, wo sie in Santa Monica, Californien schreibt und 1993, wo ich schon einiges unterstrichen hatte, um mir den Übergang von der DDR zur Einigung oder Übernahme ins wieder erweiterte Deutschland vor Augen zu führen. Dort finde ich die Verletzungen, die sie erlebt hat, als man ihr ihre IM-Tätigkeit als junge Studentin vorgeworfen hat. (S.471-524) 

Wo ich sonst so sehr die genaue Darstellung aus der jeweiligen Gegenwart heraus zu schätzen weiß: hier vermisse ich etwas dein einordnenden Überblick aus dem Rückblick (so sehr mir klar ist, dass er die "Verfälschung" wäre, die sie mit ihren Tagebucheinträgen gerade zu vermeiden sucht). Bin gespannt auf Einträge im neuen Jahrtausend, wie sie dann zurückblickt oder wie manches ihr unwichtiger geworden sein könnte angesichts der neuen Probleme.

Vorläufig kann ich mich weiterhin nicht entscheiden, was ich daraus hier festhalten will. - Habe ich doch in dieser Zeit mich meinerseits mehr mit ihr identifiziert als je, bevor ich angefangen habe, ihre ausführlichen Tagesberichte zu studieren.


Die 80er Jahre

1982

Wolf ist angefragt worden, jemandem zu helfen, der im Gefängnis sitzt.

"[...] Das führt schon zu den zweiten Grund, der mir solche Briefe so schwer macht: Ich will mit denen nichts mehr zu tun haben, nicht einmal als Intervent für andere. Andererseits ist die Möglichkeit für solche erfolgreichen Interventionen einer der Gründe, dafür, dass ich hierbleibe und mir sagen kann: Ich werde gebraucht. Ich kann, wenn auch in noch so begrenztem Umfang etwas tun. Wenn ich den Faden nach oben vollkommen durchtrennen würde, wären zugleich diese wenigen Möglichkeiten abgeschnitten. Aber ich wäre freier. Ich könnte und müsste meinen Abscheu gegenüber Praktiken, unbekannte Leute für die gleichen Delikte einzusperren, für die man bei uns Bekannteren durch die Finger sieht, offen aussprechen. [...]" (S.325) 
Andererseits sieht sie auch die Möglichkeit, ihre Kinder zu schützen. 
"Gerd gibt eine Sentenz aus seinem  Freeman Dyson zum besten, es sei interessant, ich müßte es auch mal lesen: wie der Mann vom Mitarbeiter an der Neutronenbombe zum Anhänger von Friedenspolitik geworden ist… Einer von den beiden Großen muss anfangen, aufzuhören, sagen wir. Aber besteht dafür irgendeine Chance? Der Kehrreim aller meiner Gedanken." (S.326)
Drei Jahre darauf kam Gorbatschow und 'fing an aufzuhören'. Francis Fukuyama mit seinem Ende der Geschichte überschätzte die möglichen Folgen total. Das Zeitfenster für die deutsche Einigung wurde genutzt, aber die Chancen einer Friedensdividende - wenn sie überhaupt gegeben war - in Überschätzung des erreichten Erfolges vom Westen nicht genutzt.
1983
Gespräch mit Christoph Geiser (S.342u-346oben)

1984
"Helene hat ihre Haltepunkte: der Springbrunnenwasserfall vor dem Hotel Metropol, das Wasser der Spree, und diesmal entdeckt sie auf den Masten der Weidendammer Brücke die golden angemalten Sonnen. 'Eine Sonne!' schreit sie und ich muss lange suchen, ehe ich sie finde, und sehe sie durch Helene zum ersten Mal. Merkwürdig: Sie zeigt mir diese Sonnen, und ich habe ihr den ersten Mond ihres Lebens gezeigt, und das hat sie bis heute nicht vergessen: 'Oma Hond zeiget', sagt sie heute noch, wenn sie einen Mond sieht, ob in Natur oder im Bilderbuch. Sie bildet die Vergangenheitsform durch Anhängen von -et an den Wortstamm: 'zeiget, kommet'. Mich wundert, dass sie überhaupt schon das Bedürfnis hat, verschiedene Zeitformen auszudrücken. Wir gehen noch schnell in den Kosmetik-Intershop, weiche Taschentücher für Tinka kaufen. Auf der Straße sehe ich immer in die Gesichter, unbewusst auf der Suche nach einem, in das ich mich hineinfühlen kann. In letzter Zeit habe ich das Gefühl, die werden wir immer fremder, besonders die auf Punk-Art oder im Fünfziger-Jahre-Look frisierten jungen Leute, von denen wir wohl nichts mehr wissen." (27.9.1984)

Ch. Wolf ist jetzt 55 Jahre, das Alter, wo man durchschnittlich den Höhepunkt seiner Karriere im Berufslaben erreicht hat. Einerseits fühlt sie sich überfordert von der Erwartungshaltung an sie, was man sich von ihrer Intervention verspricht. Andererseits fühlt sie sich bestärkt darin, in der DDR auszuharren, weil sie hier gebraucht werde ("Es bleibt die Erkenntnis, dass Literatur bei uns oft als Ersatz für andere, vorenthaltene Möglichkeiten der Selbstverwirklichung herhalten muss.", S.264) Sicher ist auch die Rolle als mehrfache Großmutter und die Möglichkeit, in Notsituationen eine Bestärkung des Gefühls der Gebrauchtwerdens.

1989 27.9.
Wie so kurz vor dem Wendepunkt zwei deutsche Ehepaare (das westdeutsche: Otl Aicher und Inge Aicher-Scholl) zusammenkommen, die beide unter ihrem Deutschland leiden, zu dem sie sich in Widerstand befinden, dessen Vorteile sie aber auch sehen, die sie in der Zukunft bewahrt sehen wollen, indem beide Teile aufeinander zu wachsen. All das noch ohne Wissen über den 9. November! Dann beide Deutschland, "Rücken an Rücken" nach Westen und nach Osten sehend. Dann die vertraute Kenntnis der in Mecklenburg Lebenden mit dem Werk Barlachs (Güstrow), eingehend auf die eher rundköpfigen Nord ostdeutschen (slawischer Ursprung, Barlach Figuren, Angela Merkel) im Unterschied zu den Nordwestdeutschen.


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Rotis im Allgäu, Wohnort der Aichers, nach dem die Schriftart, die Otl A. 1988 veröffentlichte, benannt ist.  
















(S.451)









1990 27.9.
"Schreib alles auf, sagte er noch. Was man nicht aufschreibt, vergisst man. Du sollst das nicht vergessen. [...] In meinem Kalender finde ich, daß wir am 12. Mai an Brechts und Helene Weigels Gräbern auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof standen und Blumen niederlegten. Ihre Grabsteine waren mit Nazisymbolen und der Schmähung 'Saujud' beschmiert worden. Ich wollte mir nicht eingestehen, daß auch dies nun zur Normalität gehören würde." (S.464)

"Unverhohlen verlangte man meinen Schuldbekenntnis als Entreebillet in die westliche Medienlandschaft." (S.465 oben)

"Natürlich handelt es sich um eine Kampagne gegen Sie. Natürlich geht es gar nicht um Ihre Vergangenheit, sondern um Ihre Aktivitäten in der Gegenwart. Das stört. Und natürlich soll bei Ihnen alles, was einen an Hauch von links hat, zerschlagen werden. Die DDR muss unbedingt delegitimiert werden. (S.465 unten)

"Merkwürdigerweise bringt die Art und Weise, wie die Wiedervereinigung betrieben wird, vorher sehr DDR-kritische Leute dazu, sich jetzt gegen die undifferenzierte Verdammung zu wehren. (In der NZZ las ich, dass man 'Reagans Reich des Bösen' nun auch in der DDR ausmachen könne!)" (S.467/468)

1993 27.9.

"[...] erzählen uns Anekdoten von dem Abend, die uns merkwürdigerweise immer erst Tage später einfallen, immer wieder finden wir, wie vorteilhaft es ist, ein Erlebnis miteinander zu teilen, es bekommt noch eine Dimension, mehr Dichte, und sogar unsere oft / unterschiedliche Beurteilung von Leuten, über die wir früher erbittert streiten konnten, lassen wir nun gelten, um sie – was wir erst lange Zeit später bemerken – allmählich in die eigene Sicht mit einfließen zu lassen."   (S.513/514) 


1996
"Es stellt sich heraus, dass viele der Anwesenden die meisten meiner Bücher kennen, nicht vergessen haben und immer wieder betonen, sie hätten in der DDR 'mit ihnen gelebt'. Aber eine DDR Nostalgie verspüre ich nur bei der einen Frau, die, wie sie später herausstellt, Theaterwissenschaftlerin war und ihre Arbeit verloren hat, Jetzt arbeitet sie mit Kindern und findet, wie sie später erzählt, dass die nicht mehr richtig lesen, lernen wie zu DDR-Zeiten und auch keine Bücher mehr lesen. Andere widersprachen, wollten auch nicht zugeben, dass in der DDR alle Leute anspruchsvolle Literatur gelesen hätten, sonst wäre der Run auf Trivialliteratur nach dem Mauerfall nicht so stark gewesen. [...]
Die meisten der anwesenden Frauen haben in der DDR eine gute Ausbildung bekommen, machen jetzt etwas Berufsfremdes, sind dabei aber nicht unzufrieden: C. war Informatikerin, die Leiterin des Frauenzentrums Theaterwissenschaftlerin, ihre Stellvertreterin, Naturwissenschaftlerin. – Sie fragen, wie wichtig das intellektuelle Gewissen für eine Gesellschaft ist, reden über die Beliebigkeit der moralischen Werte in der Wissenschaft. 

Die Diskussion dauert über eine Stunde, ich setze mich danach noch mit einem Glas Wein ins Café, wir reden jetzt persönlicher, sechs, sieben Frauen in der Runde, eine gelöste, freundschaftliche Atmosphäre, familiär. So würde es wohl im Westen auch im kleineren Kreis nicht sein können, das liegt daran, dass wir alle / von unseren Erfahrungen wissen, darüber  muss nicht gesprochen werden. Manche erzählen, dass sie mir schon lange schreiben wollten, leider wird es die eine oder andere es nun tun. Die Rede kommt auch auf den Herbst '89, die Jahre seitdem scheinen sich zu verkürzen." (1996 S. 573/74) 

Ich habe nicht mit Christa Wolfs Büchern 'gelebt'. "Der geteilte Himmel" hat mir gefallen, die Einleitung fand ich sprachlich sehr gelungen. Hermann Kants "Die Aula" fand ich gelungener, moderner.  'Nachdenken über Christa T.' fand ich schwierig, 'Kindheitsmuster' hat mich weniger angesprochen als bei jetzigem Hineinsehen. Den 'Störfall' habe ich mit Interesse (wohl Anfang der 1990er Jahre) gelesen, Kleist/Günderode auch, fand aber wohl etwas weniger hinein. Zu 'Medea' habe ich damals keinen Zugang gefunden. - Jetzt bin ich dankbar, dass eine Person von ihrem Rang mich so nah an ihr Leben heran lässt. Es ist ja etwas anderes als kurze Tagebuchnotizen und etwas ganz anderes als eine gestaltete Autobiographie, wo alles eingeordnet ist.
Christa Wolf war mir vor allem, als sie im Westen plötzlich heruntergemacht wurde, menschlich nahe. Bei der Kritik von Biermann an ihr stand ich auf ihrer Seite, obwohl mir Biermanns Werke deutlich besser gefallen als ihre. 

Christa Wolf  Ein Tag im Jahr 2001 - 2011

2001 
27.9. "[...] Während ich dusche, mich anziehe – bequeme Sachen, vorläufig kann ich zu Hause bleiben –, höre ich, Hunderttausende von Flüchtlingen verlassen Afghanistan in Richtung Pakistan, oder sie ziehen sich aus den von Bombardements bedrohten Städten aufs Land zurück – in beiden Fällen haben sie keine Nahrungsmittel, die UNO warnt vor einer humanitären Katastrophe und fordert Millionen, um das Schlimmste zu verhindern, und ich, unverbesserlich, muss ich mir für den Bruchteil einer Sekunde vorstellen, die an dem künftigen, schon als unausweichlich akzeptierten Krieg beteiligten Länder, allen voran die USA, würden die Hälfte der Milliarden Dollar, die dieser Krieg verschlingen wird, nicht auf die Unterstützung ihrer Rüstungsindustrie durch die Erzeugung neuen Bedarfs verwenden, sondern diese Unsummen den von Hungertuch bedrohten Menschen für Nahrungsmittel, Medikamente, für den Aufbau ihres schon jetzt zerstörten Landes / und für die Bestechung ihre anscheinend käuflichen Stammesführer geben und so womöglich künftigen Terroristen Boden entziehen… 
Unrealistisch? Umso schlimmer für die Realität. Rasend schnell, denke ich, gleitet die gute alte Wirklichkeit ins Absurde ab, die Grenzen des Erzählbaren scheinen immer mehr zu schrumpfen. Darüber wäre zu schreiben, denke ich. – Doch wozu? [...]" (S.17/18)

Wolf ist inzwischen 72 Jahre alt. Ihre Gedanken sind im Jahre 2024 genauso aktuell wie 2001. Ein Unterschied: Die israelische Regierung kennt die Erfahrungen, die die USA seit 2001 gemacht hat. 
Andererseits: Die USA haben die Erfahrungen in Afghanistan und dem Irak gemacht, und sie versuchen nicht, sich "am Hindukusch zu verteidigen", sondern eine andere Lösung. Die steht dem Staat Israel nicht zu Gebot.

Joschka Fischer rechtfertigte sich 1999 in Sachen Kosovo* mit "nie wieder Auschwitz". Dieser Gedanke steht in Israel aus verständlichen Gründen so und so an erster Stelle. 
*[Dort ging es um die Rechtfertigung der ersten Beteiligung Deutschlands an einem Krieg und zwar einem Angriffskrieg auf Serbien, der aufgrund eines Ultimatums an Jugoslawien erfolgte, das die Annahme des Vertrages von Rambouillet forderte, der Geheimbedingungen enthielt, die - aus der Sicht Außenstehender - unannehmbar waren. ]

19 Mai 2024

Heliand: Das künftige Leiden


                               Da hieß er seine guten   Jünger ihm näher-
Treten, die zwölfe,   die ihm die treusten waren
Der Männer auf Erden.   Ihnen sagte der Mächtige
Nun abermals,   welche Angst und Not
Ihm zukünftig wäre.   »Kein Zweifel ist daran.
Jetzt nach Jerusalem   zu der Juden Volk
Geleitet ihr mich.   Da wird alles geleistet,
Dem Volk erfüllt,   was in der Vorzeit einst
Weise Männer von mir   meldeten und wiesen.
Da sollen mich verkaufen   unter die Schächer
Die Helden an die Herrschaft;   da werden mir die Hände gebunden,
Die Arme gefesselt.   Viel erdulden muß ich,
Des Hohnes hören   und der Harmrede,
Schimpfen und Schelten,   viel schmähliche Lästerung.
Sie martern mich entsetzlich   mit der Waffen Schärfe,
Lösen mich vom Leben.   Doch werd ich zu diesem Licht
Durch Gottes Kraft   vom Grab erstehen
Am dritten Tage.   Nicht deshalb kam ich diesem Volk,
Daß die Söhne der Zeit   Schweres um mich litten,
Mir dienten diese Leute;   nicht das will ich begehren,
Von dem Volk erflehen:   ihnen zum Frommen will ich werden,
Ihnen demütig dienen,   für diese Degen all
Meine Seele geben.   Sie selber will ich nun
Mit meinem Leben erlösen,   die hier lange harrten,
Die Menge der Menschen,   meiner Hilfe.
(Heliand: Das künftige Leiden)

13 Mai 2024

Eichendorff: Das Märchen von Kasperl und Annerl und die romantische Ironie

Den Roman habe ich wohl zweimal gelesen, von dem Märchen kannte ich vor allem den Titel. Heute habe ich einige von den Stellen, die ci vor Jahren aus dem Roman festgehalten habe, wieder gelesen, und es fiel mir auf: "Das ist ja romantische Ironie"*. Das, was ich von Tiecks Theaterstück "Der gestiefelte Kater" kenne, was für mich zu der frühen Romantik gehört, was mich aber bei Eichendorff erstaunt. So stelle ich hier das Märchen unabhängig vom Roman noch einmal vor. 
Fiametta baumelte, in Erwartung der Dinge, zufrieden mit den Beinchen. »Nun erzähle was«, sagte sie. Und Fortunat besann sich nicht lange, die alte phantastische Nacht flüsterte verworren durch die Zweige, er fing sogleich aus dem Stegreif an, als spräch' er im Traum:
»Es waren einmal zwei Kinder, Kasperl und Annerl, die hatten einander sehr lieb. Die saßen einmal vor dem Hause und besahen schöne Bilder in einem großen Bilderbuch, das die Annerl mitgebracht hatte, die Vögel sangen im Walde, und das Abendrot ging über die Berge vor ihnen. Auf dem Bilde war eine sehr schöne Gegend zu sehen, fruchtbare Auen, Flüsse, Dörfer und Schlösser, dahinter ein wunderbar gezacktes Gebirg mit einsamen Kapellen und Wäldern, an deren Saum eine Prozession mit bunten Fahnen dahinzog. Das Abendrot schien über das Bild, und wie sie es so mit rechtem Fleiß betrachteten, da fingen auf einmal die gemalten Bäume an, leise zu rauschen, schöne bunte Vögel flogen über die Landschaft, die Brünnlein glitzerten im Gebirg, die Fahnen wehten, sie hörten die Prozession aus weiter Ferne singen. Und eh' sich der Knabe noch besinnen konnte, sah er zu seinem Erstaunen auch das kleine Annchen schon mitten drin, sie winkte ihm fröhlich, er faßte sich endlich ein Herz und sprang ihr nach, so liefen sie beide voller Freuden in das Buch* und die Landschaft hinein. – Als Kasperl einmal zurücksah, war ihr Haus und die Gegend, wo es stand, schon hinter ihnen verschwunden, von der Prozession hörten sie nur noch manchmal den Gesang herübertönen, die Sonne war lange unter, je weiter sie kamen, je einsamer und prächtiger wurde alles. Auf einmal, da sie eben durch einen Felsenbogen traten, erblickten sie ein himmelhohes Gebirge vor sich, daß es ihnen ordentlich den Atem verhielt. Auf dem höchsten Berge stand ein herrliches Schloß, das war von lauter Silber, mit Gold gedeckt, vor dem Schloßtor aber saß eine wunderschöne Frau, die war über einer Harfe eingeschlummert. Aus ihren langen Locken und Gewändern kam ein prächtiger Mondschein und beleuchtete die Alpen und die wundersamen Klüfte, Wälder und Abgründe ringsumher. Unten, wo die Strahlen nicht mehr hinlangen konnten, sahen sie kleine bucklichte Männchen in der Dämmerung lustig von den Felsenzacken Purzelbäume schießen, von fern klang das Glöcklein eines Einsiedlers, ein Jäger, der sich verirrt hatte, stand auf dem Felsen gegenüber und gab zuweilen mit seinem Waldhorn Antwort. Oben aber am Schlosse weideten weiße Schäfchen auf den Abhängen, hoch vom Turm der Burg bliesen Engel auf silbernen Zinken wunderschön über die stillen Gründe.«
»Ach, da möcht' ich auch einmal hin!« rief hier Fiametta freudig aus. – »Es ist nur gar zu weit von hier«, erwiderte Fortunat – »aber wackle nicht so mit den Beinchen, wir fallen sonst beide vom Baum.« – Sie rückte sich nun näher zum Hören zurecht und Fortunat fuhr wieder fort:
»Das ist die Göttin Luna«, antwortete nun Annerl, auf die Frau vom Schlosse weisend. – »Kennst du sie denn?« fragte Kasperl verwundert. – Sie lachte: »Du bist doch noch sehr dumm für dein Alter, bleib jetzt nur dicht bei mir, sonst verirrst du dich hier.« – Kasperl aber sah nun einen alten, großen, geduckten Mann seitwärts am Wege sitzen, der hatte einen Sack voll prächtiger Äpfel umhängen. Da wurde er ganz genaschig, er wollte nur geschwind noch ein paar Äpfel auf den Weg kaufen, wie er aber in den Sack hineinguckt, erwischt ihn der Mann schnell bei den Füßen, wippt ihn so hinein und schnürt den Sack über ihm fest zu. »Aha, nun hab ich dich!« sagte er und streckte zufrieden die Beine aus, um ein wenig auszuruhen.«
»Pfui, der abscheuliche Kerl!« unterbrach ihn hier Fiametta von neuem, »ich möchte so einen Menschenfresser am liebsten gleich zerpflücken! Nun kommen gewiß die armen Kinder auseinander.«
»Ja freilich«, entgegnete Fortunat. »In der Angst und Finsternis arbeitete Kasperl wütend mit seinen Ellbogen in den Äpfeln herum. »Aber sein Sie doch nicht so sackgrob, Sie erdrücken mich ja«, wisperte da plötzlich ein ein feines Stimmchen neben ihm. – »Bist du's?« fragte er leise. »Jawohl«, antwortete das Stimmchen, »ich bin auch gefangen und nage schon lange an dem Sack, daß mir die Zähne weh tun. Jetzt ist der Alte eingeschlafen, hören Sie nur, wie er schnarcht. Sie haben so starke, dicke Finger, sein Sie doch so gütig und helfen Sie mir ein wenig reißen.« – Es war ein allerliebstes, kleinwinziges Mäuschen, das so artig sprach. Kasperl riß nun ganz vorsichtig an dem Sack, das Mäuschen wischte hinaus, biß ihn im Fortspringen noch schelmisch in den Finger und verschlüpfte dann schnell im Mondschein, er hörte es noch fern zwischen den Steinen kichern. Jetzt kroch er selber sacht hervor, steckte noch geschwind einen hübschen Apfel in die Tasche und nahm dann eilig Reißaus. – Aber, Gott weiß, der Alte mußte einen groben Flausrock anhaben, denn Kasperl geriet auf einmal in ein verworrenes, ungebürstetes Gestrüpp, in der Eile hatte er den Weg verloren und war, anstatt herabzuklappern, an dem alten Rockärmel gerade hinaufgelaufen. Als er aber oben stand, erstaunt' er erst recht! Da war der Morgen schon angebrochen, der Menschenfresser unter ihm war nichts anderes als der alte, graue Fels vor seines Vaters Haus, und wo er das prächtige Schloß gesehen hatte und die wunderbaren Klüfte im Mondschein, da lagen jetzt fahle, dicke Wolken übereinander und dehnten sich noch halb im Schlaf. Er sah die Schornsteine in seinem Dorfe rauchen, der Nachbar trat gähnend in die Tür. »Kikereki!« rief er, »Kasperl, du willst wohl den Tag auskrähen, daß du dich da so früh auf den alten Stein-Jürgen gestellt hast.«
»Aber das arme Annerl?« fiel Fiametta wieder ein. – »Wart' nur, es wird gleich noch viel schöner kommen«, erwiderte Fortunat: »Das schöne Annerl war fort und kam nicht wieder, und niemand wußte was von ihr, denn sie war immer nur gegen Abend heimlich aus dem Walde mit ihm spielen gekommen. Da war Kasperl ganz traurig, er mußte viel lernen und sehnte sich sehr und wurde darüber nach und nach groß und stark. Einmal des Nachts aber, als der Mondschein über die Wälder glänzte, da kam es ihm vor, als säße die wunderschöne Frau draußen auf dem Berg vor dem Hause und blätterte in dem alten Bilderbuch, daß der Goldschnitt beim Umwenden zuweilen seltsam über die Bäume am Fenster funkelte. Da wurde er sehr unruhig, und als kaum noch der Morgen dämmerte, saß er schon ganz angezogen in seiner Kammer am Tisch, den Kopf in die Hand gestützt. Da fiel es ihm erst ein, daß er den Apfel, den er damals aus dem Sacke mitgenommen, noch immer in der Tasche hatte. Er nahm ihn heraus und biß vor Schwermut drein, um ihn aufzuessen. Da schreit auf einmal etwas drin, und ein Köpfchen streckt und zwingt sich hervor, und wie er endlich verwundert den Apfel aufbricht, steigt ein kleines, braunes Kerlchen mit Wanderstab und Tasche aus dem Kernhaus. – »Wer bist du?« – »Der Äpfelmann. Adeiu!« – Das Männchen ging über den Tisch fort, blieb aber plötzlich am Rande stehen, weil er nicht herunterkonnte. – »Ich will dir wohl herunterhelfen, du armer Wicht«, sagte Kasperl, »aber du mußt mir dagegen etwas versprechen. Kannst du mich zu der Göttin Luna führen?« – »Warum nicht?« erwiderte das Kerlchen. Da nahm er es sauber zwischen die Finger und setzte es draußen auf den Rasen. Nun traten sie sogleich ihre Wanderschaft an. Der Kleine hinkte, denn Kasperl hatte ihn vorhin im Apfel in die große Zehe gebissen. Kaum aber waren sie weiter in die Heide gekommen, so humpelte das Kerlchen so ungeheuer fix fort wie ein Grashüpfer und lachte und rief immer zurück: »Komm mir doch nach, komm mir doch nach, hast ja so lange Beine!« und ehe sich's Kasperl versah, hatt' er das Kerlchen in dem hohen Grase verloren. Da war er nun wieder so klug wie vorher. – Es war aber gerade ein schöner Sonntagsmorgen. Ein Birnbaum ging eben übers Feld zur Kirche und rauschte Gottes Lob. »Gelobt sei Jesue Christ!« grüßte ihn Kasperl, »habt Ihr nicht so einen kleinen, braunen Pilgrim gesehen?« – »In Ewigkeit«, entgegnete der Birnbaum, »ich glaube, ich habe vorhin so was im Grase zertreten.« – »Ach Gott«, klagte Kasperl, »der hat mich irregeführt, nun weiß ich nicht, wo ich bin! wenn ich nur einen Felsen oder Turm wüßte, um mich ein wenig umzusehen in der Welt.« – »Jetzt hab' ich keine Zeit zu Narreteien«, meinte der Birnbaum; da aber Kasperl betrübt weitergehen wollte, tat es ihm leid. »Nun, komm nur schon, komm, was man auch für Not hat mit euch Kindern«, sagte er und stieg schnaufend und ächzend auf einen hohen Berg hinauf, wo er sich breit zurechtstellte und seine grünen Äste lustig in die blaue Luft hinausstreckte. Das ließ sich Kasperl nicht zweimal sagen, er kletterte schnell bis zum Wipfel hinan – da aber warf er plötzlich seinen Hut hoch in die Luft und schrie Hurra! aus Leibeskräften, denn jenseits erblickte er auf einmal das wunderbare Gebirge wieder, daß ihn ordentlich schwindelte vor großer Freude. – »Nun zaus mich doch nicht so grob, das tut ja weh«, sagte der Baum. Aber Kasperl schwang sich schon hastig wieder hinab; »Gott's Lohn, Gott's Lohn!« rief er einmal übers andre. Der gute Birnbaum aber schüttelte sich zum Valet im Morgenhauch, daß der ganze Rasen voll schöner, goldener Früchte lag, die kollerten und hüpften lustig über den grünen Abhang hinunter, und Kasperl sprang ihnen nach zwischen den Morgenlichtern in die prächtige Gegend hinein. – War nun das Gebirge beim Mondglanz schön gewesen, so war jetzt alles noch vieltausendmal schöner im funkelnden Morgenlicht. Das prächtige Schloß mit seinen stillen Türmen stand ganz in rosenroter Glut, die Bäche waren von purem Gold, die Wälder rauschten und blitzten von Rubinen und Smaragden, auf den Alpen standen Engel umher und fachten mit ihren langen, regengbogenfarbenen Flügeln das Morgenrot an. Und als er endlich zum Walde kam, da erblickte er auf einmal ein wunderschönes Mädchen auf einem weißen Hirsch, die hatte ein lustiges, funkelndes Krönlein im Haar. Mein Gott! die sollt' ich ja kennen, dacht' er bei sich – es war sein liebes Annerl! – Sie hielt lachend still und sagte: »Die schöne Frau Luna ist verwichene Nacht untergegangen, sie läßt dich noch grüßen, ich aber bin ihre Tochter Aurora, die Königin der Wälder.« – »So will ich König sein«, rief Kasperl und schwang sich hinter sie auf den Hirsch, und hui! ging's nun durch die Waldesnacht unter einsamen Burgen, an kühlen Strömen und Gärten und schimmernden Fernen vorüber, und jedem ging das Herze auf, der sie von fern vorüberfliegen sah. – So hausten sie fortan miteinander in freudenreichem Schalle, und da sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute – denn ich bin der verliebte Kasperl, und du die Waldkönigin Aurora, mein liebes, liebes Dichterweibchen!«
So schloß Fortunat und küßte Fiametten auf die verschlafenen Augen. Da stieß sie ihn leise an und wies in das Land hinaus. Ein leiser Schimmer flog über die Gegend, wie wenn ein Kind im Traume lächelt, eine früherwachte Lerche hing schon liedertrunken über ihnen hoch in der Dämmerung. »Grüß dich Gott, du schöne, wunderbare Welt!« rief Fortunat, »jetzt frisch ans Werk!« – Sie schüttelten sich schauernd in der Morgenkühle, er sprang schnell vom Baum, Fiametta folgte, er fing sie unten in seine Arme auf. Dann gingen sie schweigend miteinander durch den dämmernden Garten.
* "ein ästhetisches Verfahren, das darin besteht, die Produktionsbedingungen von Kunst im Kunstwerk selbst zu reflektieren, (oder mit den Worten Friedrich Schlegelsdas Produzierende mit dem Produkt darzustellen. Das Kunstwerk soll dabei in der Schwebe aus einem steten Wechsel aus Selbstschöpfung und Selbstvernichtung gehalten werden, und im Bezug sowohl auf inhaltliche als auch auf formale Elemente." (Wikipedia)
*Dass jemand "in das Buch" kommt, kennen wir heute vor allem aus Cornelia Funkes Tintenwelttetralogie und Michael Endes: Die unendliche Geschichte
* Cornelia Funkes Tintenwelttetralogie mit dem Hineinlesen und Herauslesen mit dem Kampf der literarischen Figuren mit ihren Schöpfern hält das Buch, seine Entstehung und seine Figuren "in der Schwebe aus einem steten Wechsel aus Selbstschöpfung und Selbstvernichtung", wie es Schlegels Formulierung entspricht. Es legt sich nahe, dass sie das Konzept der romantischen Ironie kannte, als sie die Romane konzipierte. 

11 Mai 2024

Mordversuch an Jesus

 

                   So lehrt' er mit Weisheit.   Die Leute liefen zu
Aus ganz Galiläa,   das Gotteskind zu sehn,
Verwundert, von wannen   solch Wort ihm käme,
So weislich gesprochenes,   daß er den Willen Gottes
So wahrhaftig   zu sagen wußte,
So kräftig zu künden.   »Er ist doch ein Kind des Landes,
Ein Mann aus unsrer Mitte;   seine Mutter wohnt bei uns,
Ein Weib aus dem Volke,   wie wir das alle wissen.
So kennen wir seine Abkunft,   seine Kundschaft und Sippe;
Sie erwuchsen hier wie wir.   Wie käm ihm solch Wissen,
Wie vermöcht er mehr   als andre Männer?«
So verachteten ihn alle,   sprachen übel von ihm,
Verhöhnten den Heiligen,   wollten nicht hören
Auf seine Gebote.   Da mocht er der Bilder viel
Ihres Unglaubens wegen   ihren Ohren nicht gönnen
Noch hehre Zeichen zeigen:   er kannt ihren Zweifelsinn,
Ihren widrigen Willen.   Keine andern waren
Unter den Juden so grimm   wie die Galiläer,
So harten Herzens,   obwohl der Heilige Christ
Da geboren war, Gottes Sohn,   doch wollten sie seine Botschaft
Nicht freundlich empfangen,   vielmehr begann das Volk,
Das rohe, zu beraten,   wie sie den reichen Christ
Recht martern möchten.   Sie ließen die Mannen
Sich sammeln und scharen:   Sünde wollten sie
Dem Gottessohne   gern andichten
Aus widrigem Willen.   Seiner Worte achteten sie nicht,
Der weislich gesprochenen,   sondern besprachen sich,
Wie sie den Starken   von einer Steinklippe würfen,
Über einen Burgwall:   sie wollten Gottes Geborenen
Des Lebens ledigen.   Doch er mit seinen Leuten
Fuhr fröhlich einher;   ohne Furcht war sein Herz:
Ihm mochten, wußt er,   die Menschenkinder,
Seiner Göttlichkeit wegen,   die Judenleute,
Eh seine Zeit kam,   nicht Schaden zufügen,
Leidige Verletzung.   Mit seinen Leuten all
Stieg er auf den Steinholm,   der Stätte zu,
Wo sie ihn vom Walle   zu werfen gedachten,
In den Grund zu begraben,   daß er den Geist aufgäbe,
Das Leben ließe.   Doch ward den Leuten ihr Anschlag
Auf dem Berge oben,   der bittre Gedanke,
Den Juden vereitelt:   nicht einer war so grimmen Muts,
So widrigen Willens,   daß sie des Waltenden Sohn,
Den Christ noch erkennten.   So kund war er keinem,
Daß sie ihn unterschieden.   So konnt er unter ihnen stehn,
Mitten in der Menge   der Menschen gehen
Und das Volk durchfahren. –   Den Frieden schuf er sich
Selbst wider die Schar   und schritt dann mitten
Durch das Volk der Feinde   und fuhr dahin,
Wo er wollte, in eine Wüste,   des Waltenden Sohn,
Der Könige kräftigster:   er hatte der Kür Gewalt,
Wo er im Lande   am liebsten wollte sein,
Weilen in dieser Welt. (Heliand: Mordversuch)

Enthauptung Johannes des Täufers

Markus 6,17–29 EU und Matthäus 14,3–12 EU

    Andern Weg fuhr derweil
Mit den Jüngern Johannes,   Gottes Amtmann.
Er lehrte die Leute   langwährenden Rat,
Hieß sie Frömmigkeit üben   und die Frevel meiden,
Mein- und Mordtat,   und war manchem lieb
Der guten Menschen.   Er besuchte den Judenkönig
In seinem Hause, den Heerführer,   der geheißen war
Nach den Eltern Herodes,   der übermütige Mann. [...]

Nun war in dem Jahrgang   des Judenkönigs
Zeit gekommen,   der Zählung gemäß
Erfahrner Volksmänner,   das Fest seiner Geburt,
Da er ans Licht gelangt war.   So war der Leute Brauch,
Daß der Juden jeglicher   das begehen sollte
Und fröhlich feiern.   Da ward in dem Festsaal
Eine mächtige Menge   der Mannen versammelt
Und der Herzoge,   im Hause, wo der Herr saß
Auf dem Königstuhle.   [...]
In der Lust überlegte   der Landeshirt,
Was er die Wonne recht   zu mehren gewährte.
Da ließ er kommen   die kecke Dirne,
Seines Bruders Erzeugte,   wo er zechfroh saß
Auf der hohen Bank.   Da hub er zu ihr an,
Sie vor den Gästen grüßend,   begehrte dringend,
Daß sie vor den Tischgenossen   zu tanzen begänne,
Über dem Estrich schwebend.   »Laß uns alle schauen,
Was du gelernt hast,   der Leute Menge
Zu erfreuen beim Festmahl.   Und erfüllst du die Bitte,
Mein Gesuch hier im Saale,   so versichr ich dir wahrhaft
Laut vor den Leuten,   und leist es auch so,
Ich will dir willig   alles gewähren,
Was du von mir forderst   vor den Festgenossen.
Und heischtest du die Hälfte   meiner Herrlichkeit,
Meines Reiches hier,   der Recken keiner sollt es
Mit Worten wenden,   ich würd es gewähren.«
So ward der Magd   das Gemüt geworben,
Das Herz ihrem Herrn,   daß sie im Hause dort
Zu tanzen begann   vor der Gäste Bänken,
Wie es der Leute   Landweise brachte,
Der Juden Sitte.   Die Jungfrau sang
Und hüpfte in dem Hause,   daß das Herz erfreut ward,
Im Gemüt die Männer.   Als das Mädchen nun
Dort zu Danke   gedient dem Fürsten
Und all der Gesellschaft,   die versammelt war
Von Gästen im Gastsaal,   da begehrte die Gabe
Die Magd vor der Menge.   Mit der Mutter sprach sie
Und fragte sie zuvor   geflissentlich,
Was sie von dem Burgherrn   erbitten sollte:
Die unterwies sie, ihrem Wunsch gemäß,   weiter nichts
Zu begehren vor den Gästen,   als daß man des Johannes
Haupt ihr brächte   in die festliche Halle,
Vom Leibe gelöst.   Das schuf den Leuten Harm,
Im Gemüte den Männern,   als die Magd das sprach.
Auch den König kümmert' es;   doch konnt er sein Geheiß,
Sein Wort nicht wenden.   Er hieß seinen Waffenträger
Aus dem Gastsaal gehn   und den Gottesmann
Des Lebens erledigen.   Unlange währt' es da,
Bis man in die Halle   das Haupt brachte
Des Volksfreundes   und es vor die Dirne trug,
Zu der Magd in der Menge:   die bracht es der Mutter.

So endete von allen   Erdenmännern
Der weiseste wohl,   der in die Welt gekommen,
Des je eine Frau   zu Kind sich erfreute,
Vom Ehmann die Ehfrau;   der eine zählt nicht her,
Den die Magd gebar,   die vom Manne nie
In der Welt gewußt:   nur der waltende Gott
Von der Himmelsau   durch den Heiligen Geist
Hatt ihn ausgegossen:   seinesgleichen hat er nicht,
Vorher noch nachher.   Volksmänner drängten
Sich um Johannes,   seiner Jünger Menge,
Ein selig Gesinde:   im Sande begruben sie
Des Geliebten Leiche   und wußten, daß er Gottes Licht,
Entzückende Himmelsluft   mit dem Herrn zusammen
Genießen dürfe   und die Heimat droben,
Ein Seliger, suchen. –   Da schieden die Gesellen,
Johannes' Jünger,   jammermütig,
Die heiligen Seelen,   um ihres Herren Tod
In schmerzlichen Sorgen.   Zu suchen gedachten sie
Weit in der Wüste   des Waltenden Sohn,
Den kraftreichen Christ,   um ihm kundzutun
Des Gottesmannes Hingang,   wie der Judenkönig
Mit des Schwertes Schärfe   dem seligsten der Männer
Das Haupt enthauen.   Nicht harmvoll sprach darum
Der Sohn des Herrn:   er wußte die Seele
Heilig aufbehalten   wider die Hassenden,
Befriedet vor den Feinden. [...] (Heliand: Enthauptung Johannes des Täufers)


  

10 Mai 2024

Heliand: Stillung des Meeres

  Da kam ein groß Gewühl
Aus allen Gauen   um Christi Gaben willen,
Um des Mächtigen Schutz.   Da wollt ein Meer befahren
Gottes Sohn mit den Jüngern,   an Galiläaland hin,
Auf den Wogen, der Waltende.   Der Leute Gewühl
Hieß er weiterwandern;   mit wenigen stieg
In einen Nachen nur   der Nothelfer Christ,
Von der Reis' erschöpft bis zum Schlafe.   Die Segel hißten
Wetterweise Männer   und ließen vom Winde sich
Über den Meerstrom treiben,   bis in die Mitte kam
Der Göttliche mit seinen Jüngern.   Da begann des Wetters Kraft:
Im Wirbelwinde   stiegen die Wogen,
Nacht schwang sich schwarz hinab,   die See kam in Aufruhr,
Wind und Wasser kämpften.   Angst erwuchs den Leuten,
Da das Meer so mutig ward.   Der Männer versah sich keiner
Längeres Lebens.   Den Landeswart alsbald
Weckten sie und sagten ihm   von des Wetters Kraft,
Flehten, daß gnädig   ihnen der Notretter Christ
Wider das Wasser hülfe,   »sonst werden wir qualvoll
Sterben in diesem Sturm«.   Da stand vom Lager empor
Der gute Gottessohn   und sprach zu den Jüngern:
»Euch darf des Wetters Wut   wenig erschrecken:
Wie hat euch Furcht erfaßt?   Noch nicht fest ist euch das Herz,
Noch laß*euer Glaube.   Nicht lange mehr währt es,
So muß die Strömung   stiller werden
Und das Wetter wonnesam.«  Da sprach er zu dem Winde
Und zu dem Meer zumal   und hieß sie milder
Beide gebaren.   Dem Gebot gehorsam
Und des Waltenden Wort,   stillten die Wetter sich,
Heiter floß die Flut. [...] (Heliand: Stillung des Meeres)

*träge


Die 1916 entworfene Illustration der Ausgabe
zeigt einen Kriegshelden in seinem Wikingerschiff. Verständlich ist das, wenn der Künstler in Kriegszeiten bemüht ist, "frei zu werden von einer gewissen Süßlichkeit, die leider sich in der religiösen Kunst eingeschlichen hatte und die so gar nicht mehr unserem starken Empfinden entspricht" (S.XI)



Weitere Textausschnitte aus dem Heliand
                                                          

08 Mai 2024

Heliand: Bergpredigt

 

Die Bergpredigt

Da ging der Mächtige
Einen Berg hinauf,   der Gebornen hehrster,
Setzte sich sonders   und ersah sich da
Treuhafter Männer   und trefflicher zwölf,
Gar gute Freunde,   die hinfort zu Jüngern
Alle Tage   der Teure gedachte
In seiner Gefolgschaft   mit sich zu führen.
Er nannte sie bei Namen   und hieß sie näher gehn:
Andreas zuerst   vor allen und Petrus,
Die beiden Gebrüder,   und bei den beiden
Jakobus und Johannes,   die Gottgeliebten.
Ihnen war er mildes Muts;   eines Mannes Söhne
Waren sie beide:   die wählte Gottes Sohn,
Die Frommen, in sein Gefolge,   und der Freunde noch viel,
Erlauchte Männer:   Matthäus und Thomas,
Die beiden Judas   und Jakob den andern,
Der ihm selber geschwistert war,   denn von zwei Schwestern
Waren beide, Christus   und Jakob, geboren,
Als Vettern befreundet.   Der Gefährten hatte
Neune nun gekoren   der Nothelfer Christ,
Zuverlässige Männer.   Da hieß er auch den zehnten
Mit seiner Gesellschaft gehn,   Simon geheißen.
Auch den Bartholomäus   hieß er den Berg hinauf
Aus dem Volke fahren,   und dazu Philippus,
Die zwei Getreuen.   Die zwölfe gingen mit ihm,
Die Recken, zur Versammlung,   wo er zu Rate saß,
Der Menge Mundherr,   der dem Menschengeschlecht
Wider der Hölle Zwang   zu helfen gesonnen war,
Aus dem Pfuhl zu fördern   jeden, der folgen will
So lieblicher Lehre,   als er den Leuten dort
Durch seine Weisheit   zu weisen gedachte.

Dem Beseliger Christ   kamen da zunächst
Die Gesellen zu stehn,   die von ihm selber erkoren
Waren, dem Waltenden.   Die weisen Männer
Umgaben den Gottessohn:   ihre Begierde war groß,
Der Erwählten Wunsch,   seine Worte zu hören.
Sie schwiegen und horchten,   was der Herr der Völker,
Der Waltende, wollte   in Worten verkünden
Den Leuten zuliebe.   Da saß der Landeshirt
Den Guten gegenüber,   Gottes eigner Sohn,
Wollt in seiner Rede,   manch sinnvollem Wort,
Die Leute lehren,   wie sie Gottes Lob
In diesem Weltreiche   wirken sollten.
Erst saß er und schwieg,   sah sie lange an,
War ihnen hold im Herzen,   der heilige Herr,
Mild im Gemüte.   Den Mund nun erschloß er
Und wies mit seinen Worten,   des Waltenden Sohn,
Des Hochherrlichen viel.   Den Helden sagt' er
In spähen Sprüchen,   die zu der Sprache
Christ, der Allwaltende,   gekoren hatte,
Welche von allen   Erdenbewohnern
Gott die wertesten   wären der Menschen:

»Ich sag euch sicherlich,   selig sind
In dieser Mittelwelt,   die im Gemüte
Arm sind aus Demut,   denn das ewige Reich
In des Himmels Au   ist ihnen geheiligt,
Ihr Leben schwindet nicht.   Selig auch
Die Sanftsinnigen:   sie sollen dasselbe Land
Besitzen, dasselbe Reich.   Selig dann,
Die ihr Unrecht beweinen,   sie dürfen Freude gewärtigen,
Trost in demselben Reich.   Selig die Getreuen auch,
Die nach Gerechtigkeit richten:   im Reiche des Herrn
Finden sie vollen Lohn.   Des Frommens genießen,
Die gerecht hier richteten,   mit der Rede nicht täuschten
Die Menschen am Mahlstein.   Selig, dem milde war
Das Herz in der Heldenbrust:   ihm wird der heilige Herr,
Der Mächtige, mild.   Selig auch in der Menge,
Die reines Herzens sind:   sie sollen den Himmelswalter
Schaun in seinem Reiche.   Selig sind auch
Die Friedfertigen,   die nicht Fehde stiften,
Mit Schuld sich beschweren:   sie heißen Söhne des Herrn:
Ihnen will er gnädig sein,   daß sie lange genießen
Sollen seines Reichs.   Selig sind dann,
Die das Rechte wollen   und darum von den Mächtigen
Haß und Harmrede dulden:   ihnen auch ist im Himmel
Gottes Au gegönnt   und geistiges Leben
Einst am ewigen Tage,   dessen Ende nicht kommt,
Das wonnige Wohl.«

                                      So hatte der waltende Christ
Den edlen Männern   von acht benannten
Seligkeiten gesagt,   mit denen sicher jeder
Das Himmelreich erhält,   der es haben will,
Oder auf ewig   darbt er dereinst
Des Wohls und der Wonne,   wenn er die Welt verläßt,
Die Erdenlose,   ein ander Licht zu suchen.
Ihm wird Lieb oder Leid,   wie er unter den Leuten hier
Wirkte in dieser Welt,   ganz wie es wörtlich sprach
Christ, der Allwaltende,   der Könige mächtigster,
Gottes eigener Sohn,   zu seiner Jünger Schar.

»Selig seid ihr auch,   wenn euch beschuldigen
Im Lande die Leute   und zu Leide sprechen,
Euch zum Hohne haben   und Harmes viel euch
Erwirken in dieser Welt   und Weh bereiten,
Lasterrede stiften   und starke Feindschaft,
Eure Lehren leugnen,   alles Leid euch antun
Und Harm um den Herrn.   Das darf euch im Herzen nicht
Das Leben verleiden:   ihr erlangt Entschädigung
In Gottes Reiche   für der Güter jegliches:
Groß und mannigfalt   gegeben wird sie euch,
Weil ihr hier ehbevor   Arbeit erduldetet,
Weh in dieser Welt.   Weher wird den andern,
Grimmer ergeht es ihnen,   die hier Gut besaßen,
Weites Weltwohl.   Die verzehren ihre Wonne hier
Im Genuß der Genüge.   Sie sollen aber Not
Nach ihrer Hinfahrt,   die Helden, erdulden.
Dann beweinen die Frevel,   die zuvor hier in Wonnen sind,
In allen Lüsten leben   und nicht lassen wollen
Von den Meingedanken,   wozu ihr Mut sie reizt,
Von leidigem Leben.   Ihr Lohn wird Mühsal sein
Und üble Arbeit;   sie werden das Ende dann
Mit Sorgen sehen;   und beschweren wird ihr Herz,
Daß sie in der Welt so gar   ihrem Willen nachhingen,
Die Männer in ihrem Mute.

                                                Solche Meintat verweist ihnen
Mit wehrenden Worten,   denn weisen will ich euch
Und sicherlich sagen,   ihr meine Gesellen,
Mit wahren Worten,   daß ihr in dieser Welt
Das Salz sollt sein,   der sündigen Menschen
Bosheit zu büßen,   daß auf bessere Wege
Das Volk geführt werde,   des Feindes Werke lassend,
Des Teufels Taten,   des Trösters Reich zu suchen.
So sollen eure Lehren   der Leute viel
Zu meinem Willen wenden.   Wer aber zunichte wird,
Wer die Lehre verläßt,   der er leben soll,
Den vergleich ich dem Salze,   das an des Sees Gestade
Weithin verworfen liegt,   denn wenig taugt es mehr,
Da es die Kinder des Volks   mit Füßen treten,
Die auf dem Grieße gehn.   So geschieht ihm, der Gottes Wort
Den Menschen melden soll:   denn entzweit sich sein Mut,
Daß er mit Herzenslauterkeit   nicht zum Himmel will
Spornen mit seiner Sprache,   sondern spart Gottes Rede
Und wankt in den Worten,   so wird der Waltende ihm gram,
Der Mächtige zornig,   und den Menschenkindern auch
Wird er dann allen,   die auf Erden wohnen,
Verleidet, den Leuten,   der in der Lehre nicht taugt.«

So weislich sprach da,   Gottes Wort verkündend
Und die Leute lehrend,   der Landeswart
Mit lauterm Herzen.  [...]

 so sollt ihr auch euer heilig Wort
In diesen Landen   den Leuten nicht bergen,
Den Helden verhehlen,   sondern es hoch und weit
Breiten, das Gebot des Herrn,   daß es die Gebornen all
In diesen Landen,   die Leute, verstehen
Und so befolgen,   wie es in frühern Tagen
Mit Worten wiesen   hochweise Männer,
Als den Alten Bund   die Edlinge hielten,
Und nur um so strenger noch,   wie ich nun will sagen,
Der Guten jeglicher   seinem Gotte diene,
Als es im Alten Bunde   schon eh geboten war.
Denn wähnt nicht, ich wär   in die Welt gekommen
Etwa, den Alten Bund   umzustoßen,
Beim Volk zu Fall zu bringen   oder der Vorschauer
Worte zu verwerfen,   die sie als wahrhafte Männer
Uns offen anbefahlen:   Erd und Himmel sollten
Zuvor zerfahren,   die so fest gegründet stehn,
Eh der Worte eins nur   unbewährt verbliebe
In dieses Lebens Licht,   das sie den Leuten hier
Wahrhaft wiesen.   Ich kam nicht, die Worte
Der Vorschauer zu fällen,   erfüllen will ich sie,
Mehren und erneuen   den Menschenkindern,
Diesem Volk zum Frommen,   was da vormals geschrieben war
Im Alten Bunde.

                              Ihr hörtet oft sagen
In der Weisen Worten,   wer in der Welt das tue,
Daß er dem andern   das Alter verkürze,
Ihn vom Leben löse,   dem sollten der Leute Kinder
Den Tod erteilen.   Das will ich euch tiefer nun,
Und fester fassen:   Wer in Feindschaft nur,
Ein Mann dem Manne,   in seinem Mute
Sich erbost in der Brust,   die doch Brüder sind,
Ein selig Volk Gottes,   in Sippe eng gesellt,
Die Männer in Magschaft   – und sein Mut ist ihm gram,
Will des Lebens ihn ledigen,   wenn er es leisten könnte –,
Der ist schon verfemt   und dem Tode verfallen,
All solchem Urteil,   eben wie jener war,
Der durch der Hände Kraft   des Hauptes beraubte
Einen andern Mann.

                                    Auch hieß es im Alten Bund
Mit wahren Worten,   wie ihr alle wißt,
Ein jeder solle   seinen Nächsten innig
Im Herzen hegen   und hold den Gesippten sein,
Den Verwandten gut   und im Geben mild,
Die Freunde lieben   und den Feinden haßvoll
Im Streit widerstehn   und mit starkem Sinn
Dem Widersacher wehren.   Ich aber sag euch wahrlich
Voller vor diesem Volk,   die Feinde sollt ihr
Im Herzen hegen,   wie ihr Freunden hold seid,
In Gottes Namen;   tut ihnen Gutes viel,
Zeigt ihnen lautres Herz   und holde Treue,
Erwidert Leid mit Liebe.   Das ist langes Heil
Der Männer männiglichem,   der im Gemüt sich des
Wider Feinde fleißt.   Das frommt euch dazu,
Daß ihr des Himmelskönigs   Söhne geheißen werdet,
Seine biedern Kinder.   Ihr könnt nicht bessern Rat
In dieser Welt gewinnen.

                                            Auch sag ich euch wahrlich,
Den Geborenen allen,   daß ihr mit erbostem Sinn
Eures Gutes keine Gabe   in Gotteshäusern
Dem Waltenden weihen mögt,   die er würdigen wolle
Von euch zu empfahen,   solang ihr Feindschaft noch
Irgend dem andern   und Übles sinnt.
Versöhne zuvor dich   dem Widersacher,
Eintracht verabredend,   dann eile, Geschenke
An Gottes Altar zu geben;   dann sind sie dem Guten wert,
Dem Himmelskönig.   Um seine Huld dient eifriger
Und erfüllt sein Gebot,   als der Juden Brauch ist,
Soll euch zu eigen werden   das ewige Reich,
Ewig währendes Leben.   Auch will ich euch sagen,
Wenn im Alten Bunde   geboten wurde,
Daß einer des andern   Ehe nicht breche,
Ihm die Frau verführe,   so füg ich hinzu,
Daß die Augen einen   schon überreden
Mögen zu düsterm Mein,   wenn er den Mut läßt reizen,
Die zu begehren,   die des andern Gattin ist.
Der hat in sich selber   schon Sünde begangen,
In sein Herz geheftet   der Hölle Pein.
Wen sein rechtes Auge   oder die rechte Hand,
Ein Glied verleiten will   auf den leiden Weg,
Eher frommte wohl   andre Wahl einem
Der Männer im Volke,   daß er es von sich würfe,
Das Glied löste   von dem Leichname
Und ohn es käme   hinauf in den Himmel,
Als daß er mit allen   zum Abgrund führe,
Zur heißen Hölle   mit heilen Gliedern.
Auch mahnt der Menschen   Schwäche, daß männiglich
Dem Freunde nicht folge,   der zum Frevel ihn lockt,
Zur Schuld, der Gesippte.   Und sei er ihm
Durch Sippe beschlechtet   auch noch so stark,
Die Magschaft noch so mächtig,   wenn er zum Mord ihn treiben,
Zu böser Tat bringen will;   besser ist ihm dann,
Den Freund ferne   von sich zu stoßen,
Ihn meidend, Minne   nicht mehr ihm zu zeigen,
Daß er alleine   aufsteigen dürfe
Zum hohen Himmelreich,   als daß sie der Hölle Zwang,
Währendes Wehe   beide gewinnen,
Übelstes Unheil.

                              Im Alten Bunde heißt es auch
Mit wahren Worten,   wie ihr alle wißt,
Daß Meineid meiden   solle der Mensch,
Sich nicht verschwören:   die Sünd ist allzu groß,
Verleitet der Leute   so viel auf leiden Weg.
Doch selber sag ich euch,   daß niemand schwören soll
Irgend Eide   der Erdenwohner:
Bei dem Himmel, dem hohen nicht,   er ist des Herren Stuhl,
Nicht bei der Erde unten,   sie ist des Allwaltenden
Schöner Fußschemel;   auch schwöre keiner
Bei dem eigenen Haupt,   denn kein Haar mag er anders
Erwirken, weiß noch schwarz,   als wie es der Waltende,
Der Mächtige, machte.   Darum meidet der Mensch
Die Eide füglich:   wenn es viel geschieht,
Nimmt er's immer leichter   und wahrt sich zuletzt nicht mehr.
Darum will ich euch mit wahren   Worten gebieten,
Daß niemand schwerere   Eide schwören
Mög unter Menschen,   denn als ich mit meinen
Worten euch wahrhaft   hier will gebieten:
Wer eine Sache sucht,   der sage, was wahr ist,
Spreche ja, wenn es ist,   und ehre die Wahrheit,
Sage nein, wenn es nicht ist,   und genüg ihm daran:
Das Mehr, das darüber   ein Mann noch tun will,
Kommt alles vom Übel   unter den Erdenkindern,
Daß aus Untreue der eine   nicht will des andern
Worte für wahr halten.

                                        Dann sag ich euch wahrlich,
Wenn im Alten Bunde   geboten war,
So einer die Augen   dem andern benehme,
Vom Leibe löse   oder irgendein Glied,
Der soll es selber   mit dem seinen entgelten,
Dem gleichen Gliede:   so lehr ich dagegen euch,
Daß ihr so nicht rächet,   was wider Recht geschieht,
Sondern in Demut   alles erduldet,
Schimpf und Schande   und was man sonst euch zufügt.
Tu immer der Mann   dem andern Manne,
Was ihm frommt und gefällt,   wenn er fordert, daß die Menschen
Ihm Gutes dagegen tun.   Dann wird Gott ihm milde sein
Und der Leute jedem,   der das leisten will.

Ehret die Armen,   den Überfluß teilt
Dem dürftigen Volk   und fragt nicht, ob ihr Dank
Erlangt oder Lohn   in dieser geliehnen Welt.
Überlaßt es lediglich   euerm lieben Herrn,
Die Gaben zu vergelten,   daß Gott euch lohne,
Der mächtige Mundherr,   was aus Minne geschieht zu ihm.
Gäbest du gerne nur   guten Männern
Köstliche Kleinode,   wo du Nutzen könntest
Doppelt erwerben,   hättest du des Verdienst von Gott
Oder Lohn zu erlangen,   der dir alles geliehen hat?
So ist es mit allem,   was du andern tust
Zuliebe, den Leuten,   wenn du Gleiches zu Lohn willst
Für Wort und Werke.   Wie wüßt es der Waltende Dank,
Wenn du das Deine nur hingibst,   es wieder zu heischen?
Den Leuten leiht das Gut,   die es nicht lohnen hienieden,
Und ringet allein   nach des Waltenden Reiche.

Nicht zu offenbar tu es,   wenn du Almosen Armen
Mit den Händen darreichst;   mit demütgem Herzen
Gib es Gott zulieb,   so wird dir Vergeltung,
Gar lieblicher Lohn,   wo du lange sein bedarfst,
Erfreuliches Heil.   Was du aus frommem Sinn
Heimlich hingibst,   das ist dem Herren wert.
Tu nicht groß mit den Gaben:   das soll der Geber keiner,
Daß durch eiteln Ruhm   sie ihm nicht wieder
Leidig verlorengehn,   für die er Lohn sollt empfangen
Vor Gottes Augen,   die guten Werke.

Auch gebiet ich euch noch,   wenn zum Gebet ihr euch neigt
Und euern Herren   um Hilfe bittet,
Daß er die leiden Taten   euch erlassen wolle,
Die Schuld und die Sünde,   womit ihr euch selber
Feindlich gefährdetet,   so tut's vor dem Volke nicht,
Daß es merke die Menge   und die Menschen euch loben
Um das Händefalten:   euer Gebet zu dem Herrn
Geht so all verloren   durch den eiteln Ruhm.
Sondern wollt ihr den Herrn   um Hilfe bitten,
Durch Demut verdienen,   wes euch große Durft ist,
Daß der Spender des Siegs   euch von Sünden befreie,
Dann tut es heimlich,   denn der Herr weiß es doch,
Der heilige im Himmel,   dem nichts verhohlen bleibt,
Nicht Wort noch Werke.   Dann gewährt er euch alles,
Worum ihr ihn bittet,   wenn ihr zum Gebet euch neigt
Mit lauterm Herzen.« [...]

  Da begann der zwölfe einer,

Der begabten Jünger,   zu dem Gottessohne:
»Guter Herr und Lehrer,   deiner Huld ist uns not,
Deinen Willen zu wirken,   deine Worte zu hören,
Der Geborenen bester.   Darum lehr uns beten
Jetzt, deine Jünger,   wie Johannes tut,
Der teure Täufer,   der jeglichen Tag
Die Erwählten unterweist,   wie sie den Waltenden sollen,
Den Geber, grüßen.   So uns, deinen Jüngern,
Enthülle das Geheimnis.«   Der Herrliche hatte
Da ohne Säumen,   der Sohn des Herrn,
Gute Worte bereit:   »Wenn ihr Gott den Herrn
Mit Worten wollt,   den Waltenden, grüßen,
Der Könige kräftigsten,   so sprecht, wie ich euch kundtue.
Vater unser,   aller deiner Kinder,
Der du bist im hohen   Reiche der Himmel,
Geweiht werde dein Name   bei jeglichem Worte;
Zu uns komme   dein kräftiges Reich;
Dein Wille werde   über die Welt gewaltig,
Hie unten auf Erden,   wie er da oben ist,
Hoch im hohen   Reiche der Himmel.
Gib uns, teurer Herr,   die tägliche Notdurft,
Deine heilige Hilfe!   Erlaß uns, Himmelswart,
Alle Übeltat,   wie wir es andern tun,
Und laß uns nicht leidige   Wichte verleiten,
Ihren Willen zu wirken,   wenn wir des würdig sind,
Daß du uns von allem   Übel erlösest.
So sollet ihr bitten,   wenn ihr zum Gebet euch neigt,
Mit würdigen Worten,   daß der waltende Gott
Das Leid euch erlasse,   das ihr den Leuten tatet.
Denn laßt ihr die Leute   gerne ledig
Der Schuld und der Sünden,   die sie selber hier
Wider euch wirkten,   so erläßt der Waltende,
Der allmächtige Vater,   auch euch die Frevel,
Der Meintaten Menge.   Aber wächst euch der Mut,
Daß ihr selber ungern   andern erlaßt,
Was sie wider euch taten,   so will auch euch der Waltende
Die Schuld nicht schenken,   ihr sollt sie entgelten
Mit sehr leidigem Lohn   auf lange Zeiten,
All das Unrecht,   das ihr andern tatet
In dieses Lebens Licht,   wenn ihr an den Leuten
Die Schuld nicht sühntet,   bevor eure Seele
Hinwegfährt von dieser Welt.

                                                    Auch sag ich euch wahrlich noch,
So ihr leben wollt   nach meiner Lehre,
So oft ihr hinfort   die Fasten halten wollt,
Eure Meintat zu mindern,   so tut's vor der Menge nicht,
Vor den Menschen meidet's:   der Allmächtige kennt doch,
Der Waltende, euern Willen,   wenn in der Welt euch auch
Die Leute nicht loben.   Den Lohn gibt euch dann
Euer heiliger Vater   im Himmelreiche,
Wenn ihr in Demut   ihm dientet auf Erden,
Fromm unterm Volke.

                                        Auf vielen Gewinn geht
Nicht aus mit Unrecht:   dient auf zu Gott
Um Lohn, ihr Leute,   das langt länger,
Als ob ihr auf Erden   im Überfluß lebtet,
An Weltlust gewöhnt.   Wollt ihr meinen Worten hören,
So sammelt hier nicht   Schätze Silbers und Goldes,
In diesem Mittelkreis   Mammonsgüter:
Das rottet und rostet,   Räuber stehlen es,
Würmer verwüsten es;   das Gewand zerschleißt,
Der Goldschatz zergeht.   Tut gute Werke,
Häufet im Himmel   euch größern Hort,
Erfreulichern Vorrat,   den kein Feind benehmen mag,
Kein Dieb entwenden.   Es wartet euer
Dort ganz entgegen,   wieviel ihr des Guts
Hin in das Himmelreich,   des Hortes, gesammelt habt
Durch eurer Hände Gabe.   Dahin kehrt den Sinn,
Denn der Menschen Gemüt   und Denken ist meist,
Sein Herz und Sinn,   wo der Hort ihm liegt,
Der gesammelte Schatz.   So selig ist niemand,
Daß er beides erziele   in dieser breiten Welt,
Auf dieser Erde   im Überfluß zu leben
In allen Weltlüsten   und doch dem waltenden Gott
Zu Dank zu dienen,   sondern unter den Dingen
Muß er einem von beiden   auf immer entsagen,
Den Lüsten des Leibes   oder ewigem Leben.

Kümmert euch nicht um Kleidung,   vertraut kühnlich dem Herrn,
Müht euch im Gemüte nicht,   was ihr morgen sollt
Essen oder trinken   oder anlegen
Werdet von Gewändern.   Es weiß der waltende Gott,
Wes die bedürfen,   die ihm dienen hier,
Seinen Befehlen folgen.   An den Vögeln mögt ihr das
Wahrhaft gewahren,   die in der Welt umher
In Federhemden fliegen:   sie häufen nicht Vorrat,
Und Gott gibt ihnen   doch jeglichen Tag
Wider den Hunger Hilfe.   Auch merkt euch im Herzen
Des Gewandes wegen,   wie ihr Gewächse seht
Festlich geschmückt   auf dem Felde stehn
Und prächtig blühen:   nicht mochte der Burgenwart,
Salomon der König,   der doch mächtigen Schatz,
Köstlich Kleinode   wie kein König zuvor
Gewann und aller   Gewande Auswahl,
Doch mocht er seinem Leibe nicht,   dem all das Land gehorchte,
Solch Gewand gewinnen,   wie Gewächse haben,
Die auf dem Felde stehen   im festlichen Schmuck,
Die Lilie mit lieblichen Blumen.   Der Landeswalter kleidet sie,
Der hehre, von der Himmelsau.   Und die Helden sind ihm mehr,
Die Leute viel lieber,   die er ins Land sich schuf,
Der Waltende, zu seinem Willen.   Drum dürft ihr um Gewand nicht sorgen,
Nicht um den Anzug jammern:   für das alles sorgt Gott,
Der Helfer von der Himmelsau,   wenn ihr um seine Huld nur dient.
Trachtet zuerst nach Gottes Reich   und tut gute Werke,
Nach dem Rechten ringt,   so will euch der reiche Herr
Alle Güter geben,   wenn ihr ihm gerne folgt,
Wie ich mit wahren   Worten euch sage.

Ihr sollt auch selber   zu scharf nicht richten,
Unbillig urteilen,   denn das Urteil kommt wieder
Über den Richtenden schnell,   und da soll es zur Reue
Ihm werden, zu schwerem Weh,   wenn sein Wort zu scharf erging
Über den andern.

                                Von euch tue das
Keiner, ihr Kinder,   bei Kauf oder Tausch,
Daß er mit unrechtem Maß   dem andern Mann
Meinvoll messe,   denn so muß es ergehn
Auf Erden hier allen:   wie er dem andern tut,
Ganz so begegnet's ihm,   wo er gern nicht wollte
Seine Sünde wiedersehn.   Auch sag ich euch noch,
Wie ihr euch wahren mögt   vor schwerem Verweis,
Manches Meinwerks wegen.   Wie magst du beschelten
Deiner Brüder einen,   daß du ihm unter den Brauen sähst
Einen Halm in den Augen,   da du nicht beherzigst
Den bösen Balken,   den Baum in deiner Sehe,
Den schweren, den du selber hast?   Nimm das in den Sinn erst,
Wie du dich des erlösest,   daß Licht vor dir scheint,
Die Augen dir aufgehn:   dann immer magst du
Auch des Gesippten Gesicht   zu bessern suchen,
Sein Haupt zu heilen.   So heg im Herzen
Mehr in dieser Mittelwelt   der Menschen jeglicher,
Was er selber Übels   in dieser Welt verübte,
Als daß er achte   auf des andern Manns
Schuld und Sünde,   da er doch selber mehr
Des Frevels vollführte.   Bedenkt er sein Frommen,
So soll er sich selber erst   von Sünden erledigen,
Von leiden Werken lösen;   mit seinen Lehren komm er dann
Den Leuten zu Hilfe,   wenn er sich lauter weiß,
Vor Sünden sicher. [...]

                                  Vor die Schweine sollt ihr nicht
Eure Meerperlen werfen   oder kunstvoll Gewirk,
Köstliche Kleinode,   denn in Kot treten sie's,
Sudeln es im Sande,   wissen nicht Bescheid von Zier,
Von schönem Schmuck.   Solcher sind hier viele,
Die euer heilig Wort   nicht hören wollen,
Gottes Lehre wirken:   sie wissen nicht von Gott.
Viel lieber sind ihnen   leere Worte,
Unfeine Dinge   als ihres Fürsten und Herrn
Willen und Werke.   [...]

                                            Ich sag euch überdies
Vor diesem weiten Volk   ein wahrhaft Gleichnis.
Der Leute männiglich,   der meine Lehre will
In seinem Herzen hegen   und so im Sinne halten,
Daß er sie gerne leistet,   der vergleicht sich wohl
Einem weisen Manne,   der gewitzigt ist
Und verständigen Sinn hat,   daß er die Stätte seines Hauses
Auf festem Felsen wählt,   auf dem Felsen vorsichtig
Sich die Wohnung wirkt,   wo der Wind nicht mag,
Wog und Wasserstrom   dem Werke schaden.
Den Ungewittern   widersteht es allen
Auf dem Felsen oben,   da so fest es ward
Auf den Stein gestellt:   die Stätte schon erhält es
Und wahrt es vor dem Winde,   daß es nicht weichen mag.
Doch der Männer männiglich,   der nicht auf meine
Lehren lauschen will   und nichts davon leisten,
Der tut wie der Unweise,   der Ungewitzigte,
Der im Sand am Wasser   ein Wohnhaus zimmern will,
Wo es westlicher Wind   und der Wogen Strom,
Die See zerschlägt.   Nicht mag es Sand und Grieß
Vor dem Winde wehren,   sondern zerworfen wird es,
Zerfällt von der Flut,   weil es nicht auf fester
Erde gezimmert ist.   So soll allen und jedem
Ihr Werk gedeihn dafür,   daß er mein Wort befolgt,
Mein heilig Gebot.« (Heliand: Bergpredigt)