Christa Wolf: Nachdenken über Christa T.
Die Ortschaft[A 2], in der sich die Erzählerin und Christa T. im November 1943 in der Schule kennenlernen, liegt zwei Fahrstunden von Berlin entfernt. Beyersdorf und Altensorge sind Nachbarorte. Christa T., Tochter eines Dorfschullehrers, kommt aus dem knapp 50 Kilometer entfernten Eichholz bei Friedeberg[A 3]. Die jungen Mädchen in der Klasse stehen auch nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 treu zu Adolf Hitler.[A 4]
Die Erzählerin und Christa T. verlieren sich 1945 aus den Augen, begegnen sich jedoch 1952 an der Uni Leipzig beim Pädagogikstudium[A 5] wieder. Umdenken ist angesagt; neue Namen stehen auf den Broschüren: Gorki und Makarenko. Christa T. liest Dostojewski und schreibt. Schreibend auf dem „Weg zu sich selbst“[7] entdeckt und behauptet sie sich; nähert sich den Dingen.[8] Während des mehrjährigen Lehrerstudiums in Leipzig verlässt Christa T., die als wirklichkeitsfremd gilt, mitunter – unruhig geworden[A 6] – ihre Kommilitonen, kommt aber stets wieder zurück. Dem Wunsch der Eltern, die Stelle ihres Vaters zu übernehmen, folgt sie nicht. In den Leipziger Jahren malen sich die künftigen Pädagogen ihre Paradiese aus – gleichviel ob mit Gas oder Atomstrom beheizt, es sind ihre Refugien, es ist ihre Sache.[9] Mit den Jahren verflüchtigen sich die Luftschlösser. Der Streit über die Ausgestaltung der Utopien geht in einstimmigen Chorgesang über.[10]
Am 22. Mai 1954 beendet Christa T. ihr Studium. In Leipzig hatte sie Justus, einen Veterinär, kennengelernt, den sie 1956 heiratet. Im selben Jahr wird ihre Tochter Anna geboren. Manchmal sucht Justus seine Verwandten in Westdeutschland auf. In der siebenjährigen Ehe kommen noch zwei Kinder zur Welt. Des Öfteren fahren Justus und Christa T. gemeinsam über Land. Für ihre Skizzen „Rund um den See“ lässt sich Christa T. von den Bauern Geschichten erzählen. Später beschließt das Paar, auf dem Land zu bleiben, wo Justus als Tierarzt tätig ist. Das Ehepaar baut ein Haus, einsam gelegen, auf einer kleinen Anhöhe am See. Bauen bedeutet in der DDR für Intelligenzler ohne „Beziehungen“ eine beträchtliche Kraftanstrengung. Die Ehe ist glücklich; nur einmal erlaubt sich Christa T. einen Seitensprung mit einem Jagdfreund von Justus. Der Gehörnte schafft das Problem aus der Welt, indem er seine Frau ein weiteres Mal schwängert.
Christa T. schluckt Unmengen Prednison gegen Leukämie. Auf den Tod an Panmyelophise erkrankt, bringt Christa T. im Herbst 1962 ihr drittes Kind, ein Mädchen, zur Welt. Im darauf folgenden Februar stirbt sie.
Christa Wolf und Christa T. (G. Gauss)
In den Schlussüberlegungen meint Wolf, 1993 dass hilfreiche Veränderungen nur von unten kommen können und fügt hinzu: Das hat etwas mit Verzicht zu tun.
Wortprotokoll:
Wolf: [...] Ich meine, es könnte sich vielleicht etwas ändern, nur würde das, wie ich es jetzt sehe, wahrscheinlich nicht wieder von einer Idee oder Ideologie ausgehen, was ich mir auch gar nicht wünschen würde, sondern das könnte eigentlich nur von unten kommen, aus den Verhältnissen der Leute und ihrem Ungenügen daran. Es könnte nur etwas Praktisches sein, vielleicht ganz klein anfangend, praktische Versuche, die das Miteinanderleben der Menschen betreffen, nach und nach vielleicht größeren Umfang annehmen könnten. Nur so kann ich das sehen.
Gaus: Ist dies die Hoffnung, oder gibt es eine andere Hoffnung, die Sie nicht aufgegeben haben?
Wolf: Ich habe manchmal wenig Hoffnung, aber ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass die jüngeren Menschen, die jetzt nachwachsen und die doch leben wollen, dass die nicht imstande sein sollen, dem zerstörerischen und selbstzerstörerischen Drang, der im Moment die Menschheit zu beherrschen scheint, in den Arm zu fallen. Natürlich ist das furchtbar schwer, weil das eine ganz grundlegende Änderung der Bedürfnisse bedeutet, der falschen Bedürfnisse, die jetzt auf falsche Weise befriedigt werden. Eine Änderung dieser Bedürfnisse hatte ich mir vom Sozialismus erhofft. Und genau das hat er ganz und gar nicht geleistet und nicht leisten können; er hat das Gegenteil getan. Die Frage ist, ob es irgendeine Chance gibt – von unten her, von zunächst kleinen Gruppen, und vielleicht ausgehend von der großen Gefahr, die dann die Menschen doch sehen mögen –, so etwas nach und nach zu tun. Das hängt sehr viel mit Verzicht zusammen. [Hervorhebung von Fontanefan - Diese Aussage scheint mir besonders im Zusammenhang mit einer Umstellung von Wirtschaft auf Klimaneutralität aktuell. Wobei Wolf 1993 nicht ahnen konnte, in welcher spezifischen Weise sie heute aktuell ist.]
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