22 Januar 2012

Gustav Freytag: Die Geschwister (aus: Die Ahnen)

Der Rittmeister von Alt-Rosen

Den Dreißigjährigen Krieg führt Gustav Freytag am Beispiel des Rittmeisters Bernhard König von Alt-Rosen und seiner Schwester Regina vor, Anlass genug, die Erzählung mit der folgenden (Der Freikorporal bei Markgraf-Albrecht) unter dem Titel "Die Geschwister" zu vereinigen.
Wir erleben das Lagerleben von Regimentern, die sich vom Marschall Turenne getrennt haben, um die evangelische Sache nicht verraten zu müssen, das Schicksal der in den Wald flüchtenden Bauern, den Privatbereich Herzog Ernsts des Frommen (einem Vorfahr von Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha, dem Maezen Gustav Freytags) und schließlich auch eine Hexenverfolgung, deren Opfer Judith, die Geliebte Bernhard Königs, wird.
Bernhards Beitrag zum Kriegsrat der einen obersten Führer suchenden Regimenter:
Ansehnliche Herren und lieben Brüder! Da ich einer der jüngsten bin, ziemt mir mehr zu hören als zu raten. Was dem Heere am vorteilhaftesten ist für Sold, Quartiere und Ruhm, darüber haben viele unter uns mehr Erfahrung als ich. Ich aber will sagen, was uns allen während unserer Händel mit den Franzosen am Herzen gelegen hat: Wir haben uns von dem Marschall darum geschieden, weil wir Deutsche sind und unser Blut nicht länger für den Eigennutz fremder Potentaten vergießen wollen. Wir hören viel von der alten Herrlichkeit des deutschen Landes, wo ist sie hingeschwunden? Ich kenne manchen unter euch, der mitten in Brand und Plünderung aus tiefem Herzen erseufzte über das Unglück, welches wir ertragen und anderen zufügen, und ich hörte manchen Kriegsmann mit grauem Haar einen Fluch ausstoßen gegen die vornehmen Perücken, welche Frieden im Munde führen und den Krieg im Herzen begehren. Fünf Jahre verhandeln die Schreiber über den Frieden, und wir sind weiter davon entfernt als je. Ich aber lebe des Glaubens, daß der römische Kaiser als der hartnäckigste und diffizilste Gegner des Friedens gegen uns steht. Er fühlt in seinen Erblanden wenig von der Kriegsnot und ist wohl zufrieden, wenn die Dörfer und Städte der evangelischen Landesherren verwüstet werden. Und ich sage euch, ihr Herren und Brüder, nicht eher wird er sich einem billigen Vertrage zuneigen, als bis ein deutsches Heer über seine Berge zieht und seine Hofburgen ausbrennt. Darum, wenn die Großen üblen Willen haben, das deutsche Land in einen besseren Zustand zu bringen, so meine ich, sollen wir Kleinen dazu helfen. Habt ihr den Mut und den Willen, euch als Helden zu erweisen und den Kaiser zum Frieden zu zwingen, so wählt euch einen kühnen Kriegsobersten, dem ihr zutraut, daß er sich mit eurer Hilfe hoher Anschläge vermesse. Und in diesem Falle rate ich, daß ihr den General Königsmark zuzieht, obgleich er den Schweden dient. Denn wir wissen, daß er von allen großen Befehlshabern am fröhlichsten schlägt und in seinen Reiterstiefeln weder Tod noch Teufel fürchtet. Wollt ihr jedoch so hohes Wagnis nicht auf euch nehmen, so wahrt wenigstens euer Gewissen, auf daß ihr nicht ferner an der Zerstörung teilhabt, und sucht einen gerechten protestantischen Landesherrn, dem ihr euch zum Schutz seines Landes anbietet und der vielleicht, wenn er die Regimenter entlassen will, mit unseren Völkern, ihren Weibern und Kindern die leeren Bauernhöfe seines Landes besetzt. Wollt ihr in solcher Weise für das Heil des gemeinen Reiters sorgen, so fragt den Herzog Ernestus, den Bruder unseres seligen Kriegsherrn, ob er die Regimenter auf billige Bedingungen in seine Gewalt aufnimmt. (G.Freytag: Die Ahnen, Der Rittmeister von Alt-Rosen, Kapitel "Der Kriegsrat", S.974)

Der Freikorporal bei Markgraf Albrecht (1721)

Um ein möglichst umfassendes Bild  der von ihm in den vorhergehenden Erzählungen behandelten Gebiete, in denen Deutsche siedelten, zu bieten,  verbindet Gustav Freytag einen Bericht aus dem Sachsen und Polen Augusts des Starken mit einem aus dem Preußen des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I..
Dabei setzt er, um das Interesse des Lesers und die Dramatik des Geschehens zu erhöhen, nicht nur zwei Liebesgeschichten, sondern auch das Motiv der unbedingten Opferbereitschaft für den Freund ein, wie wir es aus Schillers Bürgschaft kennen. Nur sind es hier Brüder, die beide bereit sind, sich für den anderen zu opfern, nicht zwei Freunde und zusätzlich bestand vorher eine ganze Zeit lang eine Rivalität zwischen ihnen.

Um die negativen Seiten der Herrschaft des Soldatenkönigs zu zeigen, lässt er den Sachsen August König freiwillig in preußische Dienste treten und dabei die Schrecken absoluter militärischer Unterordnung und des Rekrutierungssystems kennen lernen. Doch gerade als August höchst negative Erfahrungen mit dem System gemacht hat, trifft er auf einen hilfreichen Zivilisten, der seine Vorzüge herausstellt:
»Ich glaub's wohl«, sagte der Wirt, »denn manchen trifft es hart und grausam. Jedoch dazu sind wir alle da, die einen zahlen die Steuern, während die anderen marschieren, damit die Fremden Respekt vor uns behalten. Als mein Großvater jung war, hausten die fremden Kriegsvölker hier am Orte wie Mordbrenner und Kannibalen, und die Bürger wurden wie die Hunde erschlagen, von den Weibern und Kindern gar nicht zu reden. Als aber mein Vater jung war, hieben wir Brandenburger den Schweden, der sich noch einmal ins Land gewagt hatte, mit unseren Fäusten hin aus; seitdem haben wir Sicherheit, unsern Weibern wird keine Schmach mehr angetan, und unsere kleinen Kinder werden nicht mehr unter die Hufe der Pferde geworfen. Wenn nur von den Herren Offizieren Billigkeit geübt wird, so ist die Last für das Volk zu ertragen. Unsere Landeskinder, soweit sie wirklich eingezogen werden, dienen nicht gar lange und kommen klüger nach Hause zurück, als sie gegangen sind. Ich denke, es ist bei uns in Stadt und Land, obgleich wir viele Soldaten unterhalten, mit der Nahrung und mit dem Verdienst nicht schlechter bestellt als bei Ihnen in Sachsen oder anderswo in Deutschland. Denn unser König führt einen schweren Stock, aber er sorgt auch wie ein Vater für die Blauen und für uns andere in Hemdsärmeln.«
August freute sich über die kluge Rede, denn auch er fühlte zuweilen [1120] wieder den Stolz eines Preußen, ... (G. Freytag: Der Freikorporal bei Markgraf-Albrecht, Kapitel Alles verwandelt", S.1119/20)
Die Verhältnisse in Polen lässt Freytag den Kandidaten der Theologie Friedrich König erleben und das bietet dem Erzähler die Möglichkeit, seinen Helden darüber dem Soldatenkönig berichten zu lassen:

»Was habt Ihr sonst in Thorn gesehen?« fragte der König. »Erzählt geradeaus und ehrlich.«
Friedrich begann seinen Bericht über die Standhaftigkeit und die letzten Stunden des Konsuls Roesner und der übrigen Gerichteten. Der König setzte sich und hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu, bis der Erzähler mit den Worten schloß: »Königliche Majestät, in diesen schrecklichen Tagen habe ich das Größte erlebt, was einem Diener des heiligen Amtes zuteil werden kann, denn ich sah fromme deutsche Männer, welche mit Gottvertrauen mutig in einen elenden Tod gingen. Jeder von den zehn Gerichteten konnte sich Leben und Freiheit retten, wenn er seinen Glauben abschwor. Aber nur einer von elfen wurde schwach, die anderen zehn blieben treu bis zum Tode.« Da faltete der König die Hände: »Was sagtet Ihr vorhin über eine Hilfe, die sie von mir begehrt haben?«
(G. Freytag: Der Freikorporal bei Markgraf-Albrecht, Kapitel Von Thorn nach Berlin, S.1138)
Freilich, da der Theologe groß ist, hilft es ihm nichts, dass er die protestantische Seite im Soldatenkönig anspricht. Dieser will ihn behalten und lässt ihn nur gehen, als er versprochen hat, sich wieder zum Dienst zu stellen, falls sein Bruder nicht aus seinem Diensturlaub zurückkehrt. Damit beginnt die Geschichte des Edelmuts der Brüder ...

Marcus König

Der Thorner Kaufmann Marcus König hat mit dem Hochmeister des Deutschen Ordens Albrecht von Hohenzollern einen Vertrag geschlossen, wonach der Kaufmann seinen gesamten Besitz dem Hochmeister zu Truppenwerbung zur Verfügung stellt, wenn dieser lieber sein Leben verliert, als für den Deutschen Orden dem polnischen König den Lehnseid zu leisten.
Albrecht wendet sich nach dem Auftreten Luthers der Reformation zu, erklärt sich zum weltlichen Herzog von Preußen und schwört seinem Onkel, dem polnischen König den Lehnseid.
Als der Kaufmann 1530 in Coburg seine Sache Luther vorträgt, argumentiert dieser:

 »Wenn der Herzog Euch gelobt hat, etwas zu tun, was er nach dem Willen Gottes nicht durchsetzen konnte, so war das Gelübde ein Unrecht, nicht die Vereitlung; und der Zorn über den vorschnellen Eid steht dem Herrn zu, nicht Euch. Mein Amt ist nicht, weltklug zu sein, doch muß ich Euch sagen, daß gerade Euer heißer Wunsch für das deutsche Wesen Eurem Haß gegen den Herzog unrecht gibt. Ihr wolltet Eure Heimat unter deutscher Herrschaft sehen, und deshalb wolltet Ihr, daß der Herzog lieber untergehen sollte, als dem Polen huldigen. War's nicht so?«
»So war es, Herr.«
»Nun gebt acht. Gesetzt, der Herzog wäre seinem Versprechen, das er Euch töricht gegeben, so treu nachgekommen, wie Ihr fordert, was hätten wir erlebt? Wäre er Hochmeister und Knecht des Papstes geblieben, so hätten ihn seine eigenen Untertanen verachtet und ausgestoßen, denn wir wissen wohl, daß der ganze Orden zerfiel wie morsches Gestein. Und hätte er bis zum Tode widerstehen wollen, so wäre ihm nichts übriggeblieben, als sich auf der Heide von polnischen Säbeln niederhauen zu lassen. Dann war er tot und seines Gelübdes quitt. Doch was wurde aus dem Ordensland, wenn der letzte Herr wie ein Katzbalger erschlagen war? Es wäre den Polen gänzlich anheimgefallen, kein Hahn hätte darum gekräht; und was Ihr hartnäckig begehret, das wurde nach menschlichem Erkennen für alle Zeit vereitelt. Aber gerade, weil der Herzog erkannte, daß sein Versprechen gegen Euch eine sündige Vermessenheit war, und weil er sich beim Leben und bei der Regierung erhielt, bewahrte er seinem Lande ein deutsches Regiment. Und daß er den geistlichen Stand aufgab und ein weltlicher Herr wurde, verschaffte dem Lande die Hoffnung auf fürstliche Nachkommenschaft und auf ein Herrengeschlecht, welches sich dort behaupten und Euer deutsches Wesen, wie Ihr wollt, für künftige Zeiten bewahren kann. Ihr seht [952] also, das Versprechen, welches Ihr von ihm erhieltet, war nicht nur ein Unrecht vor dem Herrn, die Erfüllung wäre auch nachteilig für das, was Ihr selbst begehrt.« (G. Freytag: Marcus König. Schluss, S.951-952)
Der Roman schließt:
Da klang über den Lauten der Natur die feierliche Stimme des Mannes, in welchem sich die Kraft, die Größe und die Einfalt des deutschen Wesens vereinten wie nie vorher in einem einzelnen Menschen. [...] alle späteren, wohin sie auch der himmlische Landwirt nach dem Bedarf seiner Wirtschaft säte, wurden Dank schuldig für ihre Freiheit und für ihre Frömmigkeit dem Doktor Martinus Luther.G. Freytag: Marcus König. Schluss, S.954)
Der Nationalliberale Gustav Freytag, der 1870 aus dem Reichstag ausschied, weil er Bismarcks Politik nicht mitmachen wollte, schreibt nach der Begründung des Deutschen Reiches einen Roman, in dem er die Gründung des ersten Staates mit dem Namen Preußen durch die damals höchste evangelische Autorität in Deutschland, Martin Luther, rechtfertigen lässt.
Nach Bonifatius ist es diesmal Martin Luther, der einen Angehörigen des Thüringer Geschlechtes, an dessen Familiengeschichte Freytag in "Die Ahnen" die deutsche Geschichte veranschaulichen will, erkennen lässt, dass er einen falschen Weg gegangen ist und dass er seinen Frieden nur findet, wenn er der geistlichen Autorität folgt.
Bei aller Liberalität Freytags zeichnet er hier doch ein bemerkenswertes Bündnis von Thron und Altar.

14 Januar 2012

Trotz allem hier ein Auszug aus Mickiewicz' "Pan Tadeusz"

Marcel Reich-Ranicki schreibt über den "polnischen Goethe":

"Mickiewicz verkörpert am stärksten das polnische Ideal des Dichters: In seiner Biographie und in seinem Werk drückt sich die Synthese von Kunst und Leben, von Geist und Tat am klarsten aus. [...]
Je mehr die polnische Literatur den unterschiedlichen Ansprüchen nachkam, desto mehr war sie für die Ausländer unverständlich und auf Kommentare angewiesen. Das Nationalepos der Polen, der „Pan Tadeusz“ von Mickiewicz, beginnt mit den Worten: „O Litauen, du mein Vaterland . . .“ Schon braucht der deutsche Leser eine Erläuterung. Also Lyrik mit Anmerkungen? Das ähnelt, fürchte ich, der Liebe mit einem Sexualleitfaden in der Hand. Das wunderbare Epos „Pan Tadeusz“ wurde fünfmal ins Deutsche übersetzt und hat hier doch keine Leser gefunden."

Erster  Gesang
Zum Inhalt: Die Wirtschaft
Rückkehr des jungen Herrn. Die erste Begegnung im Stübchen, die zweite bei Tische. Des Richters wichtige Lehre von der Artigkeit. Des Kämmerers politische Bemerkungen über die Moden. Beginn des Zwistes um Mutz und Falk. Die Klagen des Wojski. Der letzte Gerichtsfrohn. Ein Blick auf die damalige politische Lage Lithauens und Europas.

Lithauen! Wie die Gesundheit bist du, mein Vaterland!
Wer dich noch nie verloren, der hat dich nicht erkannt.
In deiner ganzen Schönheit prangst du heut' vor mir,
So will ich von dir singen, – denn mich verlangt nach dir!

O heil'ge Jungfrau, Czenstochowa's Schirm und Schild,3
Leuchte der Ostrabrama! Du, deren Gnadenbild
Schloß Nowogrodek und sein treues Volk bewacht:
Wie mich, als Kind, dein Wunder einst gesund gemacht,
Als von der weinenden Mutter in deinen Schutz gegeben,
Ich das erstorb'ne Auge erhob zu neuem Leben,
Und konnte gleich zu Fuß in deine Tempel geh'n,
Gerettet, Gott zu danken für's Heil, das mir gescheh'n:
So wird zum Schooß der Heimat dein Wunder uns wiederbringen!
Indessen trage du mir der sehnenden Seele Schwingen
Zu jenen waldigen Hügeln, zu jenen grünen Auen,
Die weit und breit sich dehnen am Niemenstrom, dem blauen, –
Zu jenen Feldern, prangend voll bunter Ähren und Garben,
[4] Wo goldig strahlt der Weizen, der Roggen silberfarben,
Rübsamen bernsteinhell, Buchweizen schneeig blüht,
In jungfräulichem Roth der duftige Quendel glüht,
Und, wie ein Band, durch Alles der grüne Rain sich schmiegt,
Drauf da und dort ein Birnbaum still die Krone wiegt.

Auf einem Hügel erhob sich mitten in solchem Land,
Von Birkengehölz umgeben, an eines Bächleins Rand,
Ein Herrenhaus, – von Holz, der Unterstock von Stein;
Es leuchteten von Ferne die Wände weiß und rein,
Das Weiß vom dunklen Grün der Pappeln noch gehoben,
Die ihm zum Schutze dienen vor des Herbstwinds Toben;
Ein wohnlich saub'res Haus, wenn auch von mäßiger Größe,
Hat eine große Scheuer, und drei Getreidestöße
Liegen noch neben ihr – die faßte der Söller nicht mehr.
Man sieht wohl, reichgesegnet ist das Land umher.

Mickiewicz: "Pan Tadeusz", 1. Gesang

Marcel Reich-Ranicki schließt die kurze Bemerkung zur polnischen Literatur, die ich oben zitiert habe, mit folgenden Worten:

"Diese Literatur, die stets intensiv mit nationalen, wenn nicht regionalen Fragen befasst war und immer auch noch die Erfordernisse der Zensur, zumal der zaristischen, zu umgehen hatte, konnte also schwerlich ein Echo im Ausland haben. Überdies sind in der polnischen Literatur rein poetische Werke (Gedichte, Versepen, Versdramen) erheblich origineller als die Prosawerke. Viele dieser Dichtungen hat man ins Deutsche übertragen, es sind bessere oder schlechtere Übersetzungen, doch eins haben sie alle miteinander gemein: Sie geben vom Fluidum, vom Charme dieser Dichtung nur wenig oder gar nichts wieder."

Wollen Sie trotzdem versuchen, hinein zu schauen?

Hier das polnische Original.

In Dantes Hölle trifft Vergil seine Kollegen und seine Figuren

Mein Meister sprach: Du unterläßt zu fragen,
Was es für Geister sind, die du hier siehest;
Doch sollst Du, eh wir weiter gehn, vernehmen,
Daß sie nicht sündigten. Und wenn Verdienste
Sie hatten, g'nügt es nicht, weil ohne Taufe
Sie starben, welche deines Glaubens Teil ist.
Und lebten sie noch vor dem Christentume,
So beteten zu Gott sie falscher Weise;
Und diesen bin ich selber beizuzählen.
Ob solchen Mangels, nicht ob andren Fehles,
[24] Sind wir verloren, und nur dadurch leidend,
Daß, ohne Hoffnung, wir in Sehnsucht leben. –
Als ich's vernommen, faßte tiefer Schmerz mich
Denn ich begriff, wie Seelen höchsten Wertes
In dieses Vorhofs Mittelzustand schwebten.
Sag' an, mein Meister, sage mein Gebieter,
Begann ich, um Bestätigung zu finden
Des Glaubens, welcher jeden Wahn vernichtet:
Ward einer je von hier befreit und selig
Durch fremdes, oder eigenes Verdienst? –
Und er, verstehend die verhüllte Rede,
Entgegnete: Noch neu in diesem Zustand
War ich, als ein Gewaltiger daher kam,
Um dessen Haupt sich Siegeszeichen wanden.
Er raubte uns des ersten Vaters Schatten
Und Abel seinen Sohn, Noah und Moses,
Der die Gesetze schrieb, und doch gehorchte,
Abra'm den Patriarchen, König David,
Israel mit dem Vater und den Kindern
Und Rahel auch, um die er lang geworben,
Viel andre noch, und alle macht' er selig.
Doch wissen sollst du, daß niemals vor ihnen
Die Seele eines Menschen ward errettet. –
[...]
Da hört' ich einer Stimme Ruf erschallen:
Erweiset dem erhabnen Dichter Ehre!
Sein Schatten kehrt zurück, der uns verlassen. –
Als nun die Stimme schwieg und nicht mehr tönte,
Sah ich vier hohe Schatten sich uns nahn;
Ihr Antlitz zeigte Trauer nicht, noch Freude.
Mein Meister aber sagte rasch zu mir:
Sieh jenen mit dem Schwert in seiner Hand,
Der vor den andren hergeht als ihr Meister!
Das ist Homer, der königliche Dichter
Der zweit' ist der Satiriker Horaz,
Als dritter folgt Ovid, Lucan als letzter.
Weil jeder nun mit mir den Namen teilt,
Den du die Einzelstimme nennen hörtest,
Tun sie mir Ehr' an, und so ist's geziemend. –
So sah versammelt ich die schöne Schule
Der Meister des erhabensten Gesanges,
Der ob den andren, gleich dem Adler, fliegt.
Als miteinander etwas sie gesprochen,
Da wandten sie zu mir sich, freundlich grüßend;
Mein Meister aber lächelte darob.
Und mehr der Ehr' erzeigten sie mir noch;
Denn ihrer Schar gesellten sie mich zu,
So daß ich Sechster ward im Kreis der Weisen.
[...]
Durch sieben Tore traten dann wir ein
Und fanden uns auf frisch begrünter Matte.
Die Geister dort, sie blickten ernst und ruhig,
Es lag in ihrem Ausdruck hohe Würde,
Sie sprachen selten und mit sanfter Stimme.
Wir wählten einen Platz, der licht und offen
Zur Seite sich erhob, so daß von dort aus
Wir all die Scharen deutlich überschauten.
Uns gegenüber auf dem grünen Teppich
Wies mir mein Führer dann die großen Geister;
Weshalb ich noch mich rühm, und glücklich preise.
Elektra sah ich unter viel Gefährten,
Wovon Aeneas ich erkannt' und Hektor,
Cäsar im Waffenschmuck mit Falkenaugen.
Ich sah Cammilla und Penthesilea,
Latinus auch den König, und die Tochter
Lavinia, welche fern den andren saßen.
Den Brutus sah ich, der Tarquin vertrieben,
Lucretia, Julia, Martia und Cornelia,
Und einsam und abseits den Saladin. –
Als etwas höher ich die Wimper hob,
Sah ich den Meister aller die da wissen,
Umgeben rings von Philosophen-Schülern;
Auf ihn nur schauen ehrerbietig alle.
Hier sah ich Sokrates sowohl als Plato,
Die vor den andren ihm am nächsten stehn.
Auch Demokrit, dem alles gilt für Zufall,
Und Thales, Anaxagoras, wie Zeno,
Empedokles und Heraklit, den dunklen,
Diogenes und Dioskorides,
Heilsamer Pflanzen Sammler, Orpheus, Linus,
Cicero, Seneca, den Sittenlehrer,
Euklid, den Geometer, Ptolemäus,
Hippokrates, Galen und Avicenna,
Averroës, den großen Kommentator.
Unmöglich kann ich einzeln alle nennen.
Zur Kürze treibt so sehr des Stoffes Länge,
Daß dem Geseh'nen oft mein Wort nicht nachkommt. –
Dante: Die Göttliche Komödie, 4. Gesang, S.23-26

10 Januar 2012

Englische Geschichte als Übung in Satire

Der Autor stellt sich vor als "A PARTIAL, PREJUDICED AND IGNORANT HISTORIAN", was mit "parteiischer vorurteilsbelasteter und unwissender Historiker" zu übersetzen sich nahe legt, auf die tatsächliche fünfzehnjährige Verfasserin freilich nicht recht zutrifft.
Ich vermute, dass Jane Austen hier absichtlich das Klischee bedient, dass Frauen nichts von Geschichte verstünden. Jedenfalls aber ist diese "Geschichte" eine Fingerübung für die satirischen Passagen ihrer späteren Romane.

Wenn sie zu Heinrich VI. schreibt:
I cannot say much for this Monarch's sense. Nor would I if I could, for he was a Lancastrian. I suppose you know all about the Wars between him and the Duke of York who was of the right side; if you do not, you had better read some other History, for I shall not be very diffuse in this, meaning by it only to vent my spleen against, and shew my Hatred to all those people whose parties or principles do not suit with mine, and not to give information.
dann kann es gut sein, dass sie sich damit über das damals beliebte Geschichtsbuch The History of England from the Earliest Times to the Death of George II von Oliver Goldsmith (1771) lustig macht.

Die folgende Passage zu Edward VI. und die Hinrichtung von dessen ersten Thronverweser lebt freilich ganz von einem grotesken Gedankenspiel.
As this prince was only nine years old at the time of his Father's death, he was considered by many people as too young to govern, and the late King happening to be of the same opinion, his mother's Brother the Duke of Somerset was chosen Protector of the realm during his minority. This Man was on the whole of a very amiable Character, and is somewhat of a favourite with me, tho' I would by no means pretend to affirm that he was equal to those first of Men Robert Earl of Essex, Delamere, or Gilpin. He was beheaded, of which he might with reason have been proud, had he known that such was the death of Mary Queen of Scotland; but as it was impossible that he should be conscious of what had never happened, it does not appear that he felt particularly delighted with the manner of it.

Den vollständigen Text findet man hier.

08 Januar 2012

Gustav Freytag: Die Ahnen - Das Nest der Zaunkönige (1003)

Versehentlich habe ich meine Inhaltsangabe und Würdigung dieses Teilromans von Gustav Freytags Ahnen gelöscht. Daher jetzt nur ein ganz kurzer Hinweis: 
Immo, der Nachkomme des Märtyres Ingraban, hat für König Heinrich II. gekämpft, aber dessen Zorn erregt, weil er – selbstlos – für einen von Heinrichs Gegnern eingetreten war und dann auch dessen Tochter, die ins Kloster geschickt werden sollte, im letzten Augenblick – mit ihrem Einverständnis – entführt hatte.
Ihm und seinen sechs Brüdern droht daher die Todesstrafe. Doch kommt es nicht dazu. Weshalb, das mag man aus diesen Schlusspassagen der Erzählung entnehmen. (Der Hauptteil der Erzählung ist künstlerisch gelungener, doch gibt es keine andere Passage, in der sich ihre Gesamtaussage so konzentriert.)

Da der Erzbischof sah, daß der König ihm die Mühlburg versagte, so war ihm lieb, daß die Mönche von St. Wigbert sie auch nicht erhielten, sondern ein Knabe, den er sich einst geneigt machen konnte, und er antwortete lächelnd: »Der König hat weise entschieden und uns allen das Herz erfreut, indem er das Geschlecht eines seligen Bekenners vor den Edlen ehrte. Du aber Jüngling, denke daran, daß du fortan als Herr auf eigenem Grunde gebietest.«Der Knabe stand nachdenkend, dann trat er vor den König. »Ist's an dem, lieber Herr König, daß ich jetzt Herr bin über die Mühlburg?«Der König zog einen Ring vom Finger und faßte die Hand des Knaben. »Schwach ist deine Hand, du mußt ihn auf dem Daumen tragen«, sagte er. »Wie ich diesen Ring hier abziehe und dir anstecke, so übergebe ich, was dem Reiche an Berg und Burg deiner Väter gehört, dir zu freiem Eigen.«Gottfried küßte die Hand des Königs und rief freudig: »Und ich darf mit dem Gut beginnen, wozu nur immer ein Herr sein Gut gebrauchen will?«»Das darfst du, Jüngling«, versetzte der König unruhig, denn er sah den jungen Burgherrn zwischen dem Erzbischof und dem Mönch Reinhard stehen. »Nur beachte wohl, daß du es nicht zum Schaden des Königs gebrauchst.«Da schlug der Knabe froh die Hände zusammen und rief: »Nicht zum Schaden des Königs, sondern zu seinem Nutzen, denn ich will der Burg einen Herrn geben, der dem Könige besser dienen kann als ich.« Und er zog den Ring von seinem Daumen, lief damit durch die Versammlung zu seinem Bruder Immo, kniete vor diesem nieder und rief: »Nimm den Ring, mein Bruder, und nimm den Berg aus meiner Hand und dulde, daß ich dich als meinen Herrn ehre, denn lieb bist du mir, und gütig warst du mir immer wie ein Vater.« […]Der König, dem ganz ungewohnt war, daß ihn Kinderarme umschlangen, machte zuerst, seiner Würde gedenkend, eine Bewegung, den Weinenden abzuschütteln. Aber das Zutrauen und das heiße Weinen bewegten ihm das Herz, und er sprach leise: »Habt ihr je, edle Herren, bessere Rede eines Bittenden gehört? Auch du schweigst, Immo, und auch dir rinnt Tau von den Wangen? Ist das euer Lied, womit ihr die Herzen rührt? Noch mehr!« fuhr er fort, als er sah, daß die Brüder und die Mutter vor ihm knieten, »ihr versteht gut, wie man eines Königs Gnade gewinnt, leise nur dringt der Gesang in das Ohr, aber er vermag wohl den Zorn zu tilgen. Steh auf, Knabe; und du tritt näher, Immo, dein Recht sollst du erhalten im Guten und Bösen, wie du verdient hast.«Mit bleichem Antlitz trat Immo vor den Stuhl des Herrn und beugte das Knie. »Ich sehe dich vor mir«, fuhr Heinrich fort, »wie an jenem Abende, wo du den Brief des Grafen zu meinen Füßen niederlegtest. Damals war ich unwillig, weil du zum Vorteil eines anderen schwere Sorge auf mein Haupt sammeltest, und ich habe seitdem in meinen Gedanken mit dir gezürnt. Denn, Immo, ich war dir von Herzen zugetan, und ich vertraue ganz fest deiner Treue und deiner guten Gesinnung zu mir. An jenem Abend nun meinte ich mich von dir verraten, und daß du, um das Grafenkind zu gewinnen, die Treue gegen mich verleugnet hättest. Das tat mir von dir weh, und darum war seitdem dein Tun mir verhaßt. Heut aber habe ich erkannt, daß du redlich gegen mich warst, wenn auch unbedacht. Darüber bin ich froh. Und obgleich du gegen den Frieden des Landes gefrevelt und meinen Willen gekreuzt hast, und obgleich ich einen Spruch gegen dich finden muß als Herr, der über Recht und Frieden zu walten hat, so will ich dir doch vorher die Ehre geben, die der König einem Edlen gibt, der ihm lieb ist.« Der König erhob sich schnell, streckte die Hand nach dem knienden Immo aus, hob ihn auf, küßte ihn auf den Mund und lachte ihn freundlich an, und sein Antlitz, das sonst bleich war wie das eines leidenden Mannes, rötete sich, wie einem geschieht, der sich heimlich freut.
G. Freytag: Das Nest der Zaunkönige, Das Gericht des Königs 
Immo hob die Hand gen Himmel. »Unter den Engeln weilt ihr, liebe Väter, blickt günstig auf den Mann herab, den ihr als wilden Schüler gesegnet habt. Den guten Lehren, die ihr mir übergeben habt, verdanke ich Leben und Glück. Einem Spruch habe ich nicht gehorcht, der Mutter und den Brüdern habe ich zu lange meine Kriegslust geborgen, dadurch habe ich uns allen das Herz krank gemacht. Daß ich aber in der eigenen Bedrängnis meinen Helfer Heriman nicht im Stiche ließ, sondern die letzte Kraft daran setzte, ihn zu retten, das hat, wie ich merke, dem König bessere Gedanken über mich eingegeben, gerade als er mir am meisten zürnte. Und daß ich mir von Gerhard, als er in Not lag, nicht die Tochter angeloben ließ, das hat mir die Neigung des Königs und die Braut wiedergewonnen. Mein Erbteil habe ich nicht in fremde Hand gelegt, darum stehe ich jetzt als froher Herr auf freiem Eigen. So hat sich jede Lehre als heilbringend bestätigt.«Da rief Edith ihm zu: »Zornig trugst du das Schülerkleid. Dennoch sollst du heut die Mutter preisen, daß sie dich, den Widerwilligen, zu den Altären sandte. Denn nicht die Weisheit allein, sondern auch, was wenigen glückt, die liebe Hausfrau gewannst du dir unter den Mönchen durch die Klosterschule.«

07 Januar 2012

Die Brüder vom deutschen Hause (1226)

Im Hof von Ingersleben in der Nähe von Erfurt lebt der Ritter Ivo aus dem Geschlecht des Märtyrers Ingram. Seine Herrschaft ist reichsunmittelbar, doch freilich - bemerkt Freytag, der hier als Historiker spricht, nicht als Erzähler - hatte man "in dem Herrenhofe zuweilen erfahren, daß gerade freie Erbschaft Habe und Gut zersplittert und die Angehörigen scheidet, während Dienstbarkeit und Lehnbesitz die Stammgenossen zusammenhält und ein Geschlecht erhöht." 
So war der weniger ritterliche Verwandte Meginhart, der auf der Mühlenburg lebte, zum Grafen aufgestiegen, weil er es nicht ablehnte, immer wieder einmal als Lehnsmann höheren Herren zu dienen.
Ivo ist zunächst stolz darauf, einer unbekannten hohen Herrin zu dienen (vgl. Frauendienst von Ulrich von Liechtenstein) und in Turnieren (Tjost) für ihre Ehre zu kämpfen. (Besiegte Ritter mussten ein Stück ihrer Kleidung abgeben, aus einer Vielzahl solcher Stücke wurde dann ein Frauenmantel genäht, den der erfolgreiche Ritter seiner Herrin schenken konnte.)
Mit glühenden Wangen sprengte Ivo am nächsten Morgen in seinen Hof, er hob die Hand zum Gruß gegen seine Dienstmannen und fragte atemlos: »Wo ist der Schreiber?«, sprang aus dem Sattel und eilte in sein Gemach. Als Nikolaus eintrat, stieß der Herr den entblößten Dolch in den Tisch, um den Schreiber an seinen schweren Treueid zu mahnen, und ein zusammengefaltetes Pergamentblatt aus dem Gewande ziehend, gebot er: »Tritt vor das Messer und lies mir, was in diesem Briefe geschrieben steht, treu und genau, so wahr du leben willst«, und Nikolaus las folgendes:
»Ein armes trauriges Käuzlein schrieb an seinen Gesellen diesen Brief. – Ich, das Käuzlein, vernahm, wie zwei Frauen zueinander von einem Ritter redeten. Die eine lobte in guter Meinung seine Kunst im Speerkampf und sagte: er vermöchte wohl die Wappenzeichen am Gewande der Helden, welche er vom Pferde wirft, zu sammeln und seiner Herrin daraus einen wallenden Mantel zu gewinnen. Die andere Frau aber, welche aus der Fremde gekommen war, lachte spöttisch in argen Gedanken. Dennoch sage ich, könnte dieser Frau ihr Ritter einen ähnlichen Mantel erwerben, sie würde ihn mit Freuden statt ihres Gewandes umtun, wenn sie einmal mit ihrem Gesellen allein wäre. Manche, die sich hart gebärdet, verbirgt mit Mühe vor ihren Hütern Leid und Sehnsucht. Liebe Du mich, wie ich Dich. Der Brief muß liegen auf grünem Ast, ob ihn ein günstiger Wind erfaßt, ob ihn die Pfote des Katers packt, oder ob ihn der Specht zerhackt. – Der Brief ist zu Ende«, schloß Nikolaus verwundert.
»Lies noch einmal«, gebot Ivo, der neben ihm mit heißen Wangen auf das Pergament starrte. – »Und zum drittenmal, damit ich jedes Wort festhalte.« Darauf riß er den Dolch aus dem Tisch und winkte dem Schüler Entlassung. Als er allein war, barg er den Brief nahe bei seinem Herzen und rang die Hände. »Ja, du sagst es, arme Nachtvögel sind wir beide, endlos treibt die Sehnsucht, verhaßt ist mir das Leben, solange ich von dir getrennt bin, und wenn ich einmal vor dein Angesicht trete, wird auch das Wiedersehen zur Qual, denn das eherne Gitter ragt bis zum Himmel zwischen uns beiden, und kein Flügelschlag vermag darüber zu erheben.« Er warf sich in den Sessel und barg das Gesicht in den Händen. Doch nicht lange unterlag er dem Schmerze, denn ihm fiel,[533] wie Liebenden geschieht, wieder etwas Günstiges ein, er sprang auf und lachte: »Verstehe ich meinen Kauz recht, so wäre ihm die Kappe lieb, von der die beiden Frauen zueinander sprachen. Eine frohe Verkündigung finde ich in den Worten, daß sie sich darein hüllen will, wenn das Glück uns zusammenführt. Ich denke, Geliebte, daß ich dir den Mantel gewinne. Einen Mairitt wage ich dir zu Ehren, und das Tuch für dich hole ich mir im Speerkampf von den Edlen dieses Landes.« (G. Freytag: Die Brüder vom deutschen Hause. Der Ritt nach dem Mantel, S.532-533)
Freytag deutet an, dass Ivo der Landgräfin Else, der späteren heiligen Elisabeth, dient und dass die Nichte des Kaisers, Hedwig, den Brief geschrieben hat, der ihn zu seinem "Ritt nach dem Mantel" ermutigt hat.
Nahe vor ihren Füßen ertönte leiser Gesang, die Frauen sahen einander an. »Das klingt nicht wie das Lied eines Bauern, es ist eine ritterliche Weise«, sagte Hedwig und beugte sich über die Brüstung. Unter dem Söller fiel der Fels steil zur Tiefe. Auf einem Vorsprung, der kaum dem Stehenden Raum gab, lehnte ein Mann in ärmlicher Tracht, dem das Haar wirr um das Gesicht [565] hing; einen großen Filzhut, wie ihn die Landfahrer trugen, hatte er abgenommen und hielt ihn, nach der Höhe blickend, über sich, als wollte er eine herabgeworfene Gabe auffangen. »Klimmen bei euch die Bettler mit Lebensgefahr nach Almosen?« fragte Hedwig. »Kann ich ihm spenden, so tue ich's, denn er wagt seinen Hals oder doch seine heile Haut, wenn ihn die Wächter auf der Zinne erblicken.« Sie suchte in der Tasche, welche ihr an der Seite hing. »Fange auf«, rief sie hinab und warf etwas in den Hut, ein undeutlicher Dank wurde gehört, dann klang die frühere Weise fort. Während die Frauen lauschten, schwebte plötzlich ein dunkler Gegenstand vor ihnen in der Luft, ein Bündel, mit Stoff umwickelt, sank vor ihre Füße; die Frauen sprangen auf und sahen über die Mauer, der Felsblock war leer, der Fremde verschwunden. »Ihn deckt der Laubwald, wir aber haben ein Gegengeschenk empfangen«, rief Hedwig mutwillig, »bücke dich nicht darnach, Else, wer mag wissen, was darin ist.«
»Ich sehe silberne Borten glänzen«, versetzte Frau Else erstaunt.
»Rufen wir eine unserer Frauen, daß sie es öffne.« Sie klatschte schnell in die Hände, ihre Dienerin flog von der Mauerecke herzu, Hedwig gebot ihr in fremder Sprache. Die Dienerin löste die Bänder und entrollte einen bunten Mantel, seltsam aus vielen Stücken zusammengenäht, mit allerlei ritterlichen Zeichen, Sternen und Fabeltieren bedeckt. Die Landgräfin sah erschrocken darauf und rang die Hände. »Das ist der Mantel, den Herr Ivo im Kampfe für seine Herrin erworben hat.«
»Weißt du, wer die Herrin ist?« fragte Hedwig mit blitzenden Augen.
Else neigte wie betäubt das Haupt. Wieder machte Hedwig eine heftige Bewegung, die Dienerin raffte den Mantel zusammen. »Was soll aus der Speerbeute werden?« fragte sie wieder.
»Nie habe ich ihm ein Recht gegeben«, klagte Else, »nicht durch Wort, nicht durch Miene, mir so dreist sein Geschenk zu senden. Rein hielt ich mich vor dem Himmelsherrn und vor meinem lieben Hauswirt.«
»Eine andere Frau würde stolz sein, so teuer gewonnene Spende zu empfangen«, versetzte Hedwig kalt. Frau Else aber stieß mit dem Fuß an das Bündel. »Hinweg damit, eine Versuchung erkenne ich, die mir der Böse sendet, meinem Hausherrn will ich die Kränkung klagen.«
»Willst du Herrn Ivo töten oder deinen Gemahl und vielleicht beide, weil ein Ehrengeschenk über die Mauer geflogen ist, welches keine Königin mißachten wird? Wahrlich, bescheiden und demütig rollte der Bund vor unsere Füße. Merke auf, Else, kränkt dich das Gewebe, so strafe den, der es gesandt hat, durch Kälte in Blick und Wort; aber mache keinen Mann zum Vertrauten, keinen, Else, [566] denn du selbst möchtest die Folgen beweinen. Von der Gabe, die der Werber vor unsere Füße gesandt hat, denke ich dich schnell zu befreien.« Sie fragte die stumme Dienerin: »Brennt das Kaminfeuer in meiner Kammer? Trag den Bund eilig hinauf, schließ die Tür, wirf ihn in die Flammen und harre, bis er zu Zunder verbrannt ist.« Und sie fügte einige fremde Worte hinzu.
Als das Sarazenenmädchen die Treppe hinaufeilte, trat ihr ein Mann in dunklem Priesterkleide entgegen, es war Meister Konrad. Er riß das Bündel aus ihrer Hand, und während die Stumme heftig mit den Armen gegen ihn schlug und mißtönendes Geschrei ausstieß, lüftete er das lose Band, sah die Zipfel des zusammengerollten Tuches und gab es mit finsterer Miene zurück. Als das Mädchen entsprungen war, blickte er forschend in die Landschaft hinaus.
Unterdes standen die Frauen einander schweigend gegenüber. Endlich wies Hedwig nach einer Esse, aus welcher ein dicker Qualm aufstieg. »Dort schweben in braunem Dampfe Greifen und Löwen den Wolken zu«, rief sie übermütig. »Getilgt ist der Zauber, mit dem der Kühne edle Frauen umstricken wollte. Stecht Ihr wieder einen Mantel zusammen, Herr Ivo, so sorgt dafür, daß er unverbrennbar werde. Sei ruhig, Else, wären wir Bauernkinder, wie die dort unten, so würden wir den Glasring, den uns ein kecker Werber an den Finger drückt, entweder in den nächsten Bach werfen oder auch heimlich bewahren, und uns fröhlich im Reigen weiter schwingen. Küsse du deinen Trauten um so herzlicher, wenn er zur Heimat kehrt, schweig und vergiß. Denn wir sind nicht allein, dort naht der finstere Meister, der wenig spricht und auf alles merkt, und der in diesem Hause mehr gebietet, als einem leichten Herzen frommt.«
Konrad verneigte sich gemessen vor den Frauen. »Ein Bauer rief klagend in den Schloßhof, daß ihm ein Bär aus den Bergen in seinen Zaun gebrochen sei, Herr Walter rüstet eine Jagd gegen das Untier.« Und zu Frau Else tretend, fuhr er leise fort: »Was soll mit dem Mantel werden?«
Else wies nach der Höhe. »Er ist verbrannt, mein Vater.« Der Meister nickte zufrieden mit dem Haupt.
Als Frau Else sich nach demütigem Gruß dem Hause zugewandt hatte, trat Konrad zu Hedwig, die ihn mit zusammengezogenen Brauen erwartete. »Enthaltet Euch, edle Frau, Eure Kunst an meiner Herrin Elisabeth zu üben. Sie ist seither unsträflich gewandelt in einer verdorbenen Welt, die Unschuld eines Kindes hat sie sich als Hausfrau und Mutter bewahrt, ihr Sinn ist völlig lauter, ihre Rede wahrhaft, und sie gleicht einem Engel des Himmels, soweit irdischer Unvollkommenheit solche Hoheit gegönnt ist. Ich aber habe vor Gott und den Heiligen gelobt, ihr Gemüt dem [567] Himmel rein zu bewahren, wie ich es empfing. Darum rate ich Euch, verlockt sie nicht in das weltliche Treiben, das Euch die Seele füllt. Denn obgleich ich selbst ein sündiger Mensch bin, bei dieser Reinen will ich stehen wie der Wächter vor dem Paradiese, der den Gefallenen wehrt, das Heiligtum zu betreten.« Er sprach in großer Bewegung und seine Augen flammten.
Hedwig antwortete stolz: »Seid Ihr zum Wächter einer Frau gesetzt, die in weltlichen Freuden leben darf, so hütet Euch, Herr, daß Ihr nicht Eifer für den Glauben nennt, was Herrschsucht und Neid gegen andere ist. Wisset, daß ich unter den Sündern die Kunst gelernt habe, durch die Augen der Menschen in ihr Herz zu schauen. Ich sah zuweilen, daß ein Priester ein Weib mit der Geißel zur Nonne schlug, weil er sie anderen Männern nicht gönnen wollte und daran verzweifelte, sie für sich selbst zu gewinnen.«
Aus den Augen des Priesters brach ein heißer Blick des Zornes, aber er erblaßte und sprach leise: »Ich sagte Euch, daß ich ein sündiger Mensch bin. Habe ich mit schweren Gedanken zu ringen, so wissen meine hohen Fürbitter, daß ich mich selbst mit strenger Buße strafe. Ihr aber sprecht nur wie ein böser Feind von den geheimen Sorgen einer frommen Seele, denn Ihr vermögt nichts von der heiligen Freude zu ahnen, die ein Lehrer haben darf über eine Schülerin, wie jene ist. Verständet Ihr die Kunst, in dem Gemüt anderer zu lesen, so würdet Ihr auch in meinem Herzen erkennen, daß ich ein treuer Diener meines Gottes bin und daß ich keine Schonung übe, wo ich Unglauben und Herrschaft des Teufels erkenne, sei der Sünder hoch oder niedrig, Landfahrerin oder Fürstin.«
»Ihr sprecht zu einer Nichte Eures weltlichen Herrn, des Kaisers«, versetzte Hedwig kalt, »und zu einer Frau, welcher der Heilige Vater selbst ihre Rechtgläubigkeit bereitwillig bestätigt hat. Und ich rate Euch, daß Ihr Euer menschenfreundliches Werk zu Rom beginnt unter den Großen der Kirche; denn man sagt, daß Hoffart, Geldgier und was Ihr als Sinnenlust und Werke des Teufels verfolgt, nirgend mehr in Blüte stehen als dort.«  (G. Freytag: Die Brüder vom deutschen Hause, Der Herrin Dank, S.564-567)
Freytags kritische Sicht auf den Beichtvater Elisabeths und den späteren Ketzerverfolger Konrad von Marburg spricht sich auch im weiteren Verlauf des Romans aus, nicht zuletzt darin, dass er den Mann, der ihn später tötet, als ehrenwert darstellt.

Konrad ruft später zum Kreuzzug auf. Ivo wird freilich nicht durch ihn, sondern durch Hermann von Salza und seine Herrin, die Landgräfin Elisabeth, dafür gewonnen, auf den Kreuzzug zu gehen.
Hermann überzeugt ihn unter anderem mit diesen Sätzen:
Soll Jerusalem wiedergewonnen werden und die Herrschaft der Christen dauern, so müssen sie alle einem starken Herrn dienen, der seine Macht nicht ihnen dankt, sondern der sie selbst zu schützen, zu bändigen und zu strafen vermag. Dieser Herr aber ist unser Kaiser Friedrich.  [...] Wenn wir jetzt in edler Schar über das Meer ziehen, so tun wir dies auch, um den Namen der Deutschen zu Ehren zu bringen und eine Herrschaft unseres Blutes über die Länder am Südmeere zu begründen. Das zu bewirken, ist das hohe Ziel meines Lebens. Darum bin ich vor Euch getreten mit hoher Mahnung, als Thüring, und als Meister einer Bruderschaft, welche sich vom deutschen Hause nennt. (G.Freytag: Die Brüder vom deutschen Hause. In harter Zeit, S.589)
Im Dienste Friedrichs II. wird Ivo in Palästina von anderen Christen überfallen und wird beim Versuch, den Sarazenen, der ihm von Friedrich anvertraut ist, zu schützen, schwer verletzt. Als er nach Deutschland zurückkommt, heiratet er die Bauerntochter Friderun und zieht mit seinem Gefolge und bäuerlichen Siedlern mit den Deutschordensrittern ins Preußenland. Diese Entscheidung bereut er nicht:
Auch die deutsche Saat, bei welcher Ivo tätig war, wurde zuweilen durch die Kriegsrosse der heidnischen Preußen niedergetreten. Es war ein harter Kampf, und es war ein sorgenreiches Wachstum, aber ihm erschien er als groß und als heilsam für alle, die er liebhatte. Wenn er mit seinem treuen Gesellen Lutz gegen die Feinde ritt oder wenn er im Rate der Ansiedler tagte, sooft er den alten Sibold gleich einem Ahnherrn zwischen der Kinderschar sitzen sah, welche in seinem Hause aufblühte, und immer wenn er das mutige und hochgesinnte Weib im Arme hielt, welches sich ihm in der Todesnot verlobt hatte, freute er sich des Tages, wo er ein Mitbruder des deutschen Hauses geworden war und aus einem thüringischen Edlen der Ivo, den sie den König nannten, ein Burgmann von Thorn.(G.Freytag: Die Brüder vom deutschen Hause. Schluss, S.722)

05 Januar 2012

Die Pranke der Löwin

Der folgende Text mag einem belanglos erscheinen, die letzten Zeilen sogar ein deutlicher Beweis für Kitsch, so lange man nicht weiß, von welcher Autorin er stammt, und deshalb die Aussageabsicht nicht erkennt und nicht bemerkt, wie hier in nuce eine wichtige Passage ihres bekanntesten Romans vorgebildet ist.

"ONE Evening in December, as my Father, my Mother, and myself were arranged in social converse round our Fireside, we were, on a sudden, greatly astonished by hearing a violent knocking on the outward Door of our rustic Cot.

My Father started -- "What noise is that," (said he). "It sounds like a loud rapping at the door" -- (replied my Mother). "It does indeed," (cried I). "I am of your opinion; (said my Father) it certainly does appear to proceed from some uncommon violence exerted against our unoffending door." "Yes (exclaimed I) I cannot help thinking it must be somebody who knocks for admittance."

"That is another point (replied he); We must not pretend to determine on what motive the person may knock -- tho' that someone does rap at the door, I am partly convinced."

Here, a second tremendous rap interrupted my Father in his speech, and somewhat alarmed my Mother and me.

"Had we not better go and see who it is? (said she) The servants are out." "I think we had," (replied I).

"Certainly, (added my Father) by all means." "Shall we go now?" (said my Mother). "The sooner the better," (answered he). "Oh! let no time be lost" (cried I).

A third, more violent Rap than ever, again assaulted our ears. "I am certain there is somebody knocking at the Door," (said my Mother). "I think there must," (replied my Father). "I fancy the servants are returned; (said I) I think I hear Mary going to the Door." "I'm glad of it (cried my Father) for I long to know who it is."

I was right in my conjecture; for Mary instantly entering the Room, informed us that a young Gentleman and his Servant were at the door, who had lossed their way, were very cold, and begged leave to warm themselves by our fire.

"Won't you admit them?" (said I). "You have no objection, my Dear?" (said my Father). "None in the World" (replied my Mother).

Mary, without waiting for any further commands, immediately left the room and quickly returned, introducing the most beauteous and amiable Youth I had ever beheld. The servant, she kept to herself.

My natural sensibility had already been greatly affected by the sufferings of the unfortunate stranger and no sooner did I first behold him, than I felt that on him the happiness or Misery of my future Life must depend."
(Quelle)

Der Text stammt von Jane Austen und ist Teil der Brieferzählung "Love and Freindship" , die sie mit 14 Jahren schrieb. 
Wie Northanger Abbey ist schon dieser Roman eine Parodie auf die Gothic Novels (daher die scheinbar kitschigen letzten Zeilen) und das Stilmittel der Unterhaltung ist in Sense and Sensibility zur Perfektion gebracht.

03 Januar 2012

Ingraban und Winfried - Missionierung der Deutschen

"[...] Jenen Baum aber habe nicht ich zu scheuen, sondern du, denn weitbekannt ist er im Lande und um ihn schweben seit der Urzeit hohe Gewalten, welche dir Feind sind und nicht mir.«
»Ob sie mir Feind sind, will ich dir zeigen, wenn du mir folgst«, antwortete der Fremde und schritt dem Baume zu. Er hob seine Axt und rief: »Haben sie Grimm, so mögen sie zürnen, haben sie Macht, so mögen sie mich treffen wie ich diesen Stamm.« Und mit starkem Schwunge schlug er die Axt in den Baum. Der Führer trat zurück, griff nach seiner Waffe und starrte nach der Höhe, ob von dort ein Götterzeichen den Frevler treffe; aber alles blieb still, nur ein trockener Zweig mit Eschensamen fiel herab. »Sieh her,« rief der Fremde, auf das Samenbündel weisend, »das ist der Zorn deiner Gewaltigen. Der Baum, vor dem du zagst, war einst ein flatterndes Samenkorn wie dieses hier, aus einem winzigen Kern ist er gewachsen. Wo hausten die Gewaltigen, welche du fürchtest, als der Baum noch ein Samenkorn war? Meinst du, der Baum hat gestanden von Anfang der Menschenerde? Merke, unter seinen Wurzeln fand ich diesen Stein, rissig und gesprengt durch die Kraft des Baumes. Betrachte den Stein, es ist ein Mühlstein, wie ihn die Weiber drehen, um das Getreide zu mahlen. Bevor die Esche war, hat hier ein Hauswesen lebender Menschen gestanden. Geringe Ehre verdienen die Götter, welche erst dann in der Esche mächtig wurden, als die Menschen gestorben waren, die vor dem Baume hier hausten. Der Herr aber, welchem ich diene, ist der Gott, welcher Himmel und Erde gemacht hat, er allein ist ewig und allmächtig von der Urzeit und wird ewig und allmächtig sein, wenn der letzte Span dieses Baumes aus der Welt geschwunden ist.« [...]
du kennst den Ingram, welchen die Heiden Ingraban nennen.«
»Nicht viel Gutes habe ich von ihm genossen, er ist einer von den Feinden des Kreuzes; dort oben haust er auf der Stätte, die sie den Rabenhof nennen, denn die schwarzen Heidenvögel nisten in den Bäumen und krächzen unholde Lieder. Er aber ist voran bei allem Streit und hält die Herzen der Jugend in seiner Hand. Während jener Schlacht sah ich, wie seine Gesellen ihn verwundet aus dem Kampfe trugen: und sie meinen, wäre er im Vorkampf geritten bis zum Ende, dann hätten die Slawen nicht obgesiegt.« [...]
»Ich zürne dir nicht, mein Bruder,« versetzte Winfried, »da ich dich aussandte, wußte ich, daß du kein Säemann warst für steiniges Land, aber von freundlichem Herzen, und daß dich die Heiden hier, weil du wohlmeinend bist, vielleicht dulden würden. Wie ein Kundschafter, der in das gelobte Land gegangen ist, warst du mir. Jetzt bin ich selbst gekommen, dies Volk meinem Herrn zu unterwerfen.« [...]
G. Freytag: Die Ahnen, Ingo und Ingraban

01 Januar 2012

Der Fremde - Zeit der Völkerwanderung

Der Fremde erhob sich: »Ich trage Kunde, die das Herz der Männer bewegt, nicht weiß ich, ob sie euch Freude bereitet oder Trauer. Eine Schlacht ist geschlagen, die größte seit Menschengedenken. Die Wölfe heulen auf der Walstatt, und die Raben fliegen über das Gebein der Alemannen, denen unser Gott den Sieg versagt hat. Die Franken haben dem Römer die Schlacht gewonnen, die Könige der Alemannen Hnodomar und Athanarich sind gefangen, mit ihnen viele Königskinder; die Heerscharen des Cäsars brennen in den Tälern des Schwarzwaldes bis an den Main und treiben die Gefangenen zu Hauf. Der Cäsar ist mächtig geworden über das Grenzland, man sagt, daß die Katten Gesandte in sein Lager geschickt haben, um ein Bündnis zu bieten.«
Ein tiefes Schweigen folgte diesen aufregenden Worten. Fürst Answald sah finster vor sich nieder, auch Hildebrand hatte Mühe, seine Bewegung zu verbergen.
»Wir haben Frieden mit Römern und Alemannen«, sagte er endlich vorsichtig; »und der Thüring fürchtet nicht die Macht des Cäsars. Du selbst aber warst, wie ich erkenne, in der Nähe, als die Schlacht geschlagen wurde, und du hast seitdem die Dörfer der Katten gemieden, die doch, wie du sagst, den Römern wohlgeneigt sind. Ich frage dich nicht, wem du den Sieg gewünscht hast.«
»Ich gebe Bescheid ohne Frage,« rief der Fremde stolz, »ich habe nicht Römersold genommen.«
Ein Strahl von Wohlwollen brach aus den Augen des Häuptlings. »Du bist kein Alemanne,« sagte er. »du bist nach deiner Sprache von den Kindern unseres Gottes, die fern im Osten wohnen.«
»Ein Vandale von der Oder«, versetzte der Fremde rasch.
»Es ist ein weiter Weg von deinem Heimatland bis zu der Walstatt am Rhein, Wanderer. Hat auch dein Volk seine Krieger in den Streit gesendet?« »Ich kam an den Rhein ohne meine Landgenossen, ein schweres Geschick trieb mich aus meiner Heimat Flur.«
»Ein schweres Geschick bereitet ein Gott oder des Mannes trotziger Mut. Wöge dein Herz nicht bedrücken, was dich aus der Heimat gescheucht hat.«
Der Fremde neigte dankend das Haupt. »Des Gastes Sorge ist, daß er seinem Wirt gefalle; verzeih, wenn ich suche, was dir den Fremden vertraulich macht. Ich habe in meiner Heimat ein Lied des Sängers gehört, daß zu der Väter Zeit ein Held aus Thüringeland unter den Kriegern meines Volks gegen die Römer kämpfte, weit südwärts an der Donau, Irmfried war sein Name.«
Der Fürst richtete sich im Sessel hoch auf und sprach: »Seine Hand lag segnend auf meinem Haupt, er war mein Vater.«
»Blutbruder wurde er einem Krieger meines Volkes. Als der Fürst aus meiner Heimat schied, zerbrach er mit starker Hand ein römisches Goldstück und ließ die Hälfte zurück, daß sie ein Zeichen der Gastfreundschaft für spätere Geschlechter sei. Ist die eine Hälfte des Goldstücks dein, so ist die andere mein.«
Er hielt das helle Goldblech dem Fürsten hin. Herr Answald fuhr heftig vom Stuhle und prüfte das Stück am Licht. »Still,« rief er gebietend, »keiner spreche ein Wort. Geh, Hildebrand, und trage deiner Herrin das Wahrzeichen, daß sie es an die andere Hälfte halte; und sage ihr, daß sie allein sei, wenn ich einen Fremden zu ihr führe.« Hildebrand eilte hinaus, der Wirt trat nahe an den Gast und betrachtete ihn erstaunt vom Kopf bis zum Fuß: »Wer bist du, Mann, der mir so hohen Gruß in das Haus trägt?« und freudig fuhr er fort: »Nicht tut es not, das Zeichen zu suchen, seit du die Schwelle betratest, hast du mir das Herz erregt. Komm, Held, daß du mir da deinen Namen kündest, wo die beiden Hälften des geheimen Zeichens sich zusammenfügen.« Er schritt eilig voran, der Fremde folgte.
In ihrem Gemach stand Frau Gundrun, die Fürstin, und hielt die beiden Hälften des Goldstücks aneinander. »Hier sind zwei Ähren von einem Halme,« rief sie dem Gemahl entgegen, »was du mir sandtest, ist König Ingberts Zeichen.«
»Und der sich dem Knie der Herrin naht,« sprach der Fremde, »ist Ingo, König Ingberts Sohn.«
Langes Schweigen folgte dem Ausruf, die Hausfrau sah scheu auf den stolzen Krieger, auf das edle Antlitz, die königliche Gestalt, und sie neigte sich tief zum Gruß; der Fürst aber rief bekümmert: »Oft habe ich gewünscht, das Antlitz der Gastfreunde zu sehen, der erlauchten Helden aus Göttergeschlecht; von reichem Hofhalt hat mir der Vater erzählt, von mächtigem Gefolge in glänzendem Stahlhemd. Aber anders fügten die hohen Gewalten das Wiedersehen. Im Wanderkleide, als werbenden Fremdling schau' ich den großen Volkskönig und Schrecken fühle ich im Herzen. Gutes bedeute die Stunde, wo ich dein Antlitz schaue. Dennoch gedenke ich, daß ich dir ehrbar meine Treue erweise.«
»Ich aber komme nicht als Glücklicher zu dir und der Herrin,« sprach Ingo ernsthaft, »ein Flüchtling bin ich und nicht will ich, mein Schicksal hehlend, deinen Schutz erschleichen. Aus der Heimat bin ich getrieben von dem eigenen Ohm, der nach des Vaters Tode dem Knaben die Krone nahm, mühsam haben getreue Männer mich geborgen, bis ich zum Manne wuchs; Gefahr ist mein Los, des Königs Boten sind mir gefolgt von Volk zu Volk, sie boten Geschenke und forderten meinen Leib. Mit dem kleinen Haufen der Getreuen fuhr ich zum Kampf der Alemannen, ihre großen Könige waren mir hold, am Schlachttag führte ich einen Haufen ihres Volks. Jetzt sucht der Cäsar siegesstolz nach denen, die sich ihm nicht barfuß unterwerfen. Weit reicht seine Nacht in den Königsburgen, ich sah die Boten deiner Nachbarn, der Katten, mit dem Friedenszeichen zum Rhein reiten, und ich bin darum sechs Tage und Nächte heimlich auf Wolfespfad durch ihre Gaue gezogen, fast ein Wunder war's, daß ich ihnen entrann. Das sollst du wissen, bevor du sprichst: Sei Ingo mir willkommen.«
G.Freytag: Die Ahnen. Ingo und Ingraban, 1. Kapitel