31 Juli 2011

Was aus früheren Generationen überlebt hat

Im Weiler haben sich bei manchen älteren Leuten noch Lebensumstände aus früheren Generationen erhalten. Dass Sally das größte Cottage und den schönsten Garten des Weilers hat, verdankt sie dem Erbe, das aus der Zeit, als die Allmende noch genutzt werden konnte, auf sie überkommen ist.
Queenie – aus der nächsten Generation - klöppelt immer noch Spitzen. Damals war es für die Frauen noch möglich, durch Heimarbeit einen kleinen Zuverdienst zu bekommen. Die Mädchen und die Frauen, deren Kinder schon aus dem Haus waren, versammelten sich in einem Cottage und klöppelten bei gemeinsamer Unterhaltung.
Einmal im Jahr wurden die Spitzen dem Aufkäufer angeboten. Jetzt sind die maschinell hergestellten Muster beliebter, da billiger.
Wie Sally, betreibt auch Queenie die Bienenzucht. Auch die brachte einen begehrten Nebenverdienst. Dazu gab es die Sprüche: „Ein Schwarm im Mai ist einen Heuhaufen wert. Ein Schwarm im Juni ist einen Silberlöffel wert. Im Juli – nach dem Schleudern – ist er nicht einmal eine Fliege wert. Denn dann kommt die Zeit, wo man ihn über den Winter bringen und Zuckerwasser zufüttern muss.
Flora Thompson: Lark Rise, 5. Kapitel

27 Juli 2011

Die Siegfriedsage, der Tourismus und der Nagel im Nibelungenlied

Im Zuge der Tourismuswerbung findet man die Nibelungensage nicht nur verkürzt auf großen Tafeln am Nibelungensteig angebracht. Jüngst begegenete sie mir in noch weiter verkürzter Form auch auf einer Speisekarte, auf der ein Waberlohe-Eis (mit Himbeergeist) und ein Fafnirsteak ("dabei wird es dem Ritter heiß in seiner Rüstung") angeboten wurden.
Über den Kampf mit Brunhild heißt es darin, Siegfried habe sie mit Hilfe einer Tarnkappe besiegt. Unerklärlich bleibt dem Leser dabei, dass sie danach Gunther zum Mann nimmt, obwohl sie geschworen hat, nur den zu heiraten, der sie besiegen kann. Denn von der Vortäuschung eines Kampfes mit Gunther ist mit keinem Wort die Rede.
Mancher Leser will dann vielleicht wissen, "wie es wirklich war". Angebote dafür gibt es genug.
So berichtet im mittelalterlichen Nibelungenlied Gunther seinem Schwager Siegfried über seine Hochzeitsnacht, Brunhild sei ein Teufel und habe ihn an einen Nagel an die Wand gehängt. ("ich han láster unde schaden,/ want ich hán den übeln tiuvel heim zu hûse geladen./ do ich si wânde minnen vil sêre si mich bant./ si truoc mich zeinem nagele und hie mich hôhe an die want." (Strophe 649)

In der Edda, in der Thidreksaga, in ungezählten Nacherzählungen der Sage, z.B. im Volksbuch vom gehörnten Siegfried), dann bei Hebbel und schließlich in Wagners Ring des Nibelungen  liest man freilich immer wieder anderes.

Haben Sie vielleicht Lust, die verschiedenen Gestaltungen der Sage zu vergleichen?

26 Juli 2011

Agnes Sapper: Gretchen Reinwald


"Das erste Schuljahr" und "Gretchen Reinwalds letztes Schuljahr" von Agnes Sapper schildern eine eindrucksvoll fremde Welt, mit gestrengem Vater, mit höherer Töchterschule und Bediensteten. Gegenüber der "Familie Pfäffling“ ist es eine großbürgerliche Welt. Das Geschehen spielt sich in der Hauptstadt ab, der Vater arbeitet im Ministerium, es gibt einen Empfang bei der Königin, und es gelten strenge Regeln, so z.B. die, daß man Romane nur lesen darf, wenn die Eltern sie einem ausgesucht haben.
Und eine junge Frau, die wegen eines Zerwürfnisses mit ihrer Familie von zu Hause fortgegangen ist und als Lehrerin arbeitet, findet ihren Seelenfrieden erst wieder, als sie reuevoll nach Hause zurückkehrt.
Gretchen Reinwald und ihre Eltern dürfen sich schmeicheln, die heftig Widerstrebende wieder auf den rechten Weg gebracht zu haben.

Trotzdem: die höchst pädagogisch eingerichtete Welt, in der selbst die Todesfälle während der Tauffeier ihren sinnstiftenden Bezug haben und Diener und Dienerinnen stolz sind, wenn sie an "ihr Fräulein" denken, hat irgendwo auch etwas Anheimelndes für mich.

Agnes Sapper: Das kleine Dummerle und Familie Pfäffling in Gutenberg.de
Texte von Agnes Sapper in gutenberg.org
Agnes Sapper in der Wikipedia
Internetseite zu Agnes Sapper mit vielen Fotos

25 Juli 2011

Immermann: Epigonen

Immermanns Epigonen sind Goethes Wilhelm Meister nachgebildet, aber mit dem Thema des verfallenden Adels. Im romantischen Stil. Voll der rasendsten Unwahrscheinlichkeiten: Der positive Held Hermann läßt Flämmchen im Wald zurück. Kümmert sich, als er in den Ort gekommen ist, erst um alles andere, bevor er wieder an sie denkt. Sucht erst am nächsten Tag (oder noch später?) ihren Pflegevater auf, der sie angeblich verkuppeln will. Erzählt Lügengeschichten, um daraufhin einen Mann verdächtigen zu können, mit dem es darüber zum Duell kommt. Herzogin gibt für das Mädchen "eine Rolle Geldes", ohne sich weiter um ihr Geschick zu kümmern (dies ist evtl. realistisch). Jede Menge Verwandtschafts­verhältnisse durch uneheliche Kinder, Liebesnächte der Verwechslung. Flämmchen, die Mignon-Figur, und die Zigeunerin. Nachdem Hermann Wilhelmi in einem freimaurerisch-ähnlichen Bund geschworen hat, die Wahrheit zu sagen, geraten nicht nur beide in ein wüstes Trinkgelage (um der Parodie/Satire wohl erforderlich), sondern er fängt gleich seine nächste Unternehmung mit einer haltlosen Lüge an (er sei Lehramtskandidat Schmidt). Flämmchen entführt von einem Domherren, auf das Sorgloseste begünstigt durch den Arzt, der als äußerst rational geschildert wird, etc..
Von alten Papieren, Briefen und Tagebuchnotizen, die von Papageien ausgestreut, hinter alten Schränken verborgen, ungelesen von Nicht-eigentümern verwahrt (Herzogin mit Briefen Hermann betreffend) werden, ganz zu schweigen. Das schreckliche Ritterfest, natürlich als Parodie gemeint, aber doch, seltsam an Wilhelm Meisters Hamlet-Aufführung erinnernd, vom Helden gutwillig weiterorganisiert, ist zwar lustig, aber passt nicht zum Helden, macht Herzog und Herzogin mehr als zulässig zu Witzfiguren.

Und dennoch gefällt mir das Buch, weshalb?

Adolf Muschg: Der Rote Ritter

Adolf Muschg: Der Rote Ritter 
(Rezensionen: Wapnewski (sehr gelungen), D. Wunderlich, A. Burtscher)
Der Anfang war recht mühsam zu lesen. Herzeloyde, Parzivals Mutter, ist schon bei Wolfram eine schwer verständliche Gestalt. Dass Muschg sie als eine Hysterikerin vorstellt, die von dem klosterähnlichen Leben im Bereich des Grals geprägt ist, und deshalb von steifer Strenge zu draufgängerischem Ansturm auf Gahmuret übergeht, bringt sie mir menschlich nicht näher. Gahmuret bleibt ganz Schemen und Geist. Das Personal um sie herum, außer der sehr lebendigen Sigune, wirkt ebenfalls tot, marionettenhaft, allenfalls als Karikatur (so vor allem der Musterritter Gurnemanz, Parzivals späterer Lehrer).
Richtiges Leben entwickelt sich erst mit dem Auftritt Parzivals. Dann freilich wird's interessant. Es gibt Liebesszenen von großer Wirkung; Parzivals bei Wolfram weithin unverständliches Verhalten wird überzeugend motiviert. Er kommt uns nahe und bleibt uns fremd. Was mir wie eine Schwäche des Buches erscheint, der lebensfremde Anfang, ist freilich in Wolframs Parzival vorgebildet. Auch dort blieben mir die Bücher der Gahmurethandlung besonders fremd. Eine zweite Schwäche ist sicher das, was in einer Rezension Muschgs Geschwätzigkeit genannt wird. Umständlich wie bei Thomas Mann, aber mit weniger Ironie. Es wird etwas viel ausgesprochen.

Mein ganz persönliches Verhältnis zum Stoff und zum Autor (18.8.93)

Meine gegenwärtige Lektüre "Der rote Ritter" von Adolf Muschg hat für mich allerlei, was sie mir persönlich nahe bringt. Zunächst: der Verfasser war der Leiter eines Proseminars über Goethes Westöstlichen Divan, an dem ich in Göttingen teilgenommen habe. Damals habe ich zu einigen dieser Gedichte ein persönliches Verhältnis gewonnen. Das fiel leicht, weil er nicht von oben herab, sondern aus seinem persönlichen Zugang, aber wiederum sehr rational erläuternd die Texte anging.
Dann: der Text handelt von Rittern, und Ritter sind unsere Kindheitsspielzeuge gewesen, selbst ausgesägte vor allem. Der rote Ritter ist nun allerdings Parzival, kein typischer Ritter, sondern einer, der mir aus Schulzeit und Studium als Gralssucher und entsprechend fremde und Einfühlung erschwerende Gestalt bekannt ist. Dieser Parzival ist denn auch nie Gegenstand unserer Ritterspiele gewesen; aber der erste Gegner Parzivals, der "rote Ritter" Ither, dem Parzival die Rüstung raubt und von dem er den Namen übernimmt, der war eine Figur von Elisabeth. Er tauchte in unseren Spielen auf, bevor ich etwas von Parzival wußte. Er blieb mir fremd, denn unsere Spiele kreisten um die Gestalten aus Felix Dahns "Kampf um Rom" und aus den deutschen Heldensagen. Die Ritter aus König Arthurs Tafelrunde gehörten nicht dazu. Minnedienst für Damen war unseren Rittern fremd. (Überhaupt tauchten Frauen erst recht spät und auf Anregung meines Großva- ters unter den Spielfiguren auf.)
Mit einem Text von Wolfram von Eschenbach, dem Dichter des Parzival, habe ich mich intensiv beschäftigt (für eine Zwischenprüfung), aber das war sein "Willehalm", nicht der Parzival.
"Der Rote Ritter" ist der erste Roman von Muschg, in dem ich viele Passagen mit reiner Lesefreude fand. Noch ein persönlicher Bezug: Soweit ich mich erinnere, hat Muschg die Überzeugung, daß der Parzival das wichtigste Werk der deutschen Literatur sei, unter dem Einfluß von Bertau gewonnen. Und bei Bertau habe ich einen Gotischkurs und ein Seminar über Neidhart von Reuntal mitgemacht. Der hat uns Geschichten von angeblichen Germanenkongressen über Lautentwicklung erzählt, hat uns das Nibelungenlied vorgesungen und Neidharts Lieder in leicht verjazzten Fassungen aufgenommen.

Werke von Adolf Muschg bei Perlentaucher

Wapnewski über den Schluss des Werks:

"Muschg verfährt konsequenter. Er hebt die fragwürdige Ordensburg Munsalvaesche einfach auf, das ganze Gebilde mit seiner dubiosen Sendung und seinen blassen Sendlingen hat ausgedient. Der neue Gralskönig mit seiner Königin Condwir Amurs will als echter Romantiker immer nach Hause, will nichts als ein Zuhause. Und findet es auch. Findet es mit ihr und beider Söhnen, dem Zwillingspaar Kardeiz und Loherangrin.

»Pst!« ist das letzte hörbare Wort des Romans, wenn es denn hörbar ist. Da schließt sich der Ring, denn »Pst!« war auch das erste. Und will sagen, daß ein Rest ungesagt bleibt, vielleicht der entscheidende Rest.

Und dazwischen also das große Welttheater der Geschobenen und Schiebenden, Parzival vor allem und sein brüderlicher Cousin und Kontrapunkt Gawan und die verzückenden Frauen von Liaze und Condwir Amurs und Jeschute und Cunneware und Antikonie und Bene bis zu der faszinierenden Femme fatale Orgeluse.

Zu schweigen von jener kindlichen Obilot, deren Ausstrahlung schon Wolfram die bedenklichen Züge eines Nymphchens zuweist und die Muschg sanft verstärkt, indem er ihr, sehen wir recht, den Beziehungszauber einer Puppe japanischen Zuschnitts verleiht . . .

Ist es auch eine Geschichte von, also über Adolf Muschg? Im Magazin der Süddeutschen Zeitung hat Muschg sich merkwürdig enthüllend und doch wieder verbergend die Rolle des Roten Ritters in seinem privaten Leben angedeutet, vor allem die Liebe und die Ehe betreffend. Keine Parallelen, eher raunende Orakelsprüche, mannigfacher Deutung freigegeben. Demnach wuchs er in die Rüstung des Roten Ritters hinein als in eine Verkleidung, so wurde eine »alte Fabel zur verbesserungsfähigen Lesart meiner selbst«.

Ihren anmutigen Gestus verliert die Dichtung über ihre tausend Seiten nicht, da klingt die Sprache wie zu Prosa geronnene Lyrik, Muschg malt Landschaft und Natur mit zartem Pinsel und in durchsichtigen Aquarelltönen, daß es nur so eine Art hat, o Täler weit o Höhen. Und kein banaler Augenblick und Zungenschlag in dem Riesenbuch - es sei denn, er wolle banal sein. Die rechte Einstellung auf das Tableau aber gibt die Perspektive der Ironie.

Denn man muß dessen eingedenk sein, daß es sich hier durchweg um Geschehnisse handelt, die, realistisch in zupackendem Ernst verstanden und wiedergegeben, etwa den Wirklichkeitsgrad der Großen Oper hätten und sich, distanzlos und ungebrochen angeboten, der Lächerlichkeit preisgäben.

Die Nuancen wechseln spielerisch wie die bunten Figurationen eines Kaleidoskops. So wenn Muschg rollenspezifisch formuliert, also jeder Figur die nur ihr eigene Sprache verleiht. Oder wenn er bewußt aus der jeweiligen Stilebene herausbricht, die Szene verfremdet und in Frage stellt, sie aufhebt in einem flapsigexotischen Wort wie »okeeh«, in einem wortzeugenden Fremdkörper wie dem PC in des Burgfräuleins Kemenate.

Auch nach getaner Lesearbeit bleibt nachwirkend die Impression einer Daseinsfülle, die nicht von ungefähr an die Kunst des Films erinnert - und ein Regisseur wie Rohmer müßte all dies inszenieren.

Es ist manches von Don Quijote in diesen Rittern aus der Artus-Schule. Sie versuchen, einen Traum zu leben. Das ist zu ihrer Zeit schon demode. Hingegen ein Leben zu träumen, das läge wiederum auf der Illusionsebene der Gralsburg. Wenn aber Muschgs Parzival so etwas wie eine Lehre geben wollte (was er klüglich vermeiden wird, der fatalen Folgen solchen Verfahrens aus mütterlichem und Erzieher-Mund eingedenk), dann würde er wohl vorschlagen, ein Leben zu leben und einen Traum zu träumen. Mit einem »Pst!« am Ende."

(DER SPIEGEL 17/1993  25.4.1993)

16 Juli 2011

Der Hugenottenkornett Abraham Bismarck

Ludolf von Bismarck (1541-1590), der Begründer der Schönhauser Linie der Bismarcks, kämpfte schon mit 24 Jahren als Rittmeister im Türkenkrieg im kaiserlichen Heer, vier Jahre später dagegen ist er im deutlich niedrigeren Rang eines Kornett im Heer des Hugenottenführers Admiral Gaspard II. Coligny. (dazu: Ernst u. Achim Engelberg: Die Bismarcks, S. 68)
Vielleicht hat diese merkwürdige Rangerniedrigung Walter Flex dazu angeregt, eine Novelle über einen - im Gegensatz zu Ludolf - unverheirateten Kornett Abraham von Bismarck zu schreiben, der nach der Schlacht von Montcontour auf den Tod darnieder liegt, doch von einer Katholikin gerettet wird, die sich während der Pflege in ihn verliebt.

Reichlich konstruiert wirkt der Tötungsversuch, den sie an ihm unternimmt, um ihn vor der Folter und grausamen Hinrichtung durch die Inquisition zu retten.
Als dieser Tötungsversuch misslingt, sieht sie das als Beweis dafür an, dass Gott ihm eine grausame Hinrichtung bestimmt hat, und droht darüber wahnsinnig zu werden. Er dagegen nutzt die Gelegenheit zur Flucht.

Die Erzählung schließt:
Jeder Schritt, der uns von einem geliebten Wesen entfernt, bringt uns ihm näher. [...] Der Weg von der Geliebten ist ein Weg zu ihr hin. Aber jede Stunde, die über den Weg hinstreicht, ist wie ein Vogel, der ein Samenkorn fallen läßt, das auf dem Pfad wuchert. Vogel auf Vogel fliegt über den Weg... Alle Zeit scheidet und kann nicht verbinden.
Das erfuhr der Mann nach Jahren.
Die Erzählung zeigt das erzählerische Talent von Flex, doch daneben auch deutliche Anfängerfehler.
Sie ist die Eingangserzählung des Novellenzyklus' Zwölf Bismarcks und entstand 1913, als Flex nach Otto von Bismarcks Tod Hauslehrer in dessen Familie war. Veröffentlicht wurde sie, nachdem es zwischen ihm und der Familie zu einem "nach außen sorgfältig kaschierten – Bruch" (Wikipedia) gekommen war.

01 Juli 2011

Schubert: Die schöne Müllerin

Von allen Schuber-Liederzyklen konnte ich mit der „Schönen Müllerin “ am wenigsten anfangen. Die Texte von Wilhelm Müller transportierten mir nur „Wandern, Bächlein, Liebe“, dem einzelnen Gedicht vermöchte ich keine mich ansprechende Aussage abzugewinnen. Das ging so weit, dass ich mich nicht einmal für die Geschichte interessierte. Die vom Bach, der den wandernden Müllerbuschen zur schönen Müllerstochter führt, ihn zu Liebesfreuden und Liebesleid führt. Der Jäger als Rivale, Eifersucht, die Blumen als Liebeszeichen, die mit der schwindenden Liebe der Müllerin wertlos zu werden drohen. Schließlich das Ende der Liebe und der Bach, der den Müller in seinem Schlummer beschützt vor allem, was ihm Unruhe gemacht hat. Alles fügte sich für mich nicht zusammen. Ganz im Gegensatz zur Winterreise, wo jedes Gedicht eine eigene Aussage für sich hat, die zum Ganzen stimmt.
Nur zwei Gedichte stachen aus dem Zyklus heraus: „Trockne Blumen“ und „Des Baches Wiegenlied“. Hier hat der Text genügend Aussagekraft, dass die geniale musikalische Gestaltung auch ohne tieferes Einhören fühlbar wird: Die Melancholie beim Anblick der vertrockneten Liebeszeichen verlorenen Glücks und dann der Aufruf zum frischen Erblühen im neuen Lebensfrühling. Und andererseits der einwiegende Gesang des Baches, der zum Todesschlaf - befreit vom Liebesleid – einlädt und ihn (ab der 3. Strophe) begleitet.
Die Interpretation des jungen Fischer-Dieskau (hier die ersten vier Lieder vom reifen Sänger interpretiert) hat mich auch die anderen Lieder neu sehen lassen.

Die Texte:

1. Das Wandern
Das Wandern ist des Müllers Lust,
Das Wandern!
Das muß ein schlechter Müller sein,
Dem niemals fiel das Wandern ein,
Das Wandern.

Vom Wasser haben wir's gelernt,
Vom Wasser!
Das hat nicht Rast bei Tag und Nacht,
Ist stets auf Wanderschaft bedacht,
Das Wasser.

Das sehn wir auch den Rädern ab,
Den Rädern!
Die gar nicht gerne stille stehn,
Die sich mein Tag nicht müde drehn,
Die Räder.

Als Kind habe ich das Lied ungezählte Male auf die volkstümliche Melodie gesungen. Durch die ständigen Wiederholungen - wo nur die Beispiele für die begleitende Bewegung wechseln, scheint es besonders geeignet, als Wanderbegleitung gesungen zu werden.

Die Steine selbst, so schwer sie sind,
Die Steine!
Sie tanzen mit den muntern Reihn
Und wollen gar noch schneller sein,
Die Steine.

Hier habe ich schon in der Kinderzeit den Gegensatz zwischen Trägheit der Masse und dem Bedürfnis nach Beschleunigung gespürt. Doch erst in Schuberts Melodieführung findet er seinen angemessenen Ausdruck.

O Wandern, Wandern, meine Lust,
O Wandern!
Herr Meister und Frau Meisterin,
Laßt mich in Frieden weiterziehn
Und wandern.

Noch treibt es den Wanderburschen weiter. Nichts hält ihn zurück.

2. Wohin?

Ich hört ein Bächlein rauschen
Wohl aus dem Felsenquell,
Hinab zum Tale rauschen
So frisch und wunderhell.

Ich weiß nicht, wie mir wurde,
Nicht, wer den Rat mir gab,
Ich mußte auch hinunter
Mit meinem Wanderstab.

Hinunter und immer weiter
Und immer dem Bache nach,
Und immer frischer rauschte
Und immer heller der Bach.

Ist das denn meine Straße?
O Bächlein, sprich, wohin?
Du hast mit deinem Rauschen
Mir ganz berauscht den Sinn.

Was sag ich denn vom Rauschen?
Das kann kein Rauschen sein:
Es singen wohl die Nixen
Tief unten ihren Reihn.

Laß singen, Gesell, laß rauschen
Und wandre fröhlich nach!
Es gehn ja Mühlenräder
In jedem klaren Bach.

3. Halt!

Eine Mühle seh ich blinken
Aus den Erlen heraus,
Durch Rauschen und Singen
Bricht Rädergebraus.

Ei willkommen, ei willkommen,
Süßer Mühlengesang!
Und das Haus, wie so traulich!
Und die Fenster, wie blank!

Und die Sonne, wie helle
Vom Himmel sie scheint!
Ei, Bächlein, liebes Bächlein,
War es also gemeint?

4. Danksagung an den Bach

War es also gemeint,
Mein rauschender Freund?
Dein Singen, dein Klingen,
War es also gemeint?

Zur Müllerin hin!
So lautet der Sinn.
Gelt, hab ich's verstanden?
Zur Müllerin hin!

Hat sie dich geschickt?
Oder hast mich berückt?
Das möcht ich noch wissen,
Ob sie dich geschickt.

Nun wie's auch mag sein,
Ich gebe mich drein:
Was ich such, hab ich funden,
Wie's immer mag sein.

Nach Arbeit ich frug,
Nun hab ich genug
Für die Hände, fürs Herze
Vollauf genug!
Textnachweis

Interpretationen von Fritz Wunderlich:
Ich hört ein Bächlein rauschen
Der Müller und der Bach
Des Baches Wiegenlied