16 März 2018

Christa Wolf: Der geteilte Himmel

"Wir leben aus dem vollen, als gäbe es übergenug von diesem seltsamen Stoff Leben, als könnte er nie zu Ende gehen." (S.7)

Ich habe den Roman "Der geteilte Himmel" wieder in die Hand genommen und über große Passagen eine stark gekürzte, sprachlich vereinfachte Version für Deutschlerner (Bücher mit 1200 Wörtern) parallel mit dem Original gelesen.
Ausgangspunkt war, dass ich in der vereinfachten Ausgabe erstaunlich viel poetische Kraft fand. In der Tat konnten einige Passagen unverändert übernommen werden [Immer werden Worterklärungen etwas ungebräuchlicherer Wörter beigegeben, die nicht auf den Grundwortschatz angerechnet werden.]
Ausgelassen ist in der vereinfachten Ausgabe der Prolog, der beginnt:

"Die Stadt, kurz vor Herbst noch in Glut getaucht nach dem kühlen Regensommer dieses Jahres, atmete heftiger als sonst." (S.7)  und schließt mit dem oben zitierten Satz.

Das erste Kapitel der vereinfachten Ausgabe überraschte mich:
"In den letzten Tagen des August 1961 erwachte das Mädchen Rita Seidel in einem kleinen Zimmer im Krankenhaus."
Nur leicht verändert gegenüber dem Original:
"In jenen letzten Augusttagen des Jahres 1961 erwacht in einem kleinen Krankenhauszimmer das Mädchen Rita Seidel."
Der Prolog war mir als Romananfang noch so stark im Sinn, dass ich nicht mehr in Erinnerung hatte, dass der Roman nicht streng der Chronologie folgt, sondern auf den Beginn der Blechtrommel von Günter Grass anspielt, die beginnt:
"Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, läßt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann." (S.9)
Da sich herausstellt, dass Rita beinahe zwischen zwei Eisenbahnwaggons erdrückt worden wäre, ist Wolfs Anfang des 1. Kapitels auch eine Anspielung auf  Uwe Johnsons "Aber Jakob ist doch immer quer über die Gleise gegangen." (S.5) von "Mutmassungen über Jakob".
Dass Wolf damit den beiden bundesrepublikanischen Autoren, die 1959 ein neues Kapitel der deutschen Literatur begannen, eine Hommage liefert und dass sie mit "jenen letzten Augusttagen" nochmals auf den Mauerbau des 13. August 1961 anspielt, auf den schon der Titel des Romans "Der geteilte Himmel" verweist, wird nicht jedem zeitgenössischen Leser sofort ins Auge fallen. Genauso wenig wie der Bezug des Titel ihres ersten großen Romans "Nachdenken über Christa T." auf Johnsons "Mutmaßungen".
Bezeichnend, dass das erste Kapitel des geteilten Himmels nach dem 13. August beginnt, während die Handlung sich im Wesentlichen im Juni 1961 abspielt. So staatstreu von heute aus gesehen die Handlung und die Verteilung der Sympathie auf die Hauptfiguren erscheint, so klar erkennbar war für den DDR-Leser des Jahres 1963 (in dem der Roman erschien) bei all diesen Anspielungen das Bekenntnis zu dem, was man damals "Gesamtdeutschland" nannte. 

Übrigens mag man einem Fan Fontanes, des Meisters der Kurzromane, vergeben, wenn er Wolfs Werk, was von der Autorin ausdrücklich "Erzählung" genannt wird, als Roman (eine Definition dafür lautet: "eine längere Erzählung") bezeichnet, denn mit über 200 Seiten ist sie für einen Fontanefan dafür lang genug.
Dagegen habe ich "Katz und Maus", die nicht eben kurze "Novelle" von Grass, als Mittelteil der "Danziger Trilogie" zwischen Blechtrommel und Hundejahren immer als Erzählung verstanden. Denn diesem Text fehlt durchaus der epische Atem, der die beiden ihn umschließenden Romane kennzeichnet.
Ich würde es sehr bedauern, wenn die scharfe Kritik, der Christa Wolf (wegen ihrer kurzen früheren Tätigkeit als IM "Margarete") kurz nach der deutschen Einigung anheim fiel, dazu führen würde, dass der Verweis auf die Kontinuität und den Zusammenhang des Deutschland mit den Ostgebieten (Blechtrommel), der Bundesrepublik (Erscheinungsort der "Mutmaßungen") und der DDR (Der geteilte Himmel), der für diese drei Werke von Wolf zum Ausdruck gebracht wurde, in einer Zeit, wo die Zeit der Teilung Deutschlands als eine venachlässigenswerte Episode erscheinen könnte, ganz aus dem Blick geriete.

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