10 März 2013

Zwischen Himmel und Erde auf Leben und Tod


Der Schieferdecker muß besonnen arbeiten. Der Mann, der heute eine Reparatur unternimmt, muß sich auf die Berufstreue dessen, der Jahrzehnte, vielleicht ein Jahrhundert vor ihm hier stand, verlassen. Die Ungewissenhaftigkeit, die heute einen Dachhaken liederlich befestigt, kann den Braven, der nach fünfzig Jahren an diesen Haken seine Leiter hängt, in den Tod stürzen. Es war nicht einzusehen, daß eine Nachlässigkeit, ein Versehen in der Arbeit, wie er sie heute vollendete, eine so schwere Folge nach sich ziehen sollte, aber seine natürliche ängstliche Genauigkeit war noch von seinen übrigen Kräften in ihre krankhafte Spannung mit hineingezogen. Hinter dem Kampfe seines Gewissens mit den Bildern seines sündhaften Traums drohte als dunkle Wolke die Ahnung, er hämmere in seiner Zerstreuung ein künftiges Unheil fertig.
Er war fertig. Blendend glänzte die neue Blechzier in der Sonne um die dunkle Fläche des Schieferdachs. [581] Ring, Flaschenzug, Fahrzeug und Leiter waren entfernt; die Arbeiter, die die Leiter während des Losknüpfens und Herabsteigens gehalten, waren wieder gegangen. Apollonius hatte die fliegende Rüstung und die Stangen, worauf sie geruht, vom Dachgebälke abgelöst und stand allein auf dem schmalen Brette, das den Weg vom Balkenkreuze nach der Ausfahrtür hin bildete. Er stand sinnend. Es war ihm, als hätte er irgendwo Nägel einzuschlagen vergessen. Er sah in die Schiefer und Nagelkasten seines Fahrzeugs, das neben ihm über einem Balken hing. Ein heimlicher hastiger Schritt tönte unter ihm die Turmtreppe herauf. Er achtete nicht darauf; denn eben sah er im Schieferkasten eine zurückgebliebene Bleiplatte liegen. Er hatte nur so viel Bleibleche mit sich heraufgenommen, als er brauchte; eine war also von ihm vergessen worden; in der Zerstreuung hatte er eine Befestigungsstelle übergangen. Aus der Ausfahrtür sah er an der Turmdachfläche hinab und hinauf. War der Fehler auf dieser Turmseite geschehen, so ließ er sich vielleicht ohne Fahrzeug bessern. Er brauchte vielleicht nur die Leiter, um zu der Stelle zu kommen. Und so war es auch. Etwa sechs Fuß hoch über ihm, nahe dem Dachhaken, hatte er die Schieferplatte herausgenommen, aber vergessen, sie durch die Bleiplatte zu ersetzen und die Blechgirlande mit Nägeln darauf zu befestigen. Unterdes waren die heimlichen Schritte immer näher gekommen; jetzt hatte der Eilende das Ende der Steintreppen erreicht und stieg die Leitertreppe nach dem Dachgebälke herauf. Die Uhr unter ihm hob aus. Es war auf zwei. Apollonius hatte noch nicht Mittag gemacht; aber war er in seiner Arbeit einem Fehler auf die Spur gekommen, dann ließ es ihm nicht Ruh', bis er ihn entfernt. Er war zurück gegangen, um die Leiter herbeizuholen. Diese lag neben dem Fahrzeug auf dem Balken. Da, indem er sich danach herabbeugt, [582] fühlt er sich ergriffen und mit wilder Gewalt nach der Ausfahrtür zugeschoben. Unwillkürlich faßt er mit der Rechten die untere Kante eines Balkens seitwärts über ihm; mit der Linken sucht er vergebens nach einem Halt. Durch diese Bewegung wendet er sich dem Angreifer zu. Entsetzt sieht er in ein verzerrtes Gesicht. Es ist das wildbleiche Gesicht seines Bruders. Er hat keine Zeit, sich zu fragen, wie das jetzt hierher kommt.
»Was willst du?« ruft er. Was er auch erfahren, er kann sich selbst nicht glauben. Ein wahnwitziges Lachen antwortet ihm: »Du sollst sie allein haben oder mit hinunter!«
»Fort!« ruft der Bedrohte. Im zornigen Schmerze sind all die Vorwürfe gegen den Bruder in sein Gesicht heraufgestiegen. Mit seiner ganzen Kraft stößt er mit der freien Hand den Drängenden zurück.
»Zeigst du endlich dein wahres Gesicht?« höhnt dieser noch wütender. »Von jeder Stelle hast du mich verdrängt, wo ich stand; nun ist die Reih' an mir. Auf deinem Gewissen sollst du mich haben, du Federchensucher! Wirf mich hinunter, oder du sollst mit!«
Apollonius sieht keine Rettung. Die Hand erlahmt, mit der er sich nur mühsam anhält an der scharfen Kante des starken Balkens. Er muß den Bruder mit seiner ganzen Kraft an den Armen fassen, ihn herumdrehen und hinunterstürzen, oder der Bruder reißt ihn mit herunter. Doch ruft er: »Ich nicht!«
»Gut!« stöhnt jener. »Auch das willst du auf mich wälzen! Auch dazu willst du mich bringen! Nun ist's mit deiner Scheinheiligkeit am End'!« Apollonius würde einen andern Halt suchen, wüßt' er nicht, der Bruder benutzt den Augenblick, wo er den alten läßt. Und schon stürzt der mit wildem Anlauf heran! Apollonius' Hand rutscht von der Balkenkante ab. Er ist verloren, findet er keinen neuen [583] Halt. Er kann vielleicht im Sprunge den Balken mit beiden Händen umfassen, aber dann stürzt den Bruder, den kein Widerstand mehr aufhält, die Gewalt des eigenen Anlaufes durch die Tür. Da sieht er im Geiste den alten, braven, stolzen Vater, sie und die Kinder; ihm kommt das Wort, das er sich gab; er ist der einzige Halt der Seinen; er muß leben. Ein Schwung, und er hat den Balken im Arme; in demselben Augenblicke stürzt der Bruder vorbei. Die Gewichte tief unter ihnen rasseln, und es schlägt zwei Uhr.
Die Dohlen, die der Kampf aus ihrer Ruhe gestört, schießen wild hernieder bis zur Aussteigetür und schweben in krächzender Wolke dort. Tief unter ihnen hört man den Fall eines schweren Körpers auf dem Straßenpflaster. Ein Aufschrei schallt zugleich von allen Seiten. Bleiche lebende Gesichter sehen auf ein bleicheres totes herab, das blutig auf dem Straßenpflaster liegt. Dann verbreitet sich die bleiche Hast, das Aufschreien, das Zusammeneilen, das Händeineinanderschlagen vom Kirchhof wie ein Wirbelwind durch die Straßen bis in die entferntesten Winkel der Stadt. Aber oben hoch die Wolken am Himmel achten es nicht und gehen unberührt darüber hin weiter ihren großen Gang. Sie sehen des selbstgeschaffenen Elends so viel unter sich, daß das einzelne sie nicht bewegen kann.
Otto Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S.580-583

Zwischen Pflicht und Erfüllung des Lebenswunsches

Apollonius war müde vom Wachen und vom Kampfe, den die gefährliche Nähe des geliebten Weibes und das Wissen um des Bruder Betrug und empörenden Undank in ihm entzündet. Neben diesem war erst noch ein anderer Kampf aufgeglommen. Der Vater schien nicht an die böse [578] Absicht des Bruders zu glauben. Vor dem Gedanken, den Arm der Obrigkeit zu seinem Schutze aufzurufen, schauderte er zurück. Die Schmach für die Familie, wenn des Bruders Tat bekannt wurde, mußte den Vater töten. Und vielleicht war auch des Bruders Seele noch zu retten, wenn es gelang, ihn zu überzeugen, daß er geirrt. Aber wie? Wenn er – ihn versicherte, ihm schwur, daß er in der Frau nur die Schwester sehe? Vor einem halben Jahre noch hätte er das beschwören können; heute durfte er es nicht mehr, heute war es Meineid. Er konnte, wenn der Bruder den entsetzlichen Plan auf sein Leben nicht aufgab, die Ausführung desselben erschweren, aber nicht unmöglich machen. In dem Zustande, in welchem Apollonius sich jetzt befand, konnte ihm der Tod eher erwünscht sein als schrecklich; dann hatte aller Kampf, alle Gewissenspein, alle Sorge ein Ende; aber was sollte aus dem Vater, was aus ihr und den Kindern werden? Und hatte er sich nicht das Wort gegeben, sie vor Schande und Not zu bewahren? Diesen neuen Kampf beendete die Mitteilung des Vaters, Fritz wolle nach Amerika. Aber sie machte den alten Kampf nur schwerer, indem sie dem Feinde neue Kräfte gab. Er wußte freilich, daß er entschlossen war, die Wünsche, die er verdammen mußte, nicht zur Tat werden zu lassen. Aber die Wünsche selbst! Wenn kein äußeres Hindernis mehr ihrer Erfüllung im Wege stand, mußte ihre Gewalt da nicht wachsen? Die Gewissensvorwürfe mit ihnen? Und die Entfernung von dem Orte, wo sie in der täglichen Nähe einen unerschöpflichen Erneuerungsquell hatten, machte wiederum die Erfüllung des Wortes, das er sich gegeben, der Pflicht, die ihm ohne das gegebene Wort oblag, unmöglich. Er war heftig aufgeregt und bedurfte Ruhe. Diesen Vormittag noch mußte er die Umkränzung des Turmdaches mit der Blechzier vollenden und Fahrzeug, Flaschenzug, [579] Ring und Leiter wieder herabnehmen. Sein Tritt mußte fest, sein Auge klar sein. Für die einzige Stunde, bis der Arbeitstag begann, wollte er sich nicht erst ausziehen und zu Bett legen.
Otto Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S.577-579

08 März 2013

Jostein Gaarder: Das Leben ist kurz

Schon der Titel: "Das Leben ist kurz. Vita brevis" spielt mit dem Leser, da Gaarder seinen Text aus dem 20. Jahrhundert mit einem lateinischen Untertitel versieht.
Die Erzählung tut es noch mehr. Jetzt gebe ich dem Wikipediaartikel das Wort.
In dem Text geht es:  "um einen alten lateinischen Brief, den der Icherzähler in einem Antiquariat in Buenos Aires entdeckt hat. Unterschrieben ist der Brief von einer gewissen Floria, und gerichtet ist er an ihren ehemaligen Geliebten, den Kirchenlehrer und Philosophen Augustinus.
Floria klagt Augustinus an und hinterfragt seine religiösen Überzeugungen, aufgrund derer er sie verlassen und ihr den gemeinsamen Sohn genommen habe. Sie stellt damit zugleich eine frauenverachtende kirchliche Ethik und Moral in Frage. Der Text arbeitet mit vielen Zitaten aus Augustinus Confessiones und Zitaten antiker Philosophen.
Ob der Brief echt ist, dessen Abschrift der Erzähler auf das Ende des 16. Jahrhunderts datiert und der seiner Meinung nach auf Vorlagen aus dem 4. Jahrhundert beruhen könnte, bleibt im Text offen. Gaarder spielt dabei mit seinen bildungsbeflissenen Lesern, wenn er immer wieder in den Anmerkungen lateinische Formulierungen des angeblichen Originals anführt. Die einen können stolz sein, dass sie die lateinische "Originalfassung" aus der Übersetzung erschlossen haben, die anderen darauf, dass sie das Original als Fiktion erkannt haben.
Der Realitätsbezug des Textes ist, dass Augustinus nach Ausweis seiner "Bekenntnisse" tatsächlich zwölf Jahre lang eine uneheliche Verbindung eingegangen war und mit dieser Frau einen Sohn hatte, bevor von seiner Mutter zur Ehe gedrängt wurde und sich dann entschloss, kontemplativ zu leben und sich schließlich zum Bischof wählen ließ."

Augustinus im 6. Buch seiner "Bekenntnisse" über sein Verhältnis zu seiner ersten Geliebten:

Und da Sie, ein Hinderniß gegen meine Vermählung, von meiner Seite gerißen wurde, mit welcher ich mein Lager zu theilen gewöhnt war, wurde mein ihr anhängliches Herz getroffen, verwundert und wollte in Schmerzen verbluten. Sie aber war nach Afrika zurückgekehrt und hatte dir [A. schreibt seine Bekenntnisse in der Form einer Anrede an Gott] gelobt, nie mehr von einem andern Manne zu wißen. Mir wurde von ihr ein natürlicher Sohn zurückgelassen. Ich Elender aber konnte nicht einmal eines Weibes Nachahmer werden, und den Aufschub nicht ertragen, durch welchen ich die Verlobte erst nach zwei Jahren heimführen sollte; denn ich war nicht ein Freund der Ehe, ein Knecht der Lust war ich; und so nahm ich eine Andere zu mir, ohne sie zum Weibe zu nehmen. (S.137)

* Burkhard Scherer: ''Mein stolzer Bettpfosten''. In: FAZ Nr. 238, 14. Oktober 1997 (eine recht kritische Rezension)

Christiane Vulpius an Goethe

[...] Ich habe müssen einen Laubthaler darauf geben, mit der Kaufsumme wollen sie warten, bis Du zurückkömmst. Mir macht es große Freude, weil es so nahe ist und so hübsch liegt. Mit dem neuen Sänger wollte es am Sonnabend nicht gehen, überhaupt ging meinen Gedanken nach das ganze ›Käppchen‹ nicht gut. Desto besser spielten sie gestern den ›Vetter aus Lissabon‹. Ich und Ernestine machen itzo aus alten Kleidern Chemisen,[geschrieben: Schmüßse] und gestern ist der gelbkattunene besonders gut gerathen, und ich bilde mir ein, daß er mir gut stehe.
Da wurde, stelle Dir vor, vor lauter Freuden um 2 Uhr die Flasche Champagner auf Dein Wohlsein von mir, der Tante und Ernestine verzehrt, und dann ging es mit mir in die Komödie, aber von Äuglichen gab es nichts. Daß Du mir was vom Flachs geschickt hast, freut mich sehr, ich danke Dir auch herzlich dafür; wenn Du l Thaler 12 Groschen gegeben hast, so ist gewiß noch zu profitiren.

[...] 2tens, daß der Schwansee [geschrieben: Swamse] sehr gefroren ist und stark gefahren wird, daß die Gräfin Egloffstein sehr umgeworfen worden ist.  Ich bin gestern auch da gewesen mit dem Kinde von 2 Uhr bis 5 Uhr. Es haben den Kleinen zwei Jäger geführt, und er ist auch im Schlitten gefahren worden und wollte gar nicht wieder nach Hause.  Es waren alle Schätzchen da, und Äuglichen gab es die Menge. Wenn es so bleibt, so habe ich ihm versprechen müssen, daß mir morgen wieder hingehen wollen. Heute gehen mir alle beide in das ›Sonnenfest‹. 
Nun ein Wort von der Freitagesgesellschaft: den ersten Freitag waren sie beinahe alle da, den 2. nur etliche, und gestern gar kein Mensche. Ich hatte alles wie immer besorget, und das schöne Holz verbrennt, und halb 1 Uhr kam der junge Voigt und sagt erst, daß niemand käme. Ich dächte, da Du noch eine Woche drüben bleibst, so sagtest Du es durch den Geheimen Rath Voigt auf, denn es ist nunmehro so Ostern, und es bleibt so lange Tag, man verbrennt das Holz, gibt das Geld aus, und es kommt kein Mensch. Laß mir bis Mittewoch Deine Gesinnung wissen. Hier folgen auch vier Paar [geschrieben: für bar] Bücklinge zu Frühstück mit und Schinken und Vier. Das Bübchen läßt fragen, ob es bald kommen soll. Leb wohl.

106. Christiane [Weimar, 8. (?) März 1797.] Ich habe letzt eine geräucherte Gans erhalten. Die 6 kannst Du brauchen vor diesen Preis; sobald sie ankommen, will ich Dir schreiben. Ich dächte, wegen der Fahrzeit ließ' sich immer noch was von Zungen und Rindfleisch transportiren, besonders wenn Du noch einige solche Spick-Aale kriegen könntest. Daß Du Dich auch wieder nach uns sehnest, freut mich, weil es mir ebenso geht. Mir ist alles gar nicht recht; man sagt sogar, ich habe sehr übeln Humor. Ich sehe nicht ein, wie ich es ein halbes Jahr aushalten soll. Und der Kleine fragt mich den ganzen Tag: »Holen mir denn das Väterchen noch nicht bald ab?« Ich will Dich auch wegen des nüberkommens nicht quälen, und wenn ich es nur 2 Stunden vorher erführ, daß mir Dich holen sollten, so will ich bereit sein. Sollte es Dir aber gemüthlicher sein, einmal, wenn Du fertig bist, allein rüber zu uns zu kommen, so wirst Du Dein Haus immer in der besten Ordnung finden.
Du mußt Dich wegen uns in nichts irre machen lassen. Denn mir waren schon einmal schuld, daß das Gedicht nicht fertig wurde. Und besonders bitte ich Dich, doch nicht ehr herüber zu gehen, bis Dein Katarrh völlig vorbei ist.
Ich freu mich recht, wieder bei Dir zu sein. Man sollte, wenn man zusammen ist, immer fröhlich und lustig sein; ich habe mir es auch fest vorgenommen, wenn ich bei Dir bin, immer froh zu sein. Wenn wegen des Riehl was zu thun ist, bitte ich darum.
Der Hofkammer-Rath thut auch, als wenn er sehr gut gegen ihn wäre. Es ist überhaupt wegen des Diensts bei mir nicht leer geworden, ich soll vor alle ein gut Wort einlegen. Auch ein gewesener Unteroffizier Rommel, den der Herr Geheime Rath sehr gut kennen sollen, hat bei Durchlaucht Herzog darum nachgesucht, und ich soll ihn auch bei Dir empfehlen. Hier folgt auch deßhalb ein Schreiben von dem Maler Walter, es ist der alte, der Eckebrecht war.
Ich komme auch noch mit einer Bitte bei Dir an: es steht mit meiner Seife schlecht, und hier ist sie wieder theuer geworden. Ich dächte, wenn das Gedicht fertig wär, bekäme ich einen halben Stein. Leb wohl. Ich will wünschen, daß, wenn mein Brief ankömmt, der Katarrh vorbei ist. Das Kind läßt Dich vielmals grüßen; wir leben in der Hoffnung, bald bei Dir zu sein.

05 März 2013

Goethe mit seinem Sohn unterwegs

Wir kommen, meine Liebe, nicht zurück, wie Du uns erwartest. Es finden sich der Geschäfte so viele, daß ich wohl noch acht Tage hier bleiben muß. 
Ich behalte den Kleinen bei mir, er ist so artig, als sich nur denken läßt. Er hat schon vieles gesehen: den Schacht, das Pochwerk, die Porzellanfabrik, die Glashütte, die Mühle, worauf die Marmorkugeln zum Spiele der Kinder gemacht werden, und überall hat er etwas mitgenommen und spricht gar artig von den Sachen. Dann hält er sich zu allen Leuten und ist schon überall bekannt. Hier schickt er Dir einen weißen Pfefferkuchen, den er selbst gern gegessen hätte. 
Grüße Herrn Meyer und sage ihm: er möchte das Wasser recht fleißig trinken. Wenn etwas an mich angekommen ist, so schicke es mir durch Venten, der Dienstag herausfährt. 
Gustel grüßt Dich recht schön; er sitzt eben auf dem Canapee, ich habe ihn ausgezogen, und wir sind die besten Freunde. Lebe wohl, behalte uns lieb. 
Ilmenau, den 29. August 1795.


Nun, mein Liebchen, werde ich bald wieder bei Dir sein, Sonntag früh gehe ich hier ab. Es ist mir und dem Kleinen recht wohl gegangen. Wir haben gutes Wetter und mitunter recht schönes gehabt, heut ist ein herrlicher Tag. 
Der Kleine ist gar zu artig und freut sich über die vielen Sachen und Arbeiten, die er sieht, er behält alles recht gut und fragt gar vernünftig. Er hält sich mit allen Leuten. Ich hab ihm einen Berghabit machen lassen, und morgen, da die Bergleute einen Aufzug haben, soll er mitgehen. Das macht ihm großen Spaß, aber in die Kirche will er nicht mit hinein. Er bringt Dir eine Tasse mit, die man ihm geschenkt hat, und füttert sich überhaupt aufs beste. Des Morgens um 5 Uhr sind wir wach, Abends aber gehts auch bald zu Bette.
Lebe wohl, ich hoffe Dich wohl und das Haus in guter Ordnung zu finden. Ich bringe einen Wildpretsbraten mit und will nächste Woche Gäste darauf bitten. Lebe wohl und liebe uns. 
Ilmenau, den 2. September 1795. G.

04 März 2013

Der Bericht über den Mordplan und die Liebenden Arm in Arm

Christiane berichtet Apollonius von dem Mordplan, den ihr Mann, sein Bruder, gegen ihn geschmiedet hat und davon, dass er ihn betrogen hat, da sie in Wirklichkeit Apollonius geliebt hat.
Aber es folgt nicht das Happy End, auf das die Erzählung hier zuzulaufen scheint.

"Er wollte machen, daß du stürzen müßtest. Es wär' nur Scherz; aber sagt' ich's dir, dann wollt' er's im Ernste tun. Seitdem hab' ich keine Nacht geschlafen; die ganzen Nächte hab' ich aufgesessen im Bett und bin voll Todesangst gewesen. Ich hab' dich in Gefahr gesehen und durft' es dir nicht sagen und durfte dich nicht retten. Und er hat die Seile zerschnitten mit der Axt in der Nacht, eh' du nach Brambach gingst. Der Valentin hat mir's gesagt, der Nachbar hat ihn in den Schuppen schleichen sehen. 
Ich hab' dich tot gemeint und wollte auch sterben. Denn ich wär' schuld gewesen an deinem Tod und stürbe tausendmal um dich. 
Und nun lebst du noch, und ich kann's nicht begreifen. Und es ist alles noch, wie es war: die Bäume da, der Schuppen, der Himmel, und du bist doch nicht tot. Und ich wollte auch sterben, weil du tot warst. Und nun lebst du noch, und ich weiß nicht, ist's wahr oder träume ich's nur. Ist's denn wahr? Sag' du mir's doch: ist's wahr? Dir glaub' ich alles, was du sagst. Und sagst du, ich soll sterben, so will ich's, wenn du's nur weißt. Aber er kann kommen. Vielleicht hat er gelauscht, daß ich dir's sagte, was er will. Schick' den Valentin in die Gerichte, daß sie ihn fortführen und er dir nichts mehr tun kann!« 
So schwärmte, lachte und weinte das fiebernde Weib in seinen Armen fort. Alles vergessend, wie ein Kind an einem Abgrund spielend, den es nicht sieht, ruft sie unbewußt eine Gefahr herbei, tödlicher als die, über deren Vorbeigehen sie jubelt, drohender als die, wogegen sie den Mann mit ihrem Leibe decken will. Sie ahnt nicht, was ihr leidenschaftlich Tun, die Süßigkeit ihrer unbekümmerten Hingebung, was ihre Liebkosungen, was ihr warmes schwellendes Umfangen in dem Manne aufregen muß, der sie liebt; daß sie alles tut, was den Mann, dessen Rechtlichkeit und Edelmut sie sich so unbekümmert anheimgibt, Rechtlichkeit und Edelmut im Tumulte des Blutes vergessen machen kann. Sie hat keine Ahnung, welchen Kampf sie in ihm entzündet und wie sie ihm den Sieg erschwert, wenn nicht unmöglich macht. 

Und er weiß nun, das Weib in seinen Armen war sein; der Bruder hat ihn um sie und sie um ihn betrogen. Jetzt weiß er's, wo das Weib in seinen Armen ihm die Größe des Glückes zeigt, um das der Bruder ihn betrogen hat. Er hat sie geraubt und noch mißhandelt; und für alles, was er um ihn gelitten, getan, verfolgt er ihn noch und steht ihm nach dem Leben. Gehört das Weib dem, der sie ihm gestohlen, der sie mißhandelt, den sie haßt? oder ihm, dem sie schändlich gestohlen worden ist, der sie liebt, den sie liebt? Das alles waren nicht deutliche Gedanken: hundert einzelne Empfindungen, die in den Strom eines tiefen und wilden Gefühls hingerissen, durch seine Adern stürzten und die Muskeln seiner Arme spannten, etwas, das sein ist, an sein Herz zu pressen. Aber eine dunkle Angst drängt dem Strom entgegen und hält die Muskeln wie im Starrkrampfe fest. Das Gefühl, er will etwas tun, und er ist sich nicht klar, was es ist, wohin es führen kann; eine ferne Erinnerung, daß er ein Wort gegeben hat, das er brechen wird – er läßt sich fortreißen; die dunkle Vorstellung, als stehe er wie an seinem Tische und, bewege er sich, eh' er sich umgesehn, könne er etwas wie ein Tintenfaß auf etwas wie Wäsche oder ein wertvolles Papier werfen: alledem lag die angstvolle Vorahnung zugrunde, er könne mit einer Bewegung etwas verderben, was nicht wieder gutzumachen sei. 
Er rang schon lange unter den berauschenden Tönen nach etwas, bevor er wußte, daß er rang und daß dies Etwas die Klarheit war, das Grundbedürfnis seiner Natur. Und nun kam sie ihm und sagte: »Das Wort, das du gegeben hast, ist, die Ehre des Hauses aufrecht zu erhalten, und was du tun willst, muß sie vernichten!« Er war der Mann und mußte für sich und sie einstehen. Die Klarheit brandmarkte den Verrat, den er mit einem Drucke, mit einem Blicke an dem rührenden unbedingten Vertrauen üben würde, das aus des Weibes Hingebung sprach, mit aller Schmach, die sie fand. Sie zeigte ihm die Reinheit des Gesichtes, das an seinem Herzen lag und schwärmend zu ihm aufsah, und wie er mehr an ihr und an sich selbst verderben würde, als das war, worüber er ihren und seinen Feind anklagte. Noch stand die heilige Scheu schützend zwischen ihm und ihr, die ein einziger Druck, ein einziger Blick für immer verscheuchen konnte. 
Otto Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S.556-567

02 März 2013

Fritz schickt sich in das ihm vom Vater vorgezeichnete Schicksal

"Fritz Nettenmair war unterdes aus seiner Betäubung wieder erwacht, und es war ihm gelungen aufzustehen. Der alte Herr hieß ihn von der Rüstung hereintreten und sagte: »Morgen vor Sonnenaufgang bist du nicht mehr hier. Sieh, ob du in Amerika wiederum ein anderer Mensch werden kannst. Hier bist du in Schande und bringst Schande. Nach mir gehst du heim; Geld sollst du haben; du machst dich fertig. Du hast seit Jahren nichts für Weib und Kind getan; ich sorge für sie. Vor Tagesanbruch bist du auf dem Weg. Hörst du?« 
Fritz Nettenmair wankte. Eben noch hatte er dem unausweichlichen Tode in die Augen gesehen; nun sollte er leben! Leben, wo niemand wußte, was er getan, wo ihn nicht jedes zufällige Geräusch mit dem Wahnbild des Häschers schrecken durfte. In diesem Augenblick fühlte er selbst das als ein Glück, daß er fern sein sollte von dem Weibe, um das er alles getan, was er getan, und in deren Anschauen er Tag für Tag alles mitsehen sollte, was er getan; die seine Tat wußte, von der jeder Blick eine Drohung war, ihn der Vergeltung zu überliefern. Es graute ihm vor dem Hause, in dem ihn stündlich alles erinnern mußte an das, was er unter dem fremden Himmel ganz zu vergessen hoffte, und sich vormachte, durch ein neues Leben abbüßen zu wollen. Am liebsten wäre er sogleich unmittelbar von der Stelle, wo er jetzt stand, dem Rettungshafen zugeeilt."
Otto Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S.555