29 Dezember 2011

Ulla Hahns autobiographische Romane - Entwurf

Poetische Kraft beweist das Symbol der Steine, das sich durch die Romane zieht.
Der Großvater (mütterlicherseits) der Heldin Hildegard bietet ihr Buchsteine, aus denen sich erfundene Geschichten lesen lassen, Wutsteine, an denen man anstelle von Personen seine Wut auslassen kann, indem man sie mit den gehassten Personen identifiziert und sich ihrer dann in effigie entledigt. Wichtig ist der Lachstein, den sie von ihrem Bruder erhält und der es ihr ermöglichen soll, sich vom Bedrohlichen einer Situation zu distanzieren und es wegzulachen.
Am Schluss des ersten Buches (Das verborgene Wort) steht dann der weiße Stein der Offenbarung (2,17), der eine neue Existenz verheißt.
Im zweiten Roman (Aufbruch) stehen Godehards Steine für lebensfernens systematisches Wissen und als Edelsteine für äußeren Reichtum, der - ähnlich wie bei einem Teufelspakt - mit dem Verlust der Geliebten einhergeht, so dass Godehard keine wahre neue Bindung eingehen kann.

Einen ähnlichen Seelenverlust erlebt Hildegard nach ihrer Vergewaltigung. Das Versprechen des weißen Steins versucht sie - nach einer Phase seelischer Erstarrung (theologisch gesprochen: Gottesferne) - jetzt aus eigener Kraft wahr zu machen. Dafür muss sie seelische Berührung durch Dichtung vermeiden und Buchgelehrsamkeits-Germanistik betreiben.

Angenehm berührt an den Romanen auch die intensive Einbeziehung von Arbeitswelt und ihren Konflikten und die des dörflichen und familiären Milieus, die durch den sehr gezielten Einsatz von Dialekt an emotionaler Eindruckskraft gewinnt.
Erfreulich ist auch das Hereinnehmen von Zeitgeschichte in Gestalt der Auschwitzprozesse, wobei die Schuldleugnung der Täter ein Gegenbild darin findet, dass nach ihrer Vergewaltigung sie sich die Schuld gibt.
Dass Täter wie Opfer die Kraft zum Weiterleben dadurch finden, dass sie sich weigern, das Tatgeschehen anzuerkennen und zu verarbeiten, wird im Roman nicht angesprochen, diese Parallele kann nur interpretatorisch hineingelegt werden.
... erschrieb sich vor meinen träumenden Augen eine Geschichte. Stein um Stein [...]. Wie schön, dachte ich, erwachend, vollkommen, nur schade, dass ich nichts behalten konnte. Aber ich würde sie weitersuchen, die Geschichte, meine Geschichte.
"Sie arbeitet am dritten Teil ihrer Trilogie, will aber zunächst einen weiteren Lyrikband veröffentlichen." (Wikipediaartikel)

(Zunächst habe ich - brav [;-)] der Anweisung von Hildegards Deutschlehrer Rebmann folgend - keinen Text über Hahns Romane gelesen. Die weiteren Passagen gehen von der Kenntnis weiterer Texte aus.)

Dass die Heldin Hildegard oder Hilla Palm heißt, ist wohl eine Huldigung der Autorin an Hilde Domin. Für mich ein sympathischer Zug.

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