Der Schieferdecker muß besonnen arbeiten. Der Mann, der heute eine Reparatur unternimmt, muß sich auf die Berufstreue dessen, der Jahrzehnte, vielleicht ein Jahrhundert vor ihm hier stand, verlassen. Die Ungewissenhaftigkeit, die heute einen Dachhaken liederlich befestigt, kann den Braven, der nach fünfzig Jahren an diesen Haken seine Leiter hängt, in den Tod stürzen. Es war nicht einzusehen, daß eine Nachlässigkeit, ein Versehen in der Arbeit, wie er sie heute vollendete, eine so schwere Folge nach sich ziehen sollte, aber seine natürliche ängstliche Genauigkeit war noch von seinen übrigen Kräften in ihre krankhafte Spannung mit hineingezogen. Hinter dem Kampfe seines Gewissens mit den Bildern seines sündhaften Traums drohte als dunkle Wolke die Ahnung, er hämmere in seiner Zerstreuung ein künftiges Unheil fertig.
Er war fertig. Blendend glänzte die neue Blechzier in der Sonne um die dunkle Fläche des Schieferdachs. [581] Ring, Flaschenzug, Fahrzeug und Leiter waren entfernt; die Arbeiter, die die Leiter während des Losknüpfens und Herabsteigens gehalten, waren wieder gegangen. Apollonius hatte die fliegende Rüstung und die Stangen, worauf sie geruht, vom Dachgebälke abgelöst und stand allein auf dem schmalen Brette, das den Weg vom Balkenkreuze nach der Ausfahrtür hin bildete. Er stand sinnend. Es war ihm, als hätte er irgendwo Nägel einzuschlagen vergessen. Er sah in die Schiefer und Nagelkasten seines Fahrzeugs, das neben ihm über einem Balken hing. Ein heimlicher hastiger Schritt tönte unter ihm die Turmtreppe herauf. Er achtete nicht darauf; denn eben sah er im Schieferkasten eine zurückgebliebene Bleiplatte liegen. Er hatte nur so viel Bleibleche mit sich heraufgenommen, als er brauchte; eine war also von ihm vergessen worden; in der Zerstreuung hatte er eine Befestigungsstelle übergangen. Aus der Ausfahrtür sah er an der Turmdachfläche hinab und hinauf. War der Fehler auf dieser Turmseite geschehen, so ließ er sich vielleicht ohne Fahrzeug bessern. Er brauchte vielleicht nur die Leiter, um zu der Stelle zu kommen. Und so war es auch. Etwa sechs Fuß hoch über ihm, nahe dem Dachhaken, hatte er die Schieferplatte herausgenommen, aber vergessen, sie durch die Bleiplatte zu ersetzen und die Blechgirlande mit Nägeln darauf zu befestigen. Unterdes waren die heimlichen Schritte immer näher gekommen; jetzt hatte der Eilende das Ende der Steintreppen erreicht und stieg die Leitertreppe nach dem Dachgebälke herauf. Die Uhr unter ihm hob aus. Es war auf zwei. Apollonius hatte noch nicht Mittag gemacht; aber war er in seiner Arbeit einem Fehler auf die Spur gekommen, dann ließ es ihm nicht Ruh', bis er ihn entfernt. Er war zurück gegangen, um die Leiter herbeizuholen. Diese lag neben dem Fahrzeug auf dem Balken. Da, indem er sich danach herabbeugt, [582] fühlt er sich ergriffen und mit wilder Gewalt nach der Ausfahrtür zugeschoben. Unwillkürlich faßt er mit der Rechten die untere Kante eines Balkens seitwärts über ihm; mit der Linken sucht er vergebens nach einem Halt. Durch diese Bewegung wendet er sich dem Angreifer zu. Entsetzt sieht er in ein verzerrtes Gesicht. Es ist das wildbleiche Gesicht seines Bruders. Er hat keine Zeit, sich zu fragen, wie das jetzt hierher kommt.
»Was willst du?« ruft er. Was er auch erfahren, er kann sich selbst nicht glauben. Ein wahnwitziges Lachen antwortet ihm: »Du sollst sie allein haben oder mit hinunter!«
»Fort!« ruft der Bedrohte. Im zornigen Schmerze sind all die Vorwürfe gegen den Bruder in sein Gesicht heraufgestiegen. Mit seiner ganzen Kraft stößt er mit der freien Hand den Drängenden zurück.
»Zeigst du endlich dein wahres Gesicht?« höhnt dieser noch wütender. »Von jeder Stelle hast du mich verdrängt, wo ich stand; nun ist die Reih' an mir. Auf deinem Gewissen sollst du mich haben, du Federchensucher! Wirf mich hinunter, oder du sollst mit!«
Apollonius sieht keine Rettung. Die Hand erlahmt, mit der er sich nur mühsam anhält an der scharfen Kante des starken Balkens. Er muß den Bruder mit seiner ganzen Kraft an den Armen fassen, ihn herumdrehen und hinunterstürzen, oder der Bruder reißt ihn mit herunter. Doch ruft er: »Ich nicht!«
»Gut!« stöhnt jener. »Auch das willst du auf mich wälzen! Auch dazu willst du mich bringen! Nun ist's mit deiner Scheinheiligkeit am End'!« Apollonius würde einen andern Halt suchen, wüßt' er nicht, der Bruder benutzt den Augenblick, wo er den alten läßt. Und schon stürzt der mit wildem Anlauf heran! Apollonius' Hand rutscht von der Balkenkante ab. Er ist verloren, findet er keinen neuen [583] Halt. Er kann vielleicht im Sprunge den Balken mit beiden Händen umfassen, aber dann stürzt den Bruder, den kein Widerstand mehr aufhält, die Gewalt des eigenen Anlaufes durch die Tür. Da sieht er im Geiste den alten, braven, stolzen Vater, sie und die Kinder; ihm kommt das Wort, das er sich gab; er ist der einzige Halt der Seinen; er muß leben. Ein Schwung, und er hat den Balken im Arme; in demselben Augenblicke stürzt der Bruder vorbei. Die Gewichte tief unter ihnen rasseln, und es schlägt zwei Uhr.
Die Dohlen, die der Kampf aus ihrer Ruhe gestört, schießen wild hernieder bis zur Aussteigetür und schweben in krächzender Wolke dort. Tief unter ihnen hört man den Fall eines schweren Körpers auf dem Straßenpflaster. Ein Aufschrei schallt zugleich von allen Seiten. Bleiche lebende Gesichter sehen auf ein bleicheres totes herab, das blutig auf dem Straßenpflaster liegt. Dann verbreitet sich die bleiche Hast, das Aufschreien, das Zusammeneilen, das Händeineinanderschlagen vom Kirchhof wie ein Wirbelwind durch die Straßen bis in die entferntesten Winkel der Stadt. Aber oben hoch die Wolken am Himmel achten es nicht und gehen unberührt darüber hin weiter ihren großen Gang. Sie sehen des selbstgeschaffenen Elends so viel unter sich, daß das einzelne sie nicht bewegen kann.
Otto Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S.580-583
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