12 August 2010

Fußreisen beleben die Gedanken

Was ich im Hinblick auf die Einzelnheiten meines Lebens, deren ich mich nicht mehr zu erinnern vermag, am meisten bedauere, ist, daß ich keine Tagebücher über meine Reisen geführt habe. Nie habe ich so viel gedacht, nie bin ich mir meines Daseins, meines Lebens so bewußt, nie, wenn ich so sagen darf, so ganz Ich gewesen, wie auf denen, die ich allein und zu Fuß gemacht habe. In dem Wandern liegt etwas, das meine Gedanken weckt und belebt; verharre ich auf der Stelle, so bin ich fast nicht im Stande zu denken; mein Körper muß in Bewegung sein, damit mein Geist in ihn hineintritt. Der Blick über die Gegend, die Reihe freundlicher Aussichten, die frische Luft, der große Appetit, das Wohlbefinden, das ich beim Gehen bekomme, die Zwanglosigkeit im Wirthshause, die Abwesenheit von allem, was mir meine Abhängigkeit fühlbar macht, von allem, was mich an meine Lage erinnert, dies alles macht meine Seele frei, verleiht mir eine größere Gedankenkühnheit, schleudert mich gewissermaßen in die Unermeßlichkeit der Dinge, um sie zu ordnen, auszuwählen und mir nach meinem Sinne, ohne Zwang und Furcht, anzueignen. Ich verfüge als Herr über die ganze Natur; von Gegenstand zu Gegenstand schweifend, vereinigt und identificirt sich mein Herz mit denen, die es angenehm berühren, umgiebt sich mit reizenden Bildern, berauscht sich an lieblichen Empfindungen. Wenn ich, um sie festzuhalten, mich damit ergötze, innerlich eine Schilderung von ihnen zu entwerfen, welche Lebensfrische der Formen, welchen Glanz der Farben, welche Kraft des Ausdrucks gebe ich ihnen dann! Man will etwas von dem allen in meinen Werken gefunden haben, obgleich ich sie erst in höheren Lebensjahren geschrieben habe. Ach, hätte man die meiner frühsten Jugend gesehen, die, welche ich auf meinen Reisen verfaßt, die, welche ich entworfen und nie niedergeschrieben habe! ... Weshalb, wird man einwenden, sie nicht schreiben? Aber weshalb sie schreiben? werde ich antworten. Weshalb mich um den wirklichen Zauber des Genusses bringen, um anderen zu sagen, daß ich Genuß gehabt? Was kümmerten mich Leser, Publikum, ja die ganze Welt, so lange ich im Himmel schwebte. Führte ich denn übrigens Papier und Federn bei mir? Hätte ich an alles das gedacht, dann würde keine Gedankenwelt in mir aufgestiegen sein. Ich sah nicht voraus, daß ich Gedanken haben würde; sie kommen nach ihrem, nicht nach meinem Gefallen; sie überwältigen mich durch ihre Zahl und Stärke. In zehn Bänden täglich hätte ich sie nicht unterbringen können. Woher Zeit nehmen, um sie zu schreiben? Sobald ich ankam, dachte ich an ein gutes Essen, wenn ich wieder aufbrach, dachte ich nur an eine angenehme Wanderung. Ich fühlte, daß ein neues Paradies meiner am Thore wartete; ich dachte nur daran, so schnell als möglich hinein zu gehen. [...]
Beim Berichte über meine Reisen geht es mir wie beim Reisen selbst; ich weiß nicht anzukommen. Das Herz schlug mir vor Freude, als ich meiner lieben Mama näher kam, und ich ging doch nicht schneller. Ich wandere gern mit aller Gemächlichkeit und mache Halt, wenn es mir gefällt. Ein umherwanderndes Leben ist für mich Bedürfnis. Eine Fußreise bei schönem Wetter, und in einer schönen Gegend zu machen, ohne Eile zu haben und an deren Ziele meiner etwas Angenehmes wartet, ist von allen Arten zu leben am meisten nach meinem Geschmack. Uebrigens weiß man schon, was ich unter einer schönen Gegend verstehe. Nie erschien mir ein flaches Land, bei aller sonstigen Schönheit, als ein solches. Ich bedarf Gießbäche, Felsen, Tannen, dunkle Wälder, Berge, schroffe Pfade, die eben so schwer zu erklettern wie hinabzusteigen sind, Abgründe auf beiden Seiten, die mir Angst einjagen. Diese Wonne hatte ich und empfand sie in ihrem ganzen Zauber, als ich mich Chambery näherte. Unweit einer Felsenwand, die den Namen Pas de l'Echelle führt, tief unter der in den Felsen gehauenen Landstraße, bei dem Flecken Chailles, strömt und schäumt in schrecklichen Strudeln ein kleiner Fluß, der Tausende von Jahrhunderten gebraucht zu haben scheint, um sich Bahn zu brechen. Man hat den Weg, um Unglücksfälle zu verhüten, mit einem Geländer eingefaßt; deshalb konnte ich in die Tiefe hinabblicken und mich nach Herzenslust schwindelig machen lassen; denn trotz meiner Vorliebe für schroffe Felsen werde ich wunderlicher Weise auf ihnen schwindelig, und gerade an diesem Gefühle des Schwindels habe ich große Freude, sobald ich mich dabei in Sicherheit befinde. Weit über das Geländer gelehnt, schaute ich in die Tiefe und blieb da ganze Stunden lang, indem ich von Zeit zu Zeit bald auf diesen Schaum, bald auf das blaue Wasser blickte, dessen Brausen ich durch das Geschrei der Raben und der Raubvögel vernahm, welche hundert Klafter unter mir von Fels zu Fels und von Gesträuch zu Gesträuch flogen. An den Stellen, wo der Abhang ziemlich gerade hinunter ging und das Strauchwerk weit genug auseinander stand, um Steine durchzulassen, trug ich deren so groß und schwer, wie ich sie nur haben konnte, von allen Seiten zusammen und häufte sie auf dem Geländer auf. Darauf warf ich sie einen nach dem andern hinab und ergötzte mich daran, sie rollen, aufspringen und in tausend Stücke zerschellen zu sehen, ehe sie noch den Boden des Abgrundes erreichten.
Noch näher bei Chambery hatte ich ein ähnliches Schauspiel, wenn auch in umgekehrtem Sinne. Der Weg führt am Fuße des schönsten Wasserfalles vorüber, den meine Augen je gesehen. Der Berg hängt so weit herüber, daß das Wasser plötzlich in einem Bogen herabfällt, der weit genug von der Felsenwand entfernt ist, um zwischen dieser und dem Wasserfall hindurchschreiten zu können, oft sogar ohne daß man dabei naß wird; sieht man sich jedoch dabei nicht vor, so wird man leicht angeführt, wie es bei mir der Fall war; denn wegen der außerordentlichen Höhe löst sich das Wasser in eine Art Staubregen auf, und tritt man zu nahe an diese Wolke heran, ist man mit einem Male, ohne anfangs zu merken, daß man naß wird, vollkommen wie aus dem Wasser gezogen.Rousseau: Bekenntnisse (4. Buch)

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